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nietzsche titel

Friedrich Nietzsche - Die fröhliche Wissenschaft



1892-— 1 1915 


fröhliche Wissensehaft. 

(„Ia gaya scienia") 1 

Von 

FRIEDRICH NIETZSCHE. 

Ich wohne ia meinem eignen Haus, 
Hab Niemandem nie nichts Dachgemacht 
Und — lachte noch jeden Meister aus, 
Der nicht sich selber ausgelacht. 

Uebor meiner Mauitflör. 

■ 

mit einem Auhange: 

Lieder des Prinzen Vogelfrei. 



LEIPZIG. 

Verlag von E. W. Fritzsch. 
1897. 



 



HARVARO COLLEGE URRARY 
FROH THC LIBRARY Of 
HUGO MÜRST ERBER« 
MARCH 15, 1917 



 



Vorrede 

zur zweiten Ausgabe. 

I. 

Diesem Buche thut vielleicht nicht nur Eine Vorrede 
noth; und zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, 
ob Jemand, ohne etwas Aehnliches erlebt zu haben, dem 
Erlebnisse dieses Buchs durch Vorreden näher gebracht 
werden kann. Es scheint in der Sprache des Thauwinds 
geschrieben: es ist Uebermuth, Unruhe, Widerspruch, 
Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die 
Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter ge- 
mahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon ge- 
kommen ist . . . Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, 
als ob eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dank- 
barkeit eines Genesenden, — denn die Genesung war 
dieses Unerwartetste. „Fröhliche Wissenschaft": das be- 
deutet die Saturnalien eines Geistes, der einem furcht- 
baren langen Drucke geduldig widerstanden hat — ge- 
duldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne 
Hoffnung — , und der jetzt mit Einem Male von der 



 



IV 



Hoffnung angefallen wird, von der Hoffnung auf Gesund- 
heit, von der Trunkenheit der Genesung. Was Wunders, 
dass dabei viel Unvernünftiges und Närrisches an's Licht 
kommt, viel muthwillige Zärtlichkeit, selbst auf Probleme 
verschwendet, die ein stachlichtes Fell haben und nicht 
darnach angethan sind, geliebkost und gelockt zu werden. 
Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit 
nach langer Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken 
der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens 
an ein Morgen und Uebermorgen, des plötzlichen Ge- 
fühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Aben- 
teuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten, 
wieder geglaubten Zielen. Und was lag nunmehr Alles 
hinter mir! Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, 
Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete 
Greisenthum an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmer- 
zes überboten noch durch die Tyrannei des Stolzes, der 
die Folgerungen des Schmerzes ablehnte — und Folge- 
rungen sind Tröstungen — , diese radikale Vereinsamung 
als Nothwchr gegen eine krankhaft hellseherisch gewor- 
dene Menchenverachtung, diese grundsätzliche Einschränk- 
ung auf das Bittere, Herbe, Wehethuende der Erkenntniss, 
wie sie der Ekel verordnete, der aus einer unvorsichtigen 
geistigen Diät und Verwöhnung — man heisst sie Romantik 
— allmählich gewachsen war oh wer mir das Alles 
nachfühlen könnte ! Wer es aber könnte, würde mir sicher 
noch mehr zu Gute halten als etwas Thorheit, Aus- 
gelassenheit, „fröhliche Wissenschaft", — zum Beispiel 
die Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal bei- 
gegeben sind — Lieder, in denen sich ein Dichter auf 



V 

eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig- 
macht. — Ach, es sind nicht nur die Dichter und ihre 
schönen „lyrischen Gefühle", an denen dieser Wicder-Er- 
standene seine Bosheit auslassen muss: wer weiss, was 
für ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier vort 
parodischem Stoff ihn in Kürze reizen wird? „Incipit 
tragoedia" — heisst es am Schlüsse dieses bedenklich- 
unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend 
etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich 
an: incipit parodia, es ist kein Zweifel . . . 

2. 

— Aber lassen wir Herrn Nietzsche: was geht es uns 
an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde? . . . Ein 
Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die 
nach dem Verhältniss von Gesundheit und Philosophie, 
und für den Fall, dass er selber krank wird, bringt er 
seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine 
Krankheit. Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man 
eine Person ist, nothwendig auch die Philosophie seiner 
Person: doch giebt es da einen erheblichen Unterschied. 
Bei dem Einen sind es seine Mängel, welche philosophiren, 
bei dem Andern seine Rcichthümer und Kräfte. Ersterer 
hat seine Philosophie nöthig, sei es als Halt, Beruhig- 
ung, Arznei, Erlösung, Erhebung, Sclbstentfremdung; bei 
Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus, im besten Falle 
die Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit, welche 
sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel 
der Begriffe schreiben muss. Im andren, gewöhnlicheren 



 



VI 



Falle aber, wenn die Nothstände Philosophie treiben, 
wie bei allen kranken Denkern — und vielleicht über- 
wiegen die kranken Denker in der Geschichte der Philo- 
sophie — : was wird aus dem Gedanken selbst werden, 
de/ unter den Druck der Krankheit gebracht wird? 
Dies ist die Frage, die den Psychologen angeht: und hier 
ist das Experiment möglich. Nicht anders als es ein 
Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer bestimmten 
Stunde aufzuwachen und sich dann ruhig dem Schlafe 
tiberlässt: so ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass wir 
krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der 
Krankheit — wir machen gleichsam vor uns die Augen 
zu. Und wie Jener weiss, dass irgend Etwas nicht 
schläft, irgend Etwas die Stunden abzählt und ihn auf- 
wecken wird, so wissen auch wir, dass der entscheidende 
Augenblick uns wach finden wird, — dass dann Etwas 
hervorspringt und den Geist auf der That ertappt, ich 
meine auf der Schwäche oder Umkehr oder Ergebung 
oder Verhärtung oder Verdüsterung und wie alle die 
krankhaften Zustände des Geistes heissen, welche in ge- 
sunden Tagen den Stolz des Geistes wider sich haben 
(denn es bleibt bei dem alten Reime „der stolze Geist, 
der Pfau, das Pferd sind die drei stölzesten Thier' auf 
der Erd" — ). Man lernt nach einer derartigen Selbst- 
Befragung, Selbst -Versuchung, mit einem feineren Auge 
nach Allem, was überhaupt bisher philosophirt worden 
ist, hinsehn; man erräth besser als vorher die unwill- 
kürlichen Abwege, Seitengassen, Ruhestellen, Sonnen- 
stellen des Gedankens, auf die leidende Denker gerade 
als Leidende geführt und verführt werden, man weiss 



VII 



nunmehr, wohin unbewusst der kranke Leib und sein 
Bedürfhiss den Geist drängt, stösst, lockt — nach Sonne, 
Stille, Milde, Geduld, Arznei, Labsal in irgend einem 
Sinne._/ Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt 
als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung 
des Begriffs Glück, jede Metaphysik und Physik, welche 
ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, 
jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen 
nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb er- 
laubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, 



f was den Philosophen inspirirt hat. Die unbewusste Ver- 
kleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel 
des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum 
Erschrecken weit, — und oft genug habe ich mich ge- 
fragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher 
überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein Miss- 
verständniss des Leibes gewesen ist. Hinter den 
höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die Geschichte 
des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der 
leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, 
sei es von Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle 
jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren 
Antworten auf die Frage nach dem Werth des Daseins, 
zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn ; 
und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt -Ver- 
neinungen in Bausch und Bogen, wissenschaftlich ge- 
messen, nicht ein Korn von Bedeutung innewohnt, so 
geben sie doch dem Historiker und Psychologen um so 
werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt, des Lei- 
bes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle, Mäch- 



VIII 

tigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber 
seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines 
Vorgefühls vom Ende, seines Willens, zum Ende. Ich 
erwarte immer noch, dass ein philosophischer Arzt im 
ausnahmsweisen Sinne des Wortes — ein Solcher, der 
dem Problem der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit, 
Rasse, Menschheit nachzugehn hat — einmal den Muth 
haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze zu bringen 
und den Satz zu wagen: bei allem Philosophiren handelte 
es sich bisher gar nicht um „Wahrheit", sondern um etwas 
Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, 
Macht, Leben . . . 

3- 

— Man erräth, dass ich nicht mit Undankbarkeit 
von jener Zeit schweren Siechthums Abschied nehmen 
möchte, deren Gewinn auch heute noch nicht für mich 
ausgeschöpft ist: so wie ich mir gut genug bewusst bin, 
was ich überhaupt in meiner wechselreichen Gesundheit 
vor allen Vierschrötigen des Geistes voraus habe. Ein 
Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten ge- 
macht hat und immer wieder macht, ist auch durch eben- 
soviele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben 
nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste 
Form und Ferne umzusetzen, — diese Kunst derTrans- 
figuration i s t eben Philosophie. Es steht uns Philosophen 
nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das 
Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen 
Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine denkenden 
Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit 
kalt gestellten Eingeweiden, — wir müssen beständig 



I 

IX 



unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütter- 
lich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, 
Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhäng- 
niss in uns haben. Leben — das heisst für uns Alles, 
was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwan- 
deln, auch Alles, was uns trifft, wir können gar nicht 
anders. Und was die Krankheit angeht: würden wir 
nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt 
entbehrlich ist? Erst der grosse Schmerz ist der letzte 
Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des grossen 
Verdachtes, der aus jedem U ein X macht, ein achtes 
rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem 
letzten . . . Erst der grosse Schmerz, jener lange langsame 
Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie 
mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philo- 
sophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Ver- 
trauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, 
wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit ge- 
setzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher 
Schmerz „verbessert" — ; aber ich weiss, dass er uns 
vertieft Sei es nun, dass wir ihm unsern Stolz, unsern 
Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen lernen und es 
dem Indianer gleichthun, der, wie schlimm auch gepeinigt, 
sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge 
schadlos hält; sei es, dass wir uns vor dem Schmerz in 
jenes orientalische Nichts zurückziehn — man heisst es 
Nirvana — , in das stumme, starre, taube Sich-Ergcben, 
Sich -Vergessen, Sich-Auslöschen : man kommt aus solchen 
langen gefährlichen Uebungen der Herrschaft über sich 
als ein andrer Mensch heraus, mit einigen Fragezeichen 



 



X 



mehr, vor Allem mit dem Willen, fürderhin mehr, tiefer, 
strenger, härter, böser, stiller zu fragen als man bis da- 
hin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin: 
das Leben selbst wurde zum Problem. — Möge man 
ja nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum 
Düsterling geworden sei! Selbst die Liebe zum Leben 
ist noch möglich, — nur liebt man anders. Es ist die 
Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht . . . Der 
Reiz alles Problematischen, die Freude am X ist aber t 
bei solchen geistigeren, vergeistigteren Menschen zu gross, 
als dass diese Freude nicht immer wieder wie eine helle 
Gluth über alle Noth des Problematischen, über alle Ge- 
fahr der Unsicherheit, selbst über die Eifersucht des Lie- 
benden zusammenschlüge. Wir kennen ein neues Glück. . . . 

4- 

Zuletzt, dass das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe: 
man kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren 
Siechthum % auch aus dem Siechthum des schweren Ver- 
dachts, neugeboren zurück, gehäutet, kitzlicher, boshafter, 
mit einem feineren Geschmacke für die Freude, mit einer 
zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren 
Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der 
Freude, kindlicher zugleich und hundert Mal raffinirter 
als man jemals vorher gewesen war. Oh wie Einem nun- 
mehr der Genuss zuwider ist, der grobe dumpfe braune 
Genuss, wie ihn sonst die Geniessenden, unsre „Gebil- 
deten", unsre Reichen und Regierenden verstehn! Wie 
boshaft wir nunmehr dem grossen Jahrmarkts-Bumbum 
zuhören, mit dem sich der „gebildete Mensch" und Gross- 



 



Jet 

Städter heute durch Kunst, Buch und Musik zu „geistigen 
Genüssen", unter Mithülfe geistiger Getränke, notzüchtigen 
lässt ! Wie uns jetzt der Theater-Schrei der Leidenschaft 
in den Ohren weh thut, wie unsrem Geschmacke der 
ganze romantische Aufruhr und Sinnen -Wirrwarr, den 
der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen Aspirationen 
nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd 
geworden ist! Nein, wenn wir Genesenden überhaupt 
, eine Kunst noch brauchen, so ist es eine andre Kunst 
— eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, 
göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme 
in einen unbewölkten Himmel hineinlodert! Vor Allem: 
eine Kunst für Künstler, nur für Künstler! Wir verstehn 
uns hinterdrein besser auf Das, was dazu zuerst noth 
thut, die Heiterkeit, jede Heiterkeit, meine Freunde! auch 
als Künstler — : ich möchte es beweisen. ^Vir wissen 
Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden: oh wie wir nunmehr 
lernen, gut zu vergessen, gut nicht-zu- wissen, als Künst- 
ler! Und was unsere Zukunft betrifft: man wird uns 
schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen 
Jünglinge finden, welche Nachts Tempel unsicher machen, 
Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten 
Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, 
in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte 
Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur „Wahrheit 

i 

um jeden Preis", dieser Jünglings -Wahnsinn in der Liebe 
zur Wahrheit — ist uns verleidet: dazu sind wir zu er- 
fahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief... Wir 
glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit 
bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben 




^genug gelebt, um dies zu glauben/ Heute gilt es uns als 
eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt 
sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn 
und „wissen" wolle. „Ist es wahr, dass der liebe Gott 
tiberall zugegen ist?" fragte ein kleines Mädchen seine 
Mutter: „aber ich finde das unanständig" — ein Wink 
für Philosophen! Man sollte die Scham besser in Ehren 
halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte 
Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahr- 
heit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn 
zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, 
Baubo ? . . . Oh diese Griechen ! Sie verstanden sich 
darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Ober- 
fläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein 
anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen 
Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren 
oberflächlich — aus Tiefe! Und kommen wir nicht 
eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die 
wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegen- 
wärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus um- 
gesehn haben, die wir von da aus hinabgesehn haben? 
Sind wir nicht eben darin — Griechen? Anbeter der 
Formen, der Töne, der Worte ? Eben darum — Künstler? 

Ruta bei Genua, 
im Herbst 18S6. 





„Seherz, List und Rache." 



Vorspiel in deutschen Reimen. 



 



I. 

Einladung. 
Wagt's mit meiner Kost, ihr Esser! 
Morgen schmeckt sie euch schon besser 
Und schon übermorgen gut! 
Wollt ihr dann noch mehr, — so machen 
Meine alten sieben Sachen 
Mir zu sieben neuen Muth. 

2. 

Mein Glück. 
Seit ich des Suchens müde ward, 
Erlernte ich das Finden. 
Seit mir ein Wind hielt Widerpart, 
Segl' ich mit allen Winden. 

3- 

Unverzagt. 
Wo du stehst, grab tief hinein! 
Drunten ist die Quelle! 
Lass die dunklen Männer schrein: 
„Stets ist drunten — Holle!" 

4- 

Zwiegespräch. 

A. War ich krank? Bin ich genesen? 
Und wer ist mein Arzt gewesen? 
Wie vergass ich alles Das! 

B. Jetzt erst glaub ich dich genesen: 
Denn gesund ist, wer vergass. 



■ 



- 6 



5- 

An die Tugendsamen. 

Unseren Tugenden auch soll'n leicht die Füsse sich heben: 
Gleich den Versen Homer's müssen sie kommen 

und gehn! 

6. 

Welt-Klugheit. 

Bleib nicht auf ebnem Feld! 
Steig nicht zu hoch hinaus! 
Am schönsten sieht die Welt 
Von halber Höhe aus. 

7- 

Vademecum — Vadetecum. 

Es lockt dich meine Art und Sprach, 
Du folgest mir, du gehst mir nach? 
Geh nur dir selber treulich nach: — 
So folgst du mir — gemach! gemach! 

8. 

Bei der dritten Häutung. 

Schon krümmt und bricht sich mir die Haut, 

Schon giert mit neuem Drange, 

So viel sie Erde schon verdaut, 

Nach Erd' in mir die Schlange. 

Schon kriech* ich zwischen Stein und Gras 

Hungrig auf krummer Fährte, 

Zu essen Das, was stets ich ass, 

Dich, Schlangenkost, dich, Erde! 



 



9- 

Meine Rosen. 

Ja! Mein Glück — es will beglücken — , 
Alles Glück will ja beglücken! 
Wollt ihr meine Rosen pflücken? 

Müsst euch bücken und verstecken 
Zwischen Fels und Dornenhecken, 
Oft die Fingerchen euch lecken! 

Denn mein Glück — es liebt das Necken! 
Denn mein Glück — es liebt die Tücken! 
Wollt ihr meine Rosen pflücken? 

10. 

Der Verächter. 

Vieles lass ich fall'n und rollen, 
Und ihr nennt mich drum Verächter. 
Wer da trinkt aus allzuvollen 
Bechern, lässt viel fall'n und rollen — , 
Denkt vom Weine drum nicht schlechter. 

i 

I I. 

Das Sprüchwort spricht. 

Scharf und milde, grob und fein, 
Vertraut und seltsam, schmutzig und rein, 
Der Narren und Weisen Stelldichein: 
Diess Alles bin ich, will ich sein, 
Taube zugleich, Schlange und Schwein! 

12. 

An einen Lichtfreund. 

Willst du nicht Aug' und Sinn ermatten, 
Lauf auch der Sonne nach im Schatten! 



- 8 — 



*3- 

Für Tänzer. 

Glattes Eis 
Ein Paradeis 

Für Den, der gut zu tanzen weiss. 

14. 

Der Brave. 

Lieber aus ganzem Holz eine Feindschaft, 
Als eine geleimte Freundschaft! 

15- 
Rost. 

Auch Rost thut Noth: Scharfsein ist nicht genung! 
Sonst sagt man stets von dir: „er ist zu jung!" 

16. 

Aufwärts. 

„Wie komm ich am besten den Berg hinan?" 
Steig nur hinauf und denk nicht dran! 

17- 

Spruch des Gewaltmenschen. 

Bitte nie! Lass diess Gewimmer! 
Nimm, ich bitte dich, nimm immer! 

18. 

Schmale Seelen. 

Schmale Seelen sind mir verhasst; 

Da steht nichts Gutes, nichts Böses fast. 



 



- 9 - 
'9- 

Der unfreiwillige Verführer. 

Er schoss ein leeres Wort zum Zeitvertreib 
In's Blaue — und doch fiel darob ein Weib. 

20. 

Zur Erwägung. 

Zwiefacher Schmerz ist leichter zu tragen, 
Als Ein Schmerz: willst du darauf es wagen? 

21. 

Gegen die Hoffahrt. 

Blas dich nicht auf: sonst bringet dich 
Zum Platzen schon ein kleiner Stich. 

22. 

Mann und Weib. 

„Raub dir das Weib, für das dein Herze fühlt!" — 
So denkt der Mann; das Weib raubt nicht, es stiehlt. 

23- 

Interpretation. 

Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein: 
Ich kann nicht selbst mein Interprete sein. 
Doch wer nur steigt auf seiner eignen Bahn, 
Trägt auch mein Bild zu hellerm Licht hinan. 

24. 

Pessimisten-Arznei. 

Du klagst, dass Nichts dir schmackhaft sei? 
Noch immer, Freund, die alten Mucken? 
Ich hör dich lästern, lärmen, spucken — 
Geduld und Herz bricht mir dabei. 



 



- 10 - 



Folg mir, mein Freund! Entschliess dich frei, 
Ein fettes K rotchen zu verschlucken, 
Geschwind und ohne hinzugucken ! — 
Das hilft dir von der Dyspepseü 

25- 
Bitte. 

Ich kenne mancher Menschen Sinn 
Und weiss nicht, wer ich selber bin! 
Mein Auge ist mir viel zu nah — 
Ich bin nicht, was ich seh und sah. 
Ich wollte mir schon besser nützen, 
Könnt* ich mir selber ferner sitzen. 
Zwar nicht so ferne wie mein Feind! 
Zu fern sitzt schon der nächste Freund — 
Doch zwischen dem und mir die Mitte! 
Errathet ihr, um was ich bitte? 

26. 

Meine Härte. 

Ich muss weg über hundert Stufen, 

Ich muss empor und hör euch rufen: 

„Hart bist du! Sind wir denn von Stein?" — 

Ich muss weg über hundert Stufen, 

Und Niemand möchte Stufe sein. 



27. 

Der Wandrer. 

„Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Todtenstille!" 
So wolltest du's! Vom Pfade wich dein Wille! 
Nun, Wandrer, gilt's! Nun blicke kalt und klar! 
Verloren bist du, glaubst du — an Gefahr. 



 



28. 

Trost für Anfänger. 

Seht das Kind umgrunzt von Schweinen, 
Hülflos, mit verkrümmten Zeh'n! 
Weinen kann es, Nichts als weinen — 
Lernt es jemals stehn und gehn? 
Unverzagt! Bald, sollt' ich meinen, 
Könnt das Kind ihr tanzen sehn! 
Steht es erst auf beiden Beinen, 
Wird's auch auf dem Kopfe stehn. 

29. 

Sternen-Egoismus. 

Rollt' ich mich rundes Rollefass 
Nicht um mich selbst ohn' Unterlass, 
Wie hielt' ich's aus, ohne anzubrennen, 
Der heissen Sonne nachzurennen? 

Der Nächste. 

Nah hab den Nächsten ich nicht gerne: 
Fort mit ihm in die Höh und Ferne! 
Wie würd' er sonst zu meinem Sterne? — 

3». 

Der verkappte Heilige. 

Dass dein Glück uns nicht bedrücke, 
Legst du um dich Teufelstücke, 
Teufelswitz und Teufelskleid. 
Doch umsonst! Aus deinem Blicke 
Blickt hervor die Heiligkeit! 



32. 

Der Unfreie. 

A. Er steht und horcht: was könnt' ihn irren? 
Was hört er vor den Ohren schwirren? 
Was war's, das ihn darniederschlug? 

B. Wie Jeder, der einst Ketten trug, 
Hört überall er — Kettenklirren. 

33- 

Der Einsame. 
Verhasst ist mir das Folgen und das Führen. 
Gehorchen? Nein! Und aber nein — Regieren! 
Wer sich nicht schrecklich ist, macht Niemand Schrecken : 
Und nur wer Schrecken macht, kann Andre führen. 
Verhasst ist mir's schon, selber mich zu führen! 
Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren , 
Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren, 
In holder Irrniss grüblerisch zu hocken, 
Von ferne her mich endlich heimzulocken, 
Mich selber zu mir selber — zu verfuhren. 

34- 

Seneca et hoc genus omne. 
Das schreibt und schreibt sein unaussteh- 
lich weises Larifari, 
Als galt es primum scribere, 
Deinde philosophari. 

35. 
Eis. 

Ja! Mitunter mach' ich Eis: 
Nützlich ist Eis zum Verdauen! 
Hättet ihr viel zu verdauen, 
Oh wie liebtet ihr mein Eis! 



- 13 - 



36- 

Jugendschriften. 

Meiner Weisheit A und O 
Klang mir hier: was hört' ich doch! 
Jetzo klingt mir's nicht mehr so, 
Nur das ew'ge Ah! und Oh! 
Meiner Jugend hör ich noch. 

37- 
Vorsicht. 

In jener Gegend reist man jetzt nicht gut; 
Und hast du Geist, sei doppelt auf der Hut! 
Man lockt und liebt dich, bis man dich zerreisst: 
Schwarmgeister sind's — : da fehlt es stets an Geist! 

38. 

Der Fromme spricht. 

Gott liebt uns, weil er uns erschuf! — 

„Der Mensch schuf Gott!" — sagt drauf ihr Feinen. 

Und soll nicht lieben, was er schuf? 

Soll's gar, weil er es schuf, verneinen? 

Das hinkt, das trägt des Teufels Huf. 

39- 

Im Sommer. 

Im Schweisse unsres Angesichts 

Soll'n unser Brod wir essen? 

Im Schweisse isst man lieber Nichts, 

Nach weiser Aerzte Ermessen. 

Der Hundsstern winkt: woran gebricht's? 

Was will sein feurig Winken? 

Im Schweisse unsres Angesichts 

Soll'n unsren Wein wir trinken! 



 



40. 

Ohne Neid. 

Ja, neidlos blickt er: und ihr ehrt ihn drum? 
Er blickt sich nicht nach euren Ehren um; 
Er hat des Adlers Auge für die Ferne, 
Er sieht euch nicht! — er sieht nur Sterne, Sterne. 

4". 

Heraklitismus. 

Alles Glück auf Erden, 
Freunde, giebt der Kampf! 
Ja, um Freund zu werden, 
Braucht es Pulverdampf! 
Eins in Drei'n sind Freunde: 
Brüder vor der Noth, 
Gleiche vor dem Feinde, 
Freie — vor dem Tod! 

42. 

Grundsatz der Allzufeinen. 

Lieber auf den Zehen noch, 
Als auf allen Vieren! 
Lieber durch ein Schlüsselloch, 
Als durch offne Thüren! 

- 

43- 

Zuspruch. 

Auf Ruhm hast du den Sinn gericht? 

Dann acht' der Lehre: 

Bei Zeiten leiste frei Verzicht 

Auf Ehre! 



- 15 - 



44- 

Der Gründliche. 
Ein Forscher ich? Oh spart diess Wort! — 
Ich bin nur schwer — so manche Pfund'! 
Ich falle, falle immerfort 
Und endlich auf den Grund! 

45- 

Für immer. 
„Heut komm' ich, weil mir's heute frommt" — 
Denkt Jeder, der für immer kommt. 
Was ficht ihn an der Welt Gered': 
„Du kommst zu früh! Du kommst zu spät!" 

46. 

Urtheile der Müden. 

Der Sonne fluchen alle Matten; 

Der Bäume Werth ist ihnen — Schatten! 

47- 

Niedergang. 

„Er sinkt, er fallt jetzt" — höhnt ihr hin und wieder; 
Die Wahrheit ist: er steigt zu euch hernieder! 

Sein Ueberglück ward ihm zum Ungemach, 
Sein Ueberlicht geht eurem Dunkel nach. 

48.- 

Gegen die Gesetze. 

Von heut an hängt an härner Schnur 
Um meinen Hals die Stunden-Uhr: 
Von heut an hört der Sterne Lauf, 
Sonn', Hahnenschrei und Schatten auf, 



 



- 16 - 



Und was mir je die Zeit verkünd't, 

Das ist jetzt stumm und taub und blind: — 

Es schweigt mir jegliche Natur 

Beim Tiktak von Gesetz und Uhr. 

49. 

Der Weise spricht. 

Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, 
Zieh ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke — 
Und immer über diesem Volke! 

50. 

Den Kopf verloren. 

Sie hat jetzt Geist — wie kam's, dass sie ihn fand? 
Ein Mann verlor durch sie jüngst den Verstand, 
Sein Kopf war reich vor diesem Zeitvertreibe: 
Zum Teufel gieng sein Kopf — nein ! nein ! zum Weibe ! 

Fromme Wünsche. 

„Mögen alle Schlüssel doch 
Flugs verloren gehen, 
Und in jedem Schlüsselloch 
Sich der Dietrich drehen!" 
Also denkt zu jeder Frist 
Jeder, der — ein Dietrich ist. 

52. 

Mit dem Fusse schreiben. 

Ich schreib nicht mit der Hand allein: 
Der Fuss will stets mit Schreiber sein. 
Fest, frei und tapfer läuft er mir 
Bald durch das Feld, bald durchs Papier. 



 



- 17 - 



53- 

„Menschliches, Allzumenschliches." Ein Buch. 
Schwermüthig scheu, solang* du rückwärts schaust» 
Der Zukunft trauend, wo du selbst dir traust: 
Oh Vogel, rechn' ich dich den Adlern zu? 
Bist du Minerva's Liebling U-hu-hu? 

54- 

Meinem Leser. 
Ein gut Gebiss und einen guten Magen — 
Diess wünsch' ich dir! 
Und hast du erst mein Buch vertragen, 
Verträgst du dich gewiss mit mir! 

55- 

Der realistische Maler. 
„Treu die Natur und ganz!" — Wie fangt er's an: 
Wann wäre je Natur im Bilde abgethan? 
Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! — 
Er malt zuletzt davon, was ihm gefällt. 
Und was gefallt ihm? Was er malen kann! 

56. 

Dichter-Eitelkeit. 
Gebt mir Leim nur: denn zum Leime 
Find' ich selber mir schon Holz! 
Sinn in vier unsinn'ge Reime 
Legen — ist kein kleiner Stolz! 

57- 

Wählerischer Geschmack. 
Wenn man frei mich wählen Hesse, 
Wählt' ich gern ein Plätzchen mir 
Mitten drin im Paradiese: 
Gerner noch — vor seiner Thür! 

Ni etliche, Die frfihliche Wiwmchaft. 2 



 



— 18 — 



58. 

Die krumme Nase. 

Die Nase schauet trutziglich 
In's Land, der Nüster blähet sich — 
Drum fällst du, Nashorn ohne Horn, 
Mein stolzes Menschlein, stets nach vorn! 
Und stets beisammen find't sich das: 
Gerader Stolz, gekrümmte Nas. 

59- 

Die Feder kritzelt. 

Die Feder kritzelt: Hölle das! 

Bin ich verdammt zum Kritzeln-Müssen ? — 

So greif ich kühn zum Tintenfass 

Und schreib* mit dicken Tintenflüssen. 

Wie läuft das hin, so voll, so breit! 

Wie glückt mir Alles, wie ich's treibe! 

Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit — 

Was thut's? Wer liest denn, was ich schreibe? 

60. 

Höhere Menschen. 

Der steigt empor — ihn soll man loben! 
Doch Jener kommt allzeit von Oben! 
Der lebt dem Lobe selbst enthoben, 
Der ist von Droben! 

61. 

Der Skeptiker spricht. 

Halb ist dein Leben um, 

Der Zeiger rückt, die Seele schaudert dir! 

Lang schweift sie schon herum 

Und sucht und fand nicht — und sie zaudert hier? 



 



- 19 - 
Halb ist dein Leben um: 

Schmerz war's und Irrthum, Stund' um Stund' dahier! 

Was suchst du noch? Warum? — — 

Diess eben such' ich — Grund um Grund dafür! 

62. 

Ecce homo. 

Ja! Ich weiss, woher ich stamme! 
Ungesättigt gleich der Flamme 
Glühe und verzehr' ich mich. 
Licht wird Alles, was ich fasse, 
Kohle Alles, was ich lasse: 
Flamme bin ich sicherlich. 

63. 

Sternen-Moral. 

Vorausbestimmt zur Sternenbahn, 
Was geht dich, Stern, das Dunkel an? 

Roll' selig hin durch diese Zeit! 
Ihr Elend sei dir fremd und weit! 

Der fernsten Welt gehört dein Schein: 
Mitleid soll Sünde für dich sein! 

Nur Ein Gebot gilt dir: sei rein! 



 



t 



Erstes Buch. 

s 



 



I. 

Die Lehrer vom Zwecke des Daseins. — Ich 
mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen 
sehen, ich finde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und 
jeden Einzelnen in Sonderheit: Das zu thun, was der 
Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar 
wahrlich nicht aus einem Gefühl der Liebe für diese 
Gattung, sondern einfach, weil Nichts in ihnen älter, 
stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener 
Instinct, — weil dieser Instinct eben das Wesen unse- 
rer Art und Heerde ist. Ob man schon schnell genug 
mit der üblichen Kurzsichtigkeit auf fünf Schritt hin 
seine Nächsten säuberlich in nützliche und schädliche, 
gute und böse Menschen auseinander zu thun pflegt, 
bei einer Abrechnung im Grossen, bei einem längeren 
Nachdenken über das Ganze wird man gegen dieses 
Säubern und Auseinanderthun misstrauisch und lässt es 
endlich sein. Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht 
immer noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die Er- 
haltung der Art; denn er unterhält bei sich oder, durch 
seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne welche die 
Menschheit längst erschlafft oder verfault wäre. Der 
Hass, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht 
und was Alles sonst böse genannt wird: es gehört zu 
der erstaunlichen Oekonomie der Arterhaltung, freilich 
zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im Ganzen 
höchst thörichten Oekonomie: — welche aber bewiese- 
ner Maassen unser Geschlecht bisher erhalten hat. 



 



- 24 - 

Ich weiss nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch 
und Nächster, überhaupt zu Ungunsten der Art, also 
„unvernünftig" und „schlecht 41 leben kannst; Das, was 
der Art hätte schaden können, ist vielleicht seit vielen 
Jahrtausenden schon ausgestorben und gehört jetzt zu 
den Dingen, die selbst bei Gott nicht mehr möglich sind. 
Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten Begier- 
den nach und vor Allem: geh' zu Grunde! — in Beidem 
bist du wahrscheinlich immer noch irgendwie der För- 
derer und Wohlthäter der Menschheit und darfst dir 
daraufhin deine Lobredner halten — und ebenso deine 
Spötter! Aber du wirst nie den finden, der dich, den 
Einzelnen, auch in deinem Besten ganz zu verspotten 
verstünde, der deine grenzenlose Fliegen- und Frosch- 
Armseligkeit dir so genügend, wie es sich mit der 
Wahrheit vertrüge, zu Gemüthe fuhren könnte! Ueber 
sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der 
ganzen Wahrheit heraus zu lachen, — dazu hatten 
bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die 
Begabtesten viel zu wenig Genie! Es giebt vielleicht/ 
auch für das Lachen noch eine Zukunft! Dann, wenn 
der Satz „die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner' 4 
— sich der Menschheit einverleibt hat und Jedem jeder- 
zeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und Un- 
verantwortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann 
das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht 
giebt es dann nur noch „fröhliche Wissenschaft". Einst- 
weilen ist es noch ganz anders, einstweilen ist die 
Komödie des Daseins sich selber noch nicht „bewusst 
geworden 44 , einstweilen ist es immer noch die Zeit der 
Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen. Was 
bedeutet das immer neue Erscheinen jener Stifter der 



 



- 25 - 



Moralen und Religionen, jener Urheber des Kampfes 
um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissens- 
bisse und der Religionskriege? Was bedeuten diese 
Helden auf dieser Bühne? Denn es waren bisher die 
Helden derselben, und alles Uebrige, zeitweilig allein 
Sichtbare und Allzunahe, hat immer nur zur Vorbereitung 
dieser Helden gedient, sei es als Maschinerie und 
Coulisse oder in der Rolle von Vertrauten und Kam- 
merdienern. (Die Poeten zum Beispiel waren immer die 
Kammerdiener irgend einer Moral.) — Es versteht sich 
von selber, dass auch diese Tragöden im Interesse der 
Art arbeiten, wenn sie auch glauben mögen, im In- 
teresse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten. 
Auch sie fördern das Leben der Gattung, indem sie 
den Glauben an das Leben fördern. „Es ist werth 
zu leben — so ruft ein Jeder von ihnen — es hat Etwas 
auf sich mit diesem Leben, das Leben hat Etwas hinter 
sich, unter sich, nehmt euch in Acht!" Jener Trieb, 
welcher in den höchsten und gemeinsten Menschen 
gleichmässig waltet, der Trieb der Arterhaltung, bricht 
von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des 
Geistes hervor; er hat dann ein glänzendes Gefolge von 
Gründen um sich und will mit aller Gewalt vergessen 
machen, dass er im Grunde Trieb, Instinct, Thorheit, 
Grundlosigkeit ist. Das Leben soll geliebt werden, 
denn! Der Mensch soll sich und seinen Nächsten för- 
dern, denn! Und wie alle diese Soll's und Denn's 
heissen und in Zukunft noch heissen mögen! Damit Das, 
was noth wendig und immer, von sich aus und ohne 
allen Zweck geschieht, von jetzt an auf einen Zweck 
hin gethan erscheine und dem Menschen als Vernunft 
und letztes Gebot einleuchte, — dazu tritt der ethische 



 



- 26 



Lehrer auf, als der Lehrer vom Zweck des Daseins; 
dazu erfindet er ein zweites und anderes Dasein und 
hebt mittelst seiner neuen Mechanik dieses alte gemeine 
Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln. Ja! er will 
durchaus nicht, dass wir über das Dasein lachen, noch 
auch über uns, — noch auch über ihn; für ihn ist Einer 
immer Einer, etwas Erstes und Letztes und Ungeheures, 
für ihn giebt es keine Art, keine Summen, iceine 
Nullen. Wie thöricht und schwärmerisch auch seine 
Erfindungen und Schätzungen sein mögen, wie sehr er 
den Gang der Natur verkennt und ihre Bedingungen 
verleugnet: — und alle Ethiken waren zeither bis zu 
dem Grade thöricht und widernatürlich, dass an jeder 
von ihnen die Menschheit zu Grunde gegangen sein 
würde, falls sie sich der Menschheit bemächtigt hätte 
— immerhin! jedesmal wenn „der Held" auf die Bühne 
trat, wurde etwas Neues erreicht, das schauerliche 
Gegenstück des Lachens, jene tiefe Erschütterung vieler 
Einzelner bei dem Gedanken: „ja, es ist werth zu leben! 
ja, ich bin werth zu leben!" — das Leben und ich und 
du und wir Alle einander wurden uns wieder einmal 
für einige Zeit interessant. — Es ist nicht zu leugnen, 
dass auf die Dauer über jeden Einzelnen dieser grossen 
Zwecklehrer bisher das Lachen und die Vernunft und 
die Natur Herr geworden ist: die kurze Tragödie gieng 
schliesslich immer in die ewige Komödie des Daseins 
über und zurück, und die „Wellen unzähligen Geläch- 
ters" — mit Aeschylus zu reden — müssen zuletzt auch 
über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen. 
Aber bei alle diesem corrigirenden Lachen ist im 
Ganzen doch durch diess immer neue Erscheinen jener 
Lehrer vom Zweck des Daseins die menschliche Natur 



 



— 27 — 

verändert worden, — sie hat jetzt ein Bedürfniss mehr, 
eben das Bedürfniss nach dem immer neuen Erscheinen 
solcher Lehrer und Lehren vom „Zweck". Der Mensch 
ist allmählich zu einem phantastischen Thiere gewor- 
den, welches eine Existenz -Bedingung mehr, als jedes 
andere Thier, zu erfüllen hat: der Mensch muss von 
Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt, seine 
Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zu- 
trauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die Vernunft 
im Leben! Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das 
menschliche Geschlecht decretiren: „es giebt Etwas, über 
das absolut nicht mehr gelacht werden darf!" Und der 
vorsichtigste Menschenfreund wird hinzufügen: „nicht 
nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern 
auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unver- 
nunft gehört unter die Mittel und Nothwendigkeiten 
der Arterhaltung! 44 — Und folglich! Folglich! Folglich! 
Oh versteht ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses 
neue Gesetz der Ebbe und Fluth? Auch wir haben 
unsere Zeit! 

2. 

Das intellectuale Gewissen. — Ich mache im- 
mer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich 
ebenso immer von Neuem gegen sie, ich will es nicht 
glauben, ob ich es gleich mit Händen greife: den 
Allermeisten fehlt das intellectuale Gewissen; 
ja es wollte mir oft scheinen, als ob man mit der For- 
derung eines solchen in den volkreichsten Städten ein- 
sam wie in der Wüste sei. Es sieht dich Jeder mit 
fremden Augen an und handhabt seine Wage weiter, 
diess gut, jenes böse nennend; es macht Niemandem eine 
Schamröthe, wenn du merken lassest, dass diese Gewichte 



 



- 28 - 



nicht vollwichtig sind, — es macht auch keine Empörung 
gegen dich: vielleicht lacht man über deinen Zweifel. 
Ich will sagen: die Allermeisten finden es nicht ver- 
ächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu 
leben, ohne sich vorher der letzten und sichersten 
Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne 
sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein 
zu geben, — die begabtesten Männer und die edelsten 
Frauen gehören noch zu diesen „Allermeisten". Was 
ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn 
der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glau- 
ben und Urtheilen bei sich duldet, wenn das Verlangen 
nach Gewissheit ihm nicht als die innerste Begierde 
und tiefste Noth gilt, — als Das, was die höheren 
Menschen von den niederen scheidet! Ich fand bei 
gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor 
und war ihnen gut dafür: so verrieth sich doch wenigstens 
noch das böse intellectuale Gewissen! Aber inmitten 
dieser rerum concordia discors und der ganzen wunder- 
vollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins 
stehen und nicht fragen, nicht zittern vor Begierde 
und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden 
hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen — 
das ist es, was ich als verächtlich empfinde, und diese 
Empfindung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann 
suche: — irgend eine Narrheit überredet mich immer 
wieder, jeder Mensch habe diese Empfindung, als Mensch. 
Es ist meine Art von Ungerechtigkeit. 

3* 

Edel und Gemein. — Den gemeinen Naturen 
erscheinen alle edlen, grossmüthigen Gefühle als un- 



 



- 29 - 

zweckmässig und desshalb zu allererst als unglaubwürdig: 
sie zwinkern mit den Augen, wenn sie von dergleichen 
hören, und scheinen sagen zu wollen „es wird wohl 
irgend ein guter Vortheil dabei sein, man kann nicht 
durch alle Wände sehen" : — sie sind argwöhnisch gegen 
den Edlen, als ob er den Vortheil auf Schleichwegen 
suche. Werden sie von der Abwesenheit selbstischer 
Absichten und Gewinnste allzu deutlich überzeugt, so 
gilt ihnen der Edle als eine Art von Narren: sie ver- 
achten ihn in seiner Freude und lachen über den 
Glanz seiner Augen. „Wie kann man sich darüber 
freuen im Nachtheil zu sein, wie kann man mit offnen 
Augen in Nachtheil gerathen wollen! Es muss eine 
Krankheit der Vernunft mit der edlen AfFection ver- 
bunden sein" — so denken sie und blicken gering- 
schätzig dabei: wie sie die Freude geringschätzen, welche 
der Irrsinnige von seiner fixen Idee her hat. Die ge- 
meine Natur ist dadurch ausgezeichnet, dass sie ihren 
Vortheil unverrückt im Auge behält und dass diess 
Denken an Zweck und Vortheil selbst stärker, als die 
stärksten Triebe in ihr ist: sich durch jene Triebe nicht 
zu unzweckmässigen Handlungen verleiten lassen — das 
ist ihre Weisheit und ihr Selbstgefühl. Im Vergleich 
mit ihr ist die höhere Natur die unvernünftigere: 
— denn der Edle, Grossmüthige, Aufopfernde unter- 
liegt in der That seinen Trieben, und in seinen besten 
Augenblicken pausirt seine Vernunft. Ein Thier, das 
mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder in der 
Zeit der Brunst dem Weibchen auch in den Tod folgt, 
denkt nicht an die Gefahr und den Tod, seine Vernunft 
pausirt ebenfalls, weil die Lust an seiner Brut oder an 
dem Weibchen und die Furcht, dieser Lust beraubt zu 



- 30 



werden es ganz beherrschen; es wird dümmer, als es 
sonst ist, gleich dem Edlen und Grossmüthigen. Dieser 
besitzt einige Lust- und Unlust -Gefühle in solcher 
Starke, dass der Intellect dagegen schweigen oder sich 
zu ihrem Dienste hergeben muss: es tritt dann bei ihnen 
das Herz in den Kopf und man spricht nunmehr von 
„Leidenschaft". (Hier und da kommt auch wohl der 
Gegensatz dazu und gleichsam die „Umkehrung der 
Leidenschaft" vor, zum Beispiel bei Fontenelle, dem 
Jemand einmal die Hand auf das Herz legte, mit den 
Worten: „Was Sie da haben, mein Theuerster, ist auch 
Gehirn".) Die Unvernunft oder Quervernunft der Leiden- 
schaft ist es, die der Gemeine am Edlen verachtet, zumal 
wenn diese sich auf Objecte richtet, deren Werth ihm ganz 
phantastisch und willkürlich zu sein scheint. Er ärgert 
sich über Den, welcher der Leidenschaft des Bauches 
unterliegt, aber er begreift doch den Reiz, welcher hier 
den Tyrannen macht; aber er begreift es nicht, wie man 
zum Beispiel einer Leidenschaft der Erkenntniss zu Liebe 
seine Gesundheit und Ehre aufs Spiel setzen könne. 
Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf 
Ausnahmen, auf Dinge, die gewöhnlich kalt lassen und 
keine Süssigkeit zu haben scheinen; die höhere Natur 
hat ein singuläres Werthmaass. Dazu ist sie meistens 
des Glaubens, nicht ein singuläres Werthmaass in ihrer 
Idiosynkrasie des Geschmacks zu haben, sie setzt viel- 
mehr ihre Werthe und Unwerthe als die überhaupt 
gültigen Werthe und Unwerthe an, und geräth damit 
in's Unverständliche und Unpraktische. Es ist sehr 
selten, dass eine höhere Natur soviel Vernunft übrig 
behält, um Alltags -Menschen als solche zu verstehen 
und zu behandeln: zu allermeist glaubt sie an ihre 



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- 31 - 



Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leiden- 
schaft Aller und ist gerade in diesem Glauben voller 
Gluth und Beredtsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme- 
Menschen sich selber nicht als Ausnahmen fühlen, wie 
sollten sie jemals die gemeinen Naturen verstehen und 
die Regel billig abschätzen können! — und so reden 
auch sie von der Thorheit, Zweckwidrigkeit und Phan- 
tasterei der Menschheit, voller Verwunderung, wie toll 
die Welt laufe und warum sie sich nicht zu dem be- 
kennen wolle, was „ihr Noth thue". — Diess ist die 
ewige Ungerechtigkeit der Edlen. 

4- 

Das Arterhaltende. — Die stärksten und bösesten 
Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vor- 
wärts gebracht: sie entzündeten immer wieder die ein- 
schlafenden Leidenschaften — alle geordnete Gesellschaft 
schläfert die Leidenschaften ein — , sie weckten immer 
wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, 
der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen 
die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Muster- 
bilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, 
mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der 
Pietäten zumeist: aber auch durch neue Religionen und 
Moralen! Die selbe „Bosheit" ist in jedem Lehrer und 
Prediger des Neuen, — welche einen Eroberer verrufen 
macht, wenn sie auch sich feiner äussert, nicht sogleich 
die Muskeln in Bewegung setzt und eben desshalb auch 
nicht so verrufen macht! Das Neue ist aber unter allen 
Umständen das Böse, als Das, was erobern, die alten 
Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will; und 
nur das Alte ist das Gute! Die guten Menschen jeder 



 



- 32 - 

Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe 
graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer 
des Geistes. Aber jedes Land wird endlich ausgenützt, 
und immer wieder muss die Pflugschar des Bösen 
kommen. — Es giebt jetzt eine gründliche Irrlehre der 
Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird: 
nach ihr sind die Urtheile „gut" und „böse 44 die Auf- 
sammlung der Erfahrungen über „zweckmässig" und 
„unzweckmässig 44 ; nach ihr ist das Gut-Genannte das 
Arterhaltende, das Bös-Genannte aber das der Art Schäd- 
liche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben 
so hohem Grade zweckmässig, arterhaltend und unent- 
behrlich wie die guten: — nur ist ihre Function eine 
verschiedene. 

5- 

Unbedingte Pflichten. — Alle Menschen, welche 
fühlen, dass sie die stärksten Worte und Klänge, die 
beredtesten Gebärden und Stellungen nöthig haben, um 
überhaupt zu wirken, Revolutions- Politiker, Socia- 
listen, Bussprediger mit und ohne Christenthum, bei 
denen allen es keine halben Erfolge geben darf: alle 
diese reden von „Pflichten 44 , und zwar immer von Pflichten 
mit dem Charakter des Unbedingten — ohne solche hätten 
sie kein Recht zu ihrem grossen Pathos: das wissen sie 
recht wohl! So greifen sie nach Philosophieen der Moral, 
welche irgend einen kategorischen Imperativ predigen, 
oder sie nehmen ein gutes Stück Religion in sich hinein, 
wie diess zum Beispiel Mazzini gethan hat. Weil sie wol- 
len, dass ihnen unbedingt vertraut werde, haben sie zuerst 
nöthig, dass sie sich selber unbedingt vertrauen, auf 
Grund irgend eines letzten indiscutabeln und an sich er- 
habenen Gebotes, als dessen Diener und Werkzeuge sie 



 



- 33 - 



sich fühlen und ausgeben möchten. Hier haben wir die 
natürlichsten und meistens sehr einflussreichen Gegner 
der moralischen Aufklärung und Skepsis: aber sie sind 
selten. Dagegen giebt es eine sehr umfängliche Classe 
dieser Gegner überall dort, wo das Interesse die Unter- 
werfung lehrt, während Ruf und Ehre die Unterwerfung 
zu verbieten scheinen. Wer sich entwürdigt fühlt bei 
dem Gedanken, das Werkzeug eines Fürsten oder 
einer Partei und Secte oder gar einer Geldmacht zu sein, 
zum Beispiel als Abkömmling einer alten, stolzen Familie, 
aber eben diess Werkzeug sein will oder sein muss, vor 
sich und vor der OefFentlichkeit , der hat pathetische 
Principien nöthig, die man jederzeit in den Mund neh- 
men kann: — Principien eines unbedingten Sollens, 
welchen man sich ohne Beschämung unterwerfen und 
unterworfen zeigen darf. Alle feinere Servilität hält am 
kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, 
welche der Pflicht den unbedingten Charakter nehmen 
wollen: so fordert es von ihnen der Anstand, und nicht 
nur der Anstand. 

6. 

Verlust an Würde. — Das Nachdenken ist um 
all seine Würde der Form gekommen, man hat das 
Ceremoniell und die feierliche Gebärde des Nachdenkens 
zum Gespött gemacht und würde einen weisen Mann 
alten Stils nicht mehr aushalten. Wir denken zu rasch, 
und unterwegs, und mitten im Gehen, mitten in Ge- 
schäften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste 
denken; wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig 
Stille: — es ist, als ob wir eine unaufhaltsam rollende 
Maschine im Kopfe herumtrügen, welche selbst unter 

Nie tische. Die fröhliche Wissenschaft. 3 



 



- 34 - 



den ungünstigsten Umständen noch arbeitet. Ehemals 
sah man es Jedem an, dass er einmal denken wollte — 
es war wohl die Ausnahme ! — , dass er jetzt weiser wer- 
den wollte und sich auf einen Gedanken gefasst machte: 
man zog ein Gesicht dazu, wie zu einem Gebet, und hielt 
den Schritt an; ja man stand stundenlang auf der Strasse 
still, wenn der Gedanke „kam" — auf einem oder auf 
zwei Beinen. So war es „der Sache würdig"! 

7- 

Etwas für Arbeitsame. — Wer jetzt aus den 
moralischen Dingen ein Studium machen will, eröffnet 
sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Pas- 
sionen müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, 
Völker, grosse und kleine Einzelne verfolgt werden; 
ihre ganze Vernunft und alle ihre Werthschätzungen und 
Beleuchtungen der Dinge sollen an's Licht hinaus! Bis- 
her hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, 
noch keine Geschichte: oder wo gäbe es eine Geschichte 
der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, 
der Pietät, der Grausamkeit? Selbst eine vergleichende 
Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt 
bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Ein- 
th eilung des Tages, die Folgen einer regelmässigen Fest- 
setzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand 
der Forschung gemacht? Kennt man die moralischen 
Wirkungen der Nahrungsmittel? Giebt es eine Philo- 
sophie der Ernährung? (Der immer wieder losbrechende 
Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, 
dass es noch keine solche Philosophie giebt!) Sind die 
Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die 
Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt? Ist die Dia- 



 



- 35 - 

lektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt? Die 
Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Hand- 
werker, — haben sie schon ihre Denker gefunden? Es 
ist so viel daran zu denken! Alles, was bis jetzt die 
Menschen als ihre „Existenz -Bedingungen" betrachtet 
haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben 
an dieser Betrachtung, — ist diess schon zu Ende er- 
forscht? Allein die Beobachtung des verschiedenen 
Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach 
dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und 
noch haben könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für 
den Arbeitsamsten; es bedarf ganzer Geschlechter und 
planmässig zusammen arbeitender Geschlechter von Ge- 
lehrten, um hier die Gesichtspuncte und das Material zu 
erschöpfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der 
Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas 
(„wesshalb leuchtet hier diese Sonne eines moralischen 
Grundurtheils und Hauptwerthmessers — und dort jene?"). 
Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrthüm- 
lichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des 
bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle 
diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller 
Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im 
Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie 
bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten 
kann — und dann würde ein Experimentiren am Platze 
sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen 
könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, wel- 
ches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bis- 
herigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher 
hat die Wissenschaftihre Cyklopen-Bauten noch nicht 
gebaut; auch dafür wird die Zeit kommen. 

3* 



 



- 36 - 



8. 

Unbewusste Tugenden. — Alle Eigenschaften 
eines Menschen, deren er sich bewusst ist — und na- 
mentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch 
für seine Umgebung voraussetzt — stehen unter ganz 
anderen Gesetzen der Ent Wickelung, als jene Eigen- 
schaften, welche ihm unbekannt oder schlecht bekannt 
sind und die sich auch vor dem Auge des feineren 
Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie 
hinter das Nichts zu verstecken wissen. So steht es mit 
den feinen Sculpturen auf den Schuppen der Reptilien: 
es würde ein Irrthum sein, in ihnen einen Schmuck oder 
eine Waffe zu vermuthen — denn man sieht sie erst 
mit dem Mikroskop, also mit einem so künstlich ver- 
schärften Auge, wie es ähnliche Thiere, für welche es 
etwa Schmuck oder Waffe zu bedeuten hätte, nicht be- 
sitzen! Unsere sichtbaren moralischen Qualitäten, und 
namentlich unsere sichtbar geglaubten gehen ihren 
Gang, — und die unsichtbaren ganz gleichnamigen, welche 
uns in Hinsicht auf Andere weder Schmuck noch Waffe 
sind, gehen auch ihren Gang: einen ganz anderen 
wahrscheinlich, und mit Linien und Feinheiten und 
Sculpturen, welche vielleicht einem Gotte mit einem 
göttlichen Mikroskope Vergnügen machen könnten. Wir 
haben zum Beispiel unsern Fleiss, unsern Ehrgeiz, unsern 
Scharfsinn: alle Welt weiss darum — , und ausserdem 
haben wir wahrscheinlich noch einmal unseren Fleiss, 
unseren Ehrgeiz, unseren Scharfsinn; aber für diese 
unsere Reptilien-Schuppen ist das Mikroskop noch nicht 
erfunden! — Und hier werden die Freunde der instinc- 
tiven Moralität sagen: „Bravo! Er hält wenigstens un- 



 



- 37 - 

bewusste Tugenden für möglich, — das genügt unsl" — 
Oh ihr Genügsamen! 

9- 

Unsere Eruptionen. — Unzähliges, was sich die 
Menschheit auf früheren Stufen aneignete, aber so 
schwach und embryonisch, dass es Niemand als ange- 
eignet wahrzunehmen wusste, stösst plötzlich, lange 
darauf, vielleicht nach Jahrhunderten, an's Licht: es ist 
inzwischen stark und reif geworden. Manchen Zeitaltern 
scheint diess oder jenes Talent, diese oder jene Tugend 
ganz zu fehlen, wie manchen Menschen: aber man warte 
nur bis auf die Enkel und Enkelskinder, wenn man Zeit 
hat, zu warten, — sie bringen das Innere ihrer Grossväter 
an die Sonne, jenes Innere, von dem die Grossväter 
selbst noch Nichts wussten. Oft ist schon der Sohn der 
Verräther seines Vaters: dieser versteht sich selber 
besser, seit er seinen Sohn hat. Wir haben Alle ver- 
borgene Gärten und Pflanzungen in uns; und, mit einem 
andern Gleichnisse, wir sind Alle wachsende Vulcane, 
die ihre Stunde der Eruption haben werden: — wie 
nahe aber oder wie ferne diese ist, das freilich weiss 
Niemand, selbst der liebe Gott nicht. 

10. 

Eine Art von Atavismus. — Die seltenen Men- 
schen einer Zeit verstehe ich am liebsten als plötzlich 
auftauchende Nachschösslinge vergangener Culturen und 
deren Kräften: gleichsam als den Atavismus eines Volkes 
und seiner Gesittung: — so ist wirklich Etwas noch an 
ihnen zu verstehen! Jetzt erscheinen sie fremd, selten, 
ausserordentlich: und wer diese Kräfte in sich fühlt, hat 



 



- 38 - 

sie gegen eine widerstrebende andere Welt zu pflegen, 
zu vertheidigen, zu ehren, gross zu ziehen: und so wird 
er damit entweder ein grosser Mensch oder ein ver- 
rückter und absonderlicher, sofern er überhaupt nicht 
bei Zeiten zu Grunde geht. Ehedem waren diese selben 
Eigenschaften gewöhnlich und galten folglich als ge- 
mein: sie zeichneten nicht aus. Vielleicht wurden sie 
gefordert, vorausgesetzt; es war unmöglich, mit ihnen 
gross zu werden, und schon desshalb, weil die Gefahr 
fehlte, mit ihnen auch toll und einsam zu werden. — Die 
erhaltenden Geschlechter und Kasten eines Volkes sind 
es vornehmlich, in denen solche Nachschläge alter Triebe 
vorkommen, während keine Wahrscheinlichkeit für sol- 
chen Atavismus ist, wo Rassen, Gewohnheiten, Werth- 
schätzungen zu rasch wechseln. Das Tempo bedeutet 
nämlich unter den Kräften der Entwickelung bei Völkern 
ebensoviel wie bei der Musik; für unseren Fall ist durch- 
aus ein Andante der Entwickelung nothwendig, als das 
Tempo eines leidenschaftlichen und langsamen Geistes: — 
und der Art ist ja der Geist conservativer Geschlechter. 

1 1. 

Das Bewusstsein. — Die Bewusstheit ist die 
letzte und späteste Entwickelung des Organischen und 
folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. 
Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, 
welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zu Grunde 
geht, früher als es nöthig wäre, „über das Geschick 4 ', 
wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband 
der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht 
im Ganzen als Regulator: an ihrem verkehrten Urtheilen 
und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründ- 



 



- 39 - 

lichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Be- 
wusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen: oder 
vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr! 
Bevor eine Function ausgebildet und reif ist, ist sie 
eine Gefahr des Organismus: gut, wenn sie so lange 
tüchtig tyrannisirt wird! So wird die Bewusstheit tüchtig 
tyrannisirt — und nicht am wenigsten von dem Stolze 
darauf! Man denkt, hier sei der Kern des Menschen; 
sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes! Man 
hält die Bewusstheit für eine feste gegebene Grösse! 
Leugnet ihr Wachsthum, ihre Intermittenzen! Nimmt 
sie als „Einheit des Organismus"! — Diese lächerliche 
Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat 
die grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine all- 
zuschnelle Ausbildung desselben verhindert worden 
ist. Weil die Menschen die Bewusstheit schon zu haben 
glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, 
sie zu erwerben — und auch jetzt noch steht es nicht 
anders! Es ist immer noch eine ganz neue und eben 
erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch 
deutlich erkennbare Aufgabe, das Wissen sich ein- 
zuverleiben und instinctiv zu machen, — eine Aufgabe, 
welche nur von Denen gesehen wird, die begriffen haben, 
dass bisher nur unsere Irrthümer uns einverleibt waren 
und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrthümer 
bezieht! 

12. 

Vom Ziele der Wissenschaft. — Wie? Das 
letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen mög- 
lichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen? 
Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke 
zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von 



 



- 40 - 

der einen haben will, auch möglichst viel von der an- 
dern haben muss, — dass, wer das „ Himmelhoch - 
Jauchzen 44 lernen will, sich auch für das „zum-Tode- 
betrübt" bereit halten muss? Und so steht es vielleicht! 
Die Stoiker glaubten wenigstens, dass es so stehe, und 
waren consequent, als sie nach möglichst wenig Lust 
begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu 
haben (wenn man den Spruch im Munde führte „Der 
Tugendhafte ist der Glücklichste 44 , so hatte man in ihm 
sowohl ein Aushängeschild der Schule für die grosse 
Masse, als auch eine casuistische Feinheit für die Feinen). 
Auch heute noch habt ihr die Wahl: entweder mög- 
lichst wenig Unlust, kurz Schmerzlosigkeit — und 
im Grunde dürften Socialisten und Politiker aller Par- 
teien ihren Leuten ehrlicher Weise nicht mehr ver- 
heissen — oder möglichst viel Unlust als Preis für 
das Wachsthum einer Fülle von feinen und bisher selten 
gekosteten Lüsten und Freuden! Entschliesst ihr euch 
für das Erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der 
Menschen herabdrücken und vermindern, nun, so müsst 
ihr auch ihre Fähigkeit zur Freude herabdrücken 
und vermindern. In der That kann man mit der Wis- 
senschaft das eine wie das andere Ziel fördern! Viel- 
leicht ist sie jetzt noch bekannter wegen ihrer Kraft, 
den Menschen um seine Freuden zu bringen, und ihn 
kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie 
könnte auch noch als die grosse Schmerzbringerin 
entdeckt werden! — Und dann würde vielleicht zugleich 
ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Ver- 
mögen, neue Sternen weiten der Freude aufleuchten zu 
lassen! 



 



- 41 - 



13- 

Zur Lehre vom Machtgefühl. — Mit Wohlthun 
und Wehethun übt man seine Macht an Andern aus — 
mehr will man dabei nicht! Mit Wehethun an Solchen, 
denen wir unsere Macht erst fühlbar machen müssen; 
denn der Schmerz ist ein viel empfindlicheres Mittel 
dazu als die Lust: — der Schmerz fragt immer nach der 
Ursache, während die Lust geneigt ist, bei sich selber 
stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen. Mit 
Wohlthun und Wohlwollen an Solchen, die irgendwie 
schon von uns abhängen (das heisst gewohnt sind, an uns 
als ihre Ursachen zu denken); wir wollen ihre Macht 
mehren , weil wir so die unsere mehren , oder wir wollen 
ihnen den Vortheil zeigen, den es hat, in unserer Macht 
zu stehen, — so werden sie mit ihrer Lage zufriedener und- 
gegen die Feinde unserer Macht feindseliger und kampf- 
bereiter sein. Ob wir beim Wohl- oder Wehethun Opfer 
bringen, verändert den letzten Werth unserer Hand- 
lungen nicht; selbst wenn wir unser Leben daran setzen, 
wie der Märtyrer zu Gunsten seiner Kirche, es ist ein 
Opfer, gebracht unserem Verlangen nach Macht, oder 
zum Zweck der Erhaltung unseres Machtgefühls. Wer 
da empfindet „ich bin im Besitz der Wahrheit," wie 
viel Besitzthümer lässt der nicht fahren, um diese Em- 
pfindung zu retten! Was wirft er nicht Alles über Bord, 
um sich „oben" zu erhalten, — das heisst über den 
Andern, welche der „Wahrheit" ermangeln! Gewiss ist 
der Zustand, wo wir wehe thun, selten so angenehm, 
so ungemischt-angenehm, wie der, in welchem wir wohl 
thun, — es ist ein Zeichen, dass uns noch Macht fehlt, 
oder verräth den Verdruss über diese Armuth, es bringt 
neue Gefahren und Unsicherheiten für unseren vorhan- 



 



__ 42 - 



denen Besitz von Macht mit sich und umwölkt unsern 
Horizont durch die Aussicht auf Rache, Hohn, Strafe, 
Misserfolg. Nur für die reizbarsten und begehrlichsten 
Menschen des Machtgefühles mag es lustvoller sein, dem 
Widerstrebenden das Siegel der Macht aufzudrücken; 
für solche, denen der Anblick des bereits Unterworfenen 
(als welcher der Gegenstand des Wohlwollens ist) Last 
und Langeweile macht. Es kommt darauf an, wie man 
gewöhnt is*t, sein Leben zu würzen; es ist eine Sache 
des Geschmackes, ob man lieber den langsamen oder 
den plötzlichen, den sicheren oder den gefahrlichen und 
verwegenen Machtzuwachs haben will, — man sucht 
diese oder jene Würze immer nach seinem Tempera- 
mente. Eine leichte Beute ist stolzen Naturen etwas 
Verächtliches, sie empfinden ein Wohlgefühl erst beim 
Anblick ungebrochener Menschen, welche ihnen Feind 
werden könnten, und ebenso beim Anblick aller schwer 
zugänglichen Besitzthümer; gegen den Leidenden sind 
sie oft hart, denn er ist ihres Strebens und Stolzes nicht 
werth, — aber um so verbindlicher zeigen sie sich gegen 
die Gleichen, mit denen ein Kampf und Ringen jeden- 
falls ehrenvoll wäre, wenn sich einmal eine Gelegenheit 
dazu finden sollte. Unter dem Wohlgefuhle dieser Per- 
spective haben sich die Menschen der ritterlichen Kaste 
gegen einander an eine ausgesuchte Höflichkeit ge- 
wöhnt. — Mitleid ist das angenehmste Gefühl bei 
Solchen, welche wenig stolz sind und keine Aussicht 
auf grosse Eroberungen haben: für sie ist die leichte 
Beute — und das ist jeder Leidende — etwas Ent- 
zückendes. Man rühmt das Mitleid als die Tugend der 
Freudenmädchen. 



 



- 43 - 



14- 

Was Alles Liebe genannt wird. — Habsucht 
und Liebe: wie verschieden empfinden wir bei jedem 
dieser Worte! — und doch könnte es der selbe Trieb 
sein, zweimal benannt, das eine Mal verunglimpft vom 
Standpuncte der bereits Habenden aus, in denen der 
Trieb etwas zur Ruhe gekommen ist und die nun für 
ihre „Habe" furchten; das andere Mal vom Standpuncte 
der Unbefriedigten, Durstigen aus, und daher verherr- 
licht als „gut". Unsere Nächstenliebe — ist sie nicht 
ein Drang nach neuem Eigenthum? Und ebenso un- 
sere Liebe zum Wissen, zur Wahrheit und überhaupt 
all jener Drang nach Neuigkeiten? Wir werden des 
Alten, sicher Besessenen allmählich überdrüssig und 
strecken die Hände wieder aus; selbst die schönste 
Landschaft, in der wir drei Monate leben, ist unserer 
Liebe nicht mehr gewiss, und irgend eine fernere Küste 
reizt unsere Habsucht an: der Besitz wird durch das 
Besitzen zumeist geringer. Unsere Lust an uns selber 
will sich so aufrecht erhalten, dass sie immer wieder 
etwas Neues in uns selber verwandelt, — das eben 
heisst Besitzen. Eines Besitzes überdrüssig werden, das 
ist: unserer selber überdrüssig werden. (Man kann auch 
am Zuviel leiden, — auch die Begierde, wegzuwerfen, 
auszutheilen , kann sich den Ehrennamen „Liebe" zu- 
legen.) Wenn wir Jemanden leiden sehen, so benutzen 
wir gerne die jetzt gebotene Gelegenheit, Besitz von ihm 
zu ergreifen; diess thut zum Beispiel der Wohlthätige und 
Mitleidige, auch er nennt die in ihm erweckte Begierde 
nach neuem Besitz „Liebe", und hat seine Lust dabei wie 
bei einer neuen ihm winkenden Eroberung. Am deut- 
lichsten aber verräth sich die Liebe der Geschlechter 



 



— 44 - 



als Drang nach Eigenthum: der Liebende will den un- 
bedingten Alleinbesitz der von ihm ersehnten Person, 
er will eine ebenso unbedingte Macht über ihre Seele 
wie ihren Leib, er will allein geliebt sein und als das 
Höchste und Begehrenswertheste in der andern Seele 
wohnen und herrschen. Erwägt man, dass diess nichts 
Anderes heisst, als alle Welt von einem kostbaren Gute, 
Glücke und Genüsse ausschliessen: erwägt man, dass 
der Liebende auf die Verarmung und Entbehrung aller 
anderen Mitbewerber ausgeht und zum Drachen seines 
goldenen Hortes werden möchte, als der rücksichts- 
loseste und selbstsüchtigste aller „Eroberer" und Aus- 
beuter: erwägt man endlich, dass dem Liebenden selber 
die ganze andere Welt gleichgültig, blass, werthlos er- 
scheint und er jedes Opfer zu bringen, jede Ordnung 
zu stören, jedes Interesse hintennach zu setzen bereit 
ist: so wundert man sich in der That, dass diese wilde 
Habsucht und Ungerechtigkeit der Geschlechtsliebe der- 
maassen verherrlicht und vergöttlicht worden ist, wie zu 
allen Zeiten geschehen, ja, dass man aus dieser Liebe 
den Begriff Liebe als den Gegensatz des Egoismus her- 
genommen hat,' während sie vielleicht gerade der un- 
befangenste Ausdruck des Egoismus ist. Hier haben 
offenbar die Nichtbesitzenden und Begehrenden den 
Sprachgebrauch gemacht, — es gab wohl ihrer immer 
zu viele. Solche, welchen auf diesem Bereiche viel 
Besitz und Sättigung gegönnt war, haben wohl hier und 
da ein Wort vom „wüthenden Dämon" fallen lassen, wie 
jener liebenswürdigste und geliebteste aller Athener, 
Sophokles: aber Eros lachte jederzeit über solche Läste- 
rer, — es waren immer gerade seine grössten Lieb- 
linge. — Es giebt wohl hier und da auf Erden eine Art 



 



- 45 - 

Fortsetzung der Liebe, bei der jenes habsüchtige 
Verlangen zweier Personen nach einander einer neuen 
Begierde und Habsucht, einem gemeinsamen höheren 
Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale ge- 
wichen ist: aber wer kennt diese Liebe? Wer hat sie 
erlebt? Ihr rechter Name ist Freundschaft. 

15. 

Aus der Ferne. — Dieser Berg macht die ganze 
Gegend, die er beherrscht, auf alle Weise reizend und 
bedeutungsvoll : nachdem wir diess uns zum hundertsten 
Male gesagt haben, sind wir so unvernünftig und so 
dankbar gegen ihn gestimmt, dass wir glauben, er, der 
Geber dieses Reizes, müsse selber das Reizvollste der 
Gegend sein — und so steigen wir auf ihn hinauf und 
sind enttäuscht. Plötzlich ist er selber, und die ganze 
Landschaft um uns, unter uns wie entzaubert; wir hatten 
vergessen, dass manche Grösse, wie manche Güte, nur 
auf eine gewisse Distanz hin gesehen werden will, und 
durchaus von unten, nicht von oben, — so allein wirkt 
sie. Vielleicht kennst du Menschen in deiner Nahe, 
die sich selber nur aus einer gewissen Ferne ansehen 
dürfen, um sich überhaupt erträglich oder anziehend 
und kraftgebend zu finden; die Selbsterkenntniss ist 
ihnen zu widerrathen. 

16. 

Ueber den Steg. — Im Verkehre mit Personen, 
welche gegen ihre Gefühle schamhaft sind, muss man 
sich verstellen können; sie empfinden einen plötzlichen 
Hass gegen Den, welcher sie auf einem zärtlichen oder 
schwärmerischen und hochgehenden Gefühle ertappt, 
wie als ob er ihre Heimlichkeiten gesehen habe. Will 



 



- 46 - 



man ihnen in solchen Augenblicken wohl thun, so mache 
man sie lachen oder sage irgend eine kalte scherzhafte 
Bosheit: — ihr Gefühl erfriert dabei, und sie sind ihrer 
' wieder mächtig. Doch ich gebe die Moral vor der 
Geschichte. — Wir sind uns Einmal im Leben so nahe 
gewesen, dass Nichts unsere Freund- und Bruderschaft 
mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg 
zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, 
fragte ich dich: „willst du zu mir über den Steg?" — 
Aber da wolltest du nicht mehr; und als ich nochmals 
bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reissende 
Ströme, und was nur trennt und fremd macht, zwischen 
uns geworfen, und wenn wir auch zu einander wollten, 
wir könnten es nicht mehr! Gedenkst du aber jetzt 
jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr, — 
nur noch Schluchzen und Verwunderung. 

17. 

Seine Armuth motiviren. — Wir können freilich 
durch kein Kunststück aus einer armen Tugend eine 
reiche, reichfliessende machen, aber wohl können wir 
ihre Armuth schön in die Nothwendigkeit umdeuten, so- 
dass ihr Anblick uns nicht mehr wehe thut, und wir 
ihrethalben dem Fatum keine vorwurfsvollen Gesichter 
machen. So thut der weise Gärtner, der das arme 
Wässerchen seines Gartens einer Quellnymphe in den 
Arm legt und also die Armuth motivirt: — und wer 
hätte nicht gleich ihm die Nymphen nöthig! 

18. 

Antiker Stolz. — Die antike Färbung der Vor- 
nehmheit fehlt uns, weil unserem Gefühle der antike 



 



- 47 - 

Sclave fehlt. Ein Grieche edler Abkunft fand zwischen 
seiner Höhe und jener letzten Niedrigkeit solche un- 
geheure Zwischen -Stufen und eine solche Ferne, dass 
er den Sclaven kaum noch deutlich sehen konnte.- 
selbst Plato hat ihn nicht ganz mehr gesehen. Anders 
wir, gewöhnt wie wir sind an die Lehre von der Gleich- 
heit der Menschen, wenn auch nicht an die Gleichheit 
selber. Ein Wesen, das nicht über sich selber verfugen 
kann und dem die Müsse fehlt, — das gilt unserem 
Auge noch keineswegs als etwas Verächtliches; es ist 
von derlei Sclavenhaftem vielleicht zu viel an Jedem 
von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaft- 
lichen Ordnung und Thätigkeit, welche grundverschie- 
den von denen der Alten sind. — Der griechische Phi- 
losoph gieng durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, 
dass es viel mehr Sclaven gebe, als man vermeine — 
nämlich, dass Jedermann Sclave sei, der nicht Philosoph 
sei; sein Stolz schwoll über, wenn er erwog, dass auch 
die Mächtigsten der Erde unter diesen seinen Sclaven 
seien. Auch dieser Stolz ist uns fremd und unmöglich; 
nicht einmal im Gleichniss hat das Wort „Sclave" für 
uns seine volle Kraft. 

19. 

Das Böse. — Prüfet das Leben der besten und 
fruchtbarsten Menschen und Völker und fragt euch, ob 
ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen soll, des 
schlechten Wetters und der Stürme entbehren könne: 
ob Ungunst und Widerstand von aussen, ob irgend 
welche Arten von Hass, Eifersucht, Eigensinn, Miss- 
trauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu den 
begünstigenden Umständen gehören, ohne welche 
ein grosses Wachsthum selbst in der Tugend kaum 



 



- 48 



möglich ist? Das Gift, an dem die schwächere Natur 
zu Grunde geht, ist für den Starken Stärkung — und 
er nennt es auch nicht Gift. 

20. 

Würde der Thorheit. — Einige Jahrtausende 
weiter auf der Bahn des letzten Jahrhunderts! — und 
in Allem, was der Mensch thut, wird die höchste Klug- 
heit sichtbar sein: aber eben damit wird die Klugheit 
alle ihre Würde verloren haben. Es ist dann zwar 
nothwendig, klug zu sein, aber auch so gewöhnlich und 
so gemein, dass ein eklerer Geschmack diese Notwen- 
digkeit als eine Gemeinheit empfinden wird. Und 
ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und Wissenschaft 
im Stande wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu 
machen, so könnte eine Tyrannei der Klugheit eine 
neue Gattung von Edelsinn hervortreiben. Edel sein 
— das hiesse dann vielleicht: Thorheiten im Kopfe 
haben. 

21. 

An die Lehrer der Selbstlosigkeit. — Man 
nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hin- 
sicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber haben, 
sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von 
ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen: — man 
ist von jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig „selbst- 
los", sehr wenig „unegoistisch" gewesen! Sonst nämlich 
hätte man sehen müssen, dass die Tugenden (wie Fleiss, 
Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren In- 
habern meistens schädlich sind, als Triebe, welche 
allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von 
der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu 



 



- 49 - 



den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du 
eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und 
nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend !) — so bist 
du ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben desshalb 
deine Tugend! Man lobt den Fleissigen, ob er gleich 
die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit 
und Frische seines Geistes mit diesem Fleisse schädigt; 
man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich „zu 
Schanden gearbeitet hat", weil man urtheilt: „Für das 
ganze Grosse der Gesellschaft ist auch der Verlust des 
besten Einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, dass das 
Opfer Noth thut! Viel schlimmer freilich, wenn der Ein- 
zelne anders denken und seine Erhaltung und Entwicke- 
lung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste 
der Gesellschaft!" Und so bedauert man diesen Jüng- 
ling, nicht um seiner selber willen, sondern weil ein 
ergebenes und gegen sich rücksichtsloses Werkzeug 
— ein sogenannter „braver Mensch" — durch diesen 
Tod der Gesellschaft verloren gegangen ist. Vielleicht 
erwägt man noch, ob es im Interesse der Gesellschaft 
nützlicher gewesen sein würde, wenn er minder rück- 
sichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten 
hätte, — ja man gesteht sich wohl einen Vortheil davon 
zu, schlägt aber jenen anderen Vortheil, dass ein Opfer 
gebracht und die Gesinnung des Opferthiers sich wieder 
einmal augenscheinlich bestätigt hat, für höher und 
nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur 
in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird, wenn die 
Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder 
Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesammt- 
Vortheil des Individuums sich nicht in Schranken hal- 
ten lässt, kurz: die Unvernunft in der Tugend, vermöge 

Niet nc he. Die fröhliche Wissenschaft. 4 



 



— 50 



deren das Einzelwesen sich zur Function des Ganzen 
umwandeln lässt. Das Lob der Tugenden ist das Lob 
von etwas Privat-Schädlichem, — das Lob von Trieben, 
welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und 
die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen. 
— Freilich: zur Erziehung und zur Einverleibung 
tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von 
Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und 
Privat -Vortheil als verschwistert erscheinen lassen, — 
und es giebt in der That eine solche Geschwisterschaft! 
Der blindwüthende Fleiss zum Beispiel, diese typische 
Tugend eines Werkzeuges, wird dargestellt als der Weg zu 
Reichthum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen 
die Langeweile und die Leidenschaften: aber man ver- 
schweigt seine Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die 
Erziehung verfahrt durchweg so: sie sucht den Einzelnen 
durch eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer 
Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn 
sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, 
wider seinen letzten Vortheil, aber „zum allge- 
meinen Besten" in ihm und über ihn herrscht. Wie 
oft sehe ich es, dass der blindwüthende Fleiss zwar 
Reichthümer und Ehre schafft, aber zugleich den Or- 
ganen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen 
Genuss an Reichthum und Ehren geben könnte, ebenso, 
dass jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die 
Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist 
widerspänstig gegen neue Reize macht. (Das fleissigste 
aller Zeitalter — unser Zeitalter — weiss aus seinem 
vielen Fleisse und Gelde Nichts zu machen, als immer 
wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiss: es 
gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu er- 



 



-- 51 - 

werben! — Nun, wir werden unsere „Enkel" haben!) 
Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen 
eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachtheil 
im Sinne des höchsten privaten Zieles, — wahrscheinlich 
irgend eine geistig-sinnliche Verkümmerung oder gar 
der frühzeitige Untergang: man erwäge der Reihe nach 
von diesem Gesichtspuncte aus die Tugend des Gehor- 
sams, der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das 
Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften — 
also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Ver- 
nunft auf seine Erhaltung, Entwickelung , Erhebung, 
Förderung, Macht -Erweiterung verwendet, sondern in 
Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht 
sogar gleichgültig oder ironisch lebt, — dieses Lob ist 
jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit ent- 
sprungen! Der „Nächste" lobt die Selbstlosigkeit, weil 
er durch sie Vortheile hat! Dächte der Nächste 
selber „selbstlos", so würde er jenen Abbruch an 
Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, 
der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten 
und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch be- 
kunden, dass er dieselbe nicht gut nennte! — Hiermit 
ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche 
gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser 
Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Principe! Das, 
womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sich 
aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz „du 
sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer brin- 
gen«* dürfte, um seiner eigenen Moral nicht zuwider- 
zugehen, nur von einem Wesen decretirt werden, 
welches damit selber seinem Vortheil entsagte und 
vielleicht in der verlangten Aufopferung der Einzelnen 

4* 



 



- 52 - 



seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber 
der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um 
des Nutzens willen anempfiehlt, wird der gerade ent- 
gegengesetzte Satz „du sollst den Vortheil auch auf Un- 
kosten alles Anderen suchen" zur Anwendung gebracht, 
also in Einem Athem ein „Du sollst" und „Du sollst 
nicht" gepredigt! 

22. 

L'ordre du jour pour le roi. — Der Tag be- 
ginnt: beginnen wir für diesen Tag die Geschäfte und 
P'este unseres allergnädigsten Herrn zu ordnen, der jetzt 
noch zu ruhen geruht Seine Majestät hat heute 
schlechtes Wetter: wir werden uns hüten, es schlecht 
zu nennen; man wird nicht vom Wetter reden, — aber 
wir werden die Geschäfte heute etwas feierlicher und 
die Feste etwas festlicher nehmen, als sonst nöthig wäre. 
Seine Majestät wird vielleicht sogar krank sein: wir 
werden zum Frühstück die letzte gute Neuigkeit vom 
Abend präsentiren, die Ankunft des Herrn von Montaigne, 
der so angenehm über seine Krankheit zu scherzen 
weiss, — er leidet am Stein. Wir werden einige Per- 
sonen empfangen (Personen! — was würde jener alte 
aufgeblasene Frosch, der unter ihnen sein wird, sagen, 
wenn er diess Wort hörte ! „Ich bin keine Person, würde 
er sagen, sondern immer die Sache selber 4 '.) — und 
der Empfang wird länger dauern, als irgend Jemandem 
angenehm ist: Grund genug, von jenem Dichter zu er- 
zählen, der auf seine Thüre schrieb: „wer hier eintritt, 
wird mir eine Ehre erweisen; wer es nicht thut — ein 
Vergnügen." — Diess heisst fürwahr eine Unhöflichkeit 
auf höfliche Manier sagen! Und vielleicht hat dieser 
Dichter für seinen Theil ganz Recht, unhöflich zu sein: 



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— 53 - 



man sagt, dass seine Verse besser seien, als der Verse- 
Schmied. Nun, so mag er noch viele machen und sich 
selber möglichst der Welt entziehen : und das ist ja der 
Sinn seiner artigen Unart! Umgekehrt ist ein Fürst 
immer mehr werth, als sein „Vers", selbst wenn — doch 
was machen wir? Wir plaudern, und der ganze Hof 
meint, wir arbeiteten schon und zerbrächen uns die 
Köpfe: man sieht kein Licht früher, als das in unserem 
Fenster brennen. — Horch! War das nicht die Glocke? 
Zum Teufel! Der Tag und der Tanz beginnt, und wir 
wissen seine Touren nicht! So müssen wir improvisiren, 
— alle Welt improvisirt ihren Tag. Machen wir es heute 
einmal wie alle Welt! — Und damit verschwand mein 
wunderlicher Morgentraum, wahrscheinlich vor den har- 
ten Schlägen der Thurmuhr, die eben mit all der 
Wichtigkeit, die ihr eigen ist, die fünfte Stunde ver- 
kündete. Es scheint mir, dass diessmal der Gott der 
Träume sich über meine Gewohnheiten lustig machen 
wollte, — es ist meine Gewohnheit, den Tag so zu be- 
ginnen, dass ich ihn für mich zurecht lege und erträg- 
lich mache, und es mag sein, dass ich diess öfters zu 
förmlich und zu prinzenhaft gethan habe. 

23. 

Die Anzeichen der Corruption. — Man beachte 
an jenen von Zeit zu Zeit nothwendigen Zuständen der 
Gesellschaft, welche mit dem Wort „Corruption 4 * be- 
zeichnet werden, folgende Anzeichen. Sobald irgend 
wo die Corruption eintritt, nimmt ein bunter Aber- 
glaube überhand und der bisherige Gesammtglaube 
eines Volkes wird blass und ohnmächtig dagegen: der 
Aberglaube ist nämlich die Freigeisterei zweiten Ranges, 



 



— wer sich ihm ergiebt, wählt gewisse ihm zusagende 
Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht 
der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit 
dem Religiösen, immer viel mehr „Person", als dieser, 
und eine abergläubische Gesellschaft wird eine solche 
sein, in der es schon viele Individuen und Lust am 
Individuellen giebt. Von diesem Standpuncte aus ge- 
sehen, erscheint der Aberglaube immer als ein Fort- 
schritt gegen den Glauben und als Zeichen dafür, dass 
der Intellect unabhängiger wird und sein Recht haben 
will. Ueber Corruption klagen dann die Verehrer der 
alten Religion und Religiosität, — sie haben bisher 
auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglau- 
ben eine üble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern 
gemacht. Lernen wir, dass er ein Sympton der Auf- 
klärung ist. — Zweitens beschuldigt man eine Gesell- 
schaft, in der die Corruption Platz greift, der Er- 
schlaffung: und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung 
des Krieges und die Lust am Kriege ab, und die 
Bequemlichkeiten des Lebens werden jetzt eben so heiss 
erstrebt, wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen 
Ehren. Aber man pflegt zu übersehen, dass jene alte 
Volks -Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch 
den Krieg und die Kampfspiele eine prachtvolle Sicht- 
barkeit bekam, jetzt sich in unzählige Privat -Leiden- 
schaften umgesetzt hat und nur weniger sichtbar ge- 
worden ist; ja, wahrscheinlich ist in Zuständen der 
„Corruption" die Macht und Gewalt der jetzt verbrauch- 
ten Energie eines Volkes grösser, als je, und das In- 
dividuum giebt so verschwenderisch davon aus, wie es 
ehedem nicht konnte, — es war damals noch nicht reich 
genug dazu! Und so sind es gerade die Zeiten der 



— 55 - 

„Erschlaffung", wo die Tragödie durch die Häuser und 
Gassen läuft, wo die grosse Liebe und der grosse Hass 
geboren werden, und die Flamme der Erkenntniss 
lichterloh zum Himmel aufschlägt. — Drittens pflegt 
man, gleichsam zur Entschädigung für den Tadel des 
Aberglaubens und der Erschlaffung, solchen Zeiten der 
Corruption nachzusagen, dass sie milder seien und dass 
jetzt die Grausamkeit, gegen die ältere gläubigere und 
stärkere Zeit gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber 
auch dem Lobe kann ich nicht beipflichten, ebenso- 
wenig als jenem Tadel: nur so viel gebe ich zu, dass 
jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und dass ihre 
älteren Formen von nun an wider den Geschmack 
gehen; aber die Verwundung und Folterung durch Wort 
und Blick erreicht in Zeiten der Corruption ihre höchste 
Ausbildung, — jetzt erst wird die Bosheit geschaffen 
und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Cor- 
ruption sind witzig und verläumderisch ; sie wissen, dass 
es noch andere Arten des Mordes giebt, als durch Dolch 
und Ueberfall, — sie wissen auch, dass alles Gut- 
gesagte geglaubt wird. — Viertens: wenn „die Sitten 
verfallen", so tauchen zuerst jene Wesen auf, welche 
man Tyrannen nennt: es sind die Vorläufer und gleich- 
sam die frühreifen Erstlinge der Individuen. Noch 
eine kleine Weile: und diese Frucht der Früchte hängt reif 
und gelb am Baume eines Volkes, — und nur um dieser 
Früchte willen gab es diesen Baum! Ist der Verfall auf 
seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen 
ebenfalls, so kommt dann immer der Cäsar, der Schluss- 
Tyrann, der dem ermüdeten Ringen um Alleinherrschaft 
ein Ende macht, indem er die Müdigkeit für sich arbeiten 
lässt. Zu seiner Zeit ist gewöhnlich das Individuum am 



 



- 56 - 



reifsten und folglich die „Cultur" am höchsten und 
fruchtbarsten, aber nicht um seinetwillen und nicht durch 
ihn: obwohl die höchsten Cultur-Menschen ihrem Cäsar 
damit zu schmeicheln lieben, dass sie sich als sein 
Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, dass sie Ruhe 
von Aussen nöthig haben, weil sie ihre Unruhe und 
Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten ist die Bestech- 
lichkeit und der Verrath am grössten: denn die Liebe 
zu dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel mäch- 
tiger, als die Liebe zum alten, verbrauchten, todtge- 
redeten „Vaterlande"; und das Bedürfniss, sich irgend- 
wie gegen die furchtbaren Schwankungen des Glückes 
sicherzustellen, öffnet auch edlere Hände, sobald ein 
Mächtiger und Reicher sich bereit zeigt, Gold in sie zu 
schütten. Es giebt jetzt so wenig sichere Zukunft: da 
lebt man für heute: ein Zustand der Seele, bei dem 
alle Verführer ein leichtes Spiel spielen, — man lässt 
sich nämlich auch nur „für heute" verfuhren und be- 
stechen und behält sich die Zukunft und die Tugend 
vor! Die Individuen, diese wahren An- und Für-sich's, 
sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick, als ihre 
Gegensätze, die Heerden-Menschen, weil sie sich selber 
für ebenso unberechenbar halten wie die Zukunft; 
ebenso knüpfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, 
weil sie sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, 
die bei der Menge weder auf Verständniss noch auf 
Gnade rechnen können, — aber der Tyrann oder Cäsar 
versteht das Recht des Individuums auch in seiner 
Ausschreitung und hat ein Interesse daran, einer küh- 
neren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die 
Hand zu bieten. Denn er denkt von sich und will über 
sich gedacht haben, was Napoleon einmal in seiner 



 



57 - 

classischen Art und Weise ausgesprochen hat: „ich habe 
das Recht, auf Alles, worüber man gegen mich Klage 
führt, durch ein ewiges „Das -bin -ich" zu antworten. 
Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von Nie- 
mandem Bedingungen an. Ich will, dass man sich auch 
meinen Phantasieen unterwerfe und es ganz einfach finde, 
wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hin- 
gebe. 41 So sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, 
als diese Gründe hatte, die eheliche Treue ihres Gatten 
in Frage zu ziehen. — Die Zeiten der Corruption sind 
die, in welchen die Aepfel vom Baume fallen : ich meine 
die Individuen, die Samenträger der Zukunft, die Ur- 
heber der geistigen Colonisation und Neubildung von 
Staats- und Gesellschaftsverbänden. Corruption ist nur 
ein Schimpfwort für die Herbstzeiten eines Volkes. 

24. 

Verschiedene Unzufriedenheit. — Die 
schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriedenen 
sind die Erfindsamen für die Verschönerung und Ver- 
tiefung des Lebens, die starken Unzufriedenen — die 
Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben — für 
Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die Ersteren 
zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, dass sie 
sich gerne zeitweilig täuschen lassen und wohl schon 
mit ein Wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb 
nehmen, aber im Ganzen nie zu befriedigen sind und 
an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit leiden; über- 
diess sind sie die Förderer aller Derer, welche opiatische 
und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und 
eben darum Jenen gram, die den Arzt höher als den 
Priester schätzen, — dadurch unterhalten sie die Fort- 



 



dauer der wirklichen Nothstände! Hätte es nicht seit 
den Zeiten des Mittelalters eine Ueberzahl von Unzu- 
friedenen dieser Art in Europa gegeben, so würde 
vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit zur be- 
ständigen Verwand elung gar nicht entstanden sein: 
denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu 
grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht endlich 
einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China 
ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit 
im Grossen und die Fähigkeit der Verwandelung seit 
vielen Jahrhunderten ausgestorben ist; und die Socialisten 
und Staats-Götzendiener Europa's könnten es mit ihren 
Maassregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens 
auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und 
einem chinesischen „Glücke" bringen, vorausgesetzt, 
dass sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weib- 
lichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Un- 
zufriedenheit und Romantik ausrotten könnten. Europa 
ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und ewigen 
Verwandelung seines Leidens den höchsten Dank schuldig 
ist; diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso be- 
ständigen neuen Gefahren, Schmerzen und Auskunfts- 
mittel haben zuletzt eine intellectuale Reizbarkeit er- 
zeugt, welche beinahe so viel, als Genie, und jedenfalls 
die Mutter alles Genies ist. 

25- 

Nicht zur Erkenntniss vorausbestimmt. — 
Es giebt eine gar nicht seltene blöde Demüthigkeit, 
mit der behaftet man ein für alle Mal nicht zum Jünger 
der Erkenntniss taugt. Nämlich: in dem Augenblick, 
wo ein Mensch dieser Art etwas Auffalliges wahr- 



- 59 - 

nimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fusse um und 
sagt sich: „Du hast dich getäuscht! Wo hast du deine 
Sinne gehabt! Diess darf nicht die Wahrheit sein! 44 — 
und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hin- 
zuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auffalligen 
Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie 
möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein innerlicher 
Kanon nämlich lautet: „Ich will Nichts sehen, was der 
üblichen Meinung über die Dinge widerspricht! Bin 
ich dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdecken? Es 
giebt schon der alten zu viele." 

26. 

Was heisst Leben? — Leben — das heisst: fort- 
während Etwas von sich abstossen, das sterben will; 
Leben — das heisst: grausam und unerbittlich gegen 
Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur 
an uns, wird. Leben — das heisst also: ohne Pietät 
gegen Sterbende, Elende und Greise sein? Immerfort 
Mörder sein? — Und doch hat der alte Moses gesagt: 
„Du sollst nicht tödten!" 

27. 

Der Entsagende. — Was thut der Entsagende? 
Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und 
ferner und höher fliegen, als alle Menschen der Be- 
jahung, — er wirft Vieles weg, was seinen Flug be- 
schweren würde, und Manches darunter, was ihm nicht 
unwerth, nicht unliebsam ist: er opfert es seiner Be- 
gierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist 
nun gerade Das, was allein sichtbar an ihm wird: dar- 
nach giebt man ihm den Namen des Entsagenden, und 
als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze 



 



- 60 



und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem 
Effecte, den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrie- 
den: er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine 
Absicht, über uns hinauszufliegen, verborgen halten. — 
Ja! Er ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen 
uns — dieser Bejahende! Denn das ist er gleich uns, 
auch indem er entsagt. 

28. 

Mit seinem Besten schaden. — Unsere Stärken 
treiben uns mitunter so weit vor, dass wir unsere 
Schwächen nicht mehr aushalten können und an ihnen 
zu Grunde gehen: wir sehen auch wohl diesen Ausgang 
voraus und wollen es trotzdem nicht anders. Da werden 
wir hart gegen Das an uns, was geschont sein will, und 
unsere Grösse ist auch unsere Unbarmherzigkeit. — 
Ein solches Erlebniss, das wir zuletzt mit dem Leben 
bezahlen müssen, ist ein Gleichniss für das gesammte 
Wirken grosser Menschen auf Andere und auf ihre Zeit : 
— gerade mit ihrem Besten, mit dem, was nur sie kön- 
nen, richten sie viele Schwache, Unsichere, Werdende, 
Wollende zu Grunde, und sind hierdurch schädlich. Ja 
es kann der Fall vorkommen, dass sie, im Ganzen ge- 
rechnet, nur schaden, weil ihr Bestes allein von Solchen 
angenommen und gleichsam aufgetrunken wird, welche 
an ihm, wie an einem zu starken Getränke, ihren Ver- 
stand und ihre Selbstsucht verlieren: sie werden so 
berauscht, dass sie ihre Glieder auf allen, den Irrwegen 
brechen müssen, wohin sie der Rausch treibt. 

29. 

Die Hinzu-Lügner. — Als man in Frankreich 
die Einheiten des Aristoteles zu bekämpfen und folglich 



 



- 61 - 

auch zu vertheidigen anneng, da war es wieder einmal 
zu sehen, was so oft zu sehen ist, aber so ungern ge- 
sehen wird: — man log sich Gründe vor, um derent- 
halben jene Gesetze bestehen sollten, blos um sich nicht 
einzugestehen, dass man sich an die Herrschaft dieser 
Gesetze gewöhnt habe und es nicht mehr anders 
haben wolle. Und so macht man es innerhalb jeder 
herrschenden Moral und Religion und hat es von jeher 
gemacht: die Gründe und die Absichten hinter der Ge- 
wohnheit werden immer zu ihr erst hinzugelogen, wenn 
Einige anfangen, die Gewohnheit zu bestreiten und nach 
Gründen und Absichten zu fragen. Hier steckt die 
grosse Unehrlichkeit der Conservativen aller Zeiten: 
— es sind die Hinzu -Lügner. 

30. 

Komödienspiel der Berühmten. — Berühmte 
Männer, welche ihren Ruhm nöthig haben, wie zum 
Beispiel alle Politiker, wählen ihre Verbündeten und 
Freunde nie mehr ohne Hintergedanken: von diesem 
wollen sie ein Stück Glanz und Abglanz seiner Tugend, 
von jenem das Furchteinflössende gewisser bedenklicher 
Eigenschaften, die Jedermann an ihm kennt, einem andern 
stehlen sie den Ruf seines Müssigganges, seines In-der- 
Sonne-liegens, weil es ihren eigenen Zwecken frommt, 
zeitweilig für unachtsam und träge zu gelten: — es ver- 
deckt, dass sie auf der Lauer liegen; bald brauchen sie 
den Phantasten, bald den Kenner, bald den Grübler, 
bald den Pedanten in ihrer Nähe und gleichsam als ihr 
gegenwärtiges Selbst, aber eben so bald brauchen sie 
dieselben nicht mehr! Und so sterben fortwährend ihre 
Umgebungen und Aussenseiten ab, während Alles sich 



 



- 62 - 

in diese Umgebung zu drängen scheint und zu ihrem 
„Charakter" werden will: darin gleichen sie den grossen 
Städten. Ihr Ruf ist fortwährend im Wandel wie ihr 
Charakter, denn ihre wechselnden Mittel verlangen diesen 
Wechsel, und schieben bald diese, bald jene wirkliche 
oder erdichtete Eigenschaft hervor und auf die Bühne 
hinaus: ihre Freunde und Verbündeten gehören, wie 
gesagt, zu diesen Bühnen-Eigenschatten. Dagegen muss 
Das, was sie wollen, um so mehr fest und ehern und 
weithin glänzend stehen bleiben, — und auch diess hat 
bisweilen seine Komödie und sein Bühnenspiel nöthig. 

Handel und Adel. — Kaufen und verkaufen gilt 
jetzt als gemein, wie die Kunst des Lesens und Schrei- 
bens; Jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er 
kein Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage 
in dieser Technik: ganz wie ehemals, im Zeitalter der 
wilderen Menschheit, Jedermann Jäger war und sich Tag 
für Tag in der Technik der Jagd übte. Damals war die 
Jagd gemein: aber wie diese endlich ein Privilegium 
der Mächtigen und Vornehmen wurde und damit den 
Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor — 
dadurch, dass sie aufhörte noth wendig zu sein und eine 
Sache der Laune und des Luxus wurde: — so könnte 
es irgendwann einmal mit dem Kaufen und Verkaufen 
werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, 
wo nicht verkauft und gekauft wird und wo die Not- 
wendigkeit dieser Technik allmählich ganz verloren geht: 
vielleicht, dass dann Einzelne, welche dem Gesetze des 
allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich 
dann das Kaufen und Verkaufen wie einen Luxus der 



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Empfindung erlauben. Dann erst bekäme der Handel 
Vornehmheit, und die Adeligen würden sich dann viel- 
leicht ebenso gern mit dem Handel abgeben, wie bisher 
mit dem Kriege und der Politik: während umgekehrt 
die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert 
haben könnte. Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk 
des Edelmannes zu sein: und es wäre möglich, dass 
man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich 
aller Partei- und Tageslitteratur, unter die Rubrik „Pro- 
stitution des Geistes" zu bringen. 

32. 

Unerwünschte Jünger. — Was soll ich mit diesen 
beiden Jünglingen machen! rief mit Unmuth ein Philo- 
soph, welcher die Jugend „verdarb' 4 , wie Sokrates sie 
einst verdorben hat, — es sind mir unwillkommene 
Schüler. Der da kann nicht Nein sagen und Jener sagt 
zu Allem: „Halb und halb. 44 Gesetzt, sie ergriffen meine 
Lehre, so würde der Erstere zu viel leiden, denn meine 
Denkweise erfordert eine kriegerische Seele, ein Wehe- 
thun-Wollen, eine Lust am Neinsagen, eine harte Haut, 
- er würde an offenen und inneren Wunden dahin 
siechen. Und der Andere wird sich aus jeder Sache, 
die er vertritt, eine Mittelmässigkeit zurecht machen 
und sie dergestalt zur Mittelmässigkeit machen, — einen 
solchen Jünger wünsche ich meinem Feinde. 

33- 

Ausserhalb des Hörsaales. — „Um Ihnen zu 
beweisen, dass der Mensch im Grunde zu den gutartigen 
Thieren gehört, würde ich Sie daran erinnern, wie 
leichtgläubig er so lange gewesen ist. Jetzt erst ist er, 



- 64 



ganz spät und nach ungeheurer Selbstüberwindung, ein 
misstrauisches Thier geworden, — ja! der Mensch 
ist jetzt böser als je." — Ich verstehe diess nicht: warum 
sollte der Mensch jetzt misstrauischer und böser sein? — 
„Weil er jetzt eine Wissenschaft hat, — nÖthig hat!" — 

34- 

Historia abscondita. — Jeder grosse Mensch 
hat eine rückwirkende Kraft: alle Geschichte wird um 
seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend 
Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren 
Schlupfwinkeln — hinein in seine Sonne. Es ist gar 
nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein 
wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch we- 
sentlich unentdeckt! Es bedarf noch so vieler rück- 
wirkender Kräfte! 

35- 

Ketzerei und Hexerei. — Anders denken, als 
Sitte ist — das ist lange nicht so sehr die Wirkung 
eines besseren Intellectes, als die Wirkung starker, böser 
Neigungen, loslösender, isolirender, trotziger, schaden- 
froher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das 
Seitenstück zur Hexerei und gewiss ebensowenig, als 
diese, etwas Harmloses oder gar an sich selber Ver- 
ehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei 
Gattungen böser Menschen: gemeinsam ist ihnen, dass 
sie sich auch als böse fühlen, dass aber ihre unbezwing- 
liche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder 
Meinungen), sich schädigend auszulassen. Die Refor- 
mation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen 
Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute Gewissen 
nicht mehr bei sich hatte, brachte sie beide in grösster 
Fülle hervor. 



 



- 65 - 



36. 

Letzte Worte. — Man wird sich erinnern, das» 
der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch, der 
sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schwei- 
gen konnte wie irgend ein weiser Sokrates, mit seinem 
letzten Worte indiscret gegen sich selber wurde: er 
Hess zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu ver- 
stehen gab, dass er eine Maske getragen und eine 
Komödie gespielt habe, — er hatte den Vater des Vater- 
landes und die Weisheit auf dem Throne gespielt, gut 
bis zur Illusion! Plaudite amici, comoedia finita est! — 
Der Gedanke des sterbenden Nero: qualis artifex pereo! 
war auch der Gedanke des sterbenden Augustus: Hi- 
strionen - Eitelkeit ! Histrionen - S chwatzhaf tigkeit ! Und 
recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates! — Aber 
Tiberius starb schweigsam, dieser gequälteste aller 
Selbstquäler, — der war ächt und kein Schauspieler! 
Was mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen 
sein! Vielleicht diess: „Das Leben — das ist ein langer 
Tod. Ich Narr, der ich so Vielen das Leben verkürzte! 
War ich dazu gemacht, ein Wohlthäter zu sein? Ich 
hätte ihnen das ewige Leben geben sollen: so hätte ich 
sie ewig sterben sehen können. Dafür hatte ich ja 
so gute Augen: qualis spectator pereo!" Als er nach 
einem langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften zu 
kommen schien, hielt man es für rathsam, ihn mit Bett- 
kissen zu ersticken,, — er starb eines doppelten Todes. 

37- 

Aus drei Irrthümern. — Man hat in den letzten 
Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, theils weil 
man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit 

Nie tue he, Die fröhliche Wissetuchaft. 5 



 



- 66 - 

am besten zu verstehen hoffte — das Hauptmotiv in der 
Seele der grossen Engländer (wie Newton) — , theils weil 
man an die absolute Nützlichkeit der Erkenntniss glaubte, 
namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen 
und Glück — das Hauptmotiv in der Seele der grossen 
Franzosen (wie Voltaire) — , theils weil man in der Wissen- 
schaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genü- 
gendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben 
meinte, an dem die bösen Triebe des Menschen über- 
haupt nicht betheiligt seien — das Hauptmotiv in der 
Seele Spinoza's, der sich als Erkennender göttlich fühlte; 
— also aus drei Irrthümern. 

38. 

Die Explosiven. — Erwägt man, wie explosions- 
bedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert 
man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch 
sich für diese oder jene Sache entscheiden zu sehen: 
Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um 
eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der bren- 
nenden Lunte, — nicht die Sache selber. Die feineren 
Verfuhrer verstehen sich desshalb darauf, ihnen die Ex- 
plosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung 
ihrer Sache abzusehen: mit Gründen gewinnt man diese 
Pulverfässer nicht! 

39- 

Veränderter Geschmack. — Die Veränderung 
des allgemeinen Geschmackes ist mächtiger, als die der 
Meinungen; Meinungen mit allen Beweisen, Wider- 
legungen und der ganzen intellectuellen Maskerade sind 
nur Symptome des veränderten Geschmacks und ganz 
gewiss gerade Das nicht, wofür man sie noch so häufig 



 



- 67 - 

anspricht, dessen Ursachen. Wie verändert sich der 
allgemeine Geschmack? Dadurch, dass Einzelne, Mäch- 
tige, Einflussreiche ohne Schamgefühl ihr hoc est ridi- 
culum, hoc est absurdum, also das Urtheil ihres Ge- 
schmacks und Ekels, aussprechen und tyrannisch durch- 
setzen: — sie legen damit Vielen einen Zwang auf, aus 
dem allmählich eine Gewöhnung noch Mehrerer und zu- 
letzt einBedürfniss Aller wird. Dass diese Einzelnen 
aber anders empfinden und „schmecken", das hat ge- 
wöhnlich seinen Grund in einer Absonderlichkeit ihrer 
Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem 
Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem 
.Blute und Gehirn, kurz in der Physis: sie haben aber 
den Muth, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren 
Forderungen noch in ihren feinsten Tonen Gehör zu 
schenken: ihre ästhetischen und moralischen Urtheile 
sind solche „feinste Töne" der Physis. 

40. 

Vom Mangel der vornehmen Form. — Soldaten 
und Führer haben immer noch ein viel höheres Ver- 
halten zu einander, als Arbeiter und Arbeitgeber. Einst- 
weilen wenigstens steht alle militärisch begründete Cultur 
noch hoch über aller sogenannten industriellen Cultur: 
letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die ge- 
meinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier 
wirkt einfach das Gesetz der Noth: man will leben und 
muss sich verkaufen, aber man verachtet Den , der diese 
Noth ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist selt- 
sam, dass die Unterwerfung unter mächtige, furcht- 
erregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen 
und Heerführer, bei Weitem nicht so peinlich empfunden 

5' 



 



- 68 - 

wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und un- 
interessante Personen, wie es alle Grössen der Industrie 
sind: in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich 
nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Noth specu- 
lirenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, 
Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabri- 
canten und Gross-Unternehmern des Handels fehlten 
bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und 
Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Per- 
sonen interessant werden lassen; hätten sie die Vor- 
nehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Ge- 
bärde, so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der 
Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Scla- 
verei jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über 
ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen ge- 
boren legitimirt — durch die vornehme Form! Der 
gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu 
improvisiren ist und dass er in ihr die Frucht langer 
Zeiten zu ehren hat, — aber die Abwesenheit der höheren 
Form und die berüchtigte Fabricanten-Vulgarität mit 
rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, 
dass nur Zufall und Glück hier den Einen über den 
Andern erhoben habe: wohlan, so schliesst er bei sich, 
versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen 
wir einmal die Würfel! — - und der Socialismus beginnt. 

4». 

Gegen die Reue. — Der Denker sieht in seinen 
eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgend worüber 
Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm 
zu allererst Antworten. Sich aber darüber, dass Etwas 
missräth, ärgern oder gar Reue empfinden — das über- 



 



- 69 - 

lässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen 
wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der 
gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist. 

42. 

Arbeit und Langeweile. — Sich Arbeit suchen 
um des Lohnes willen — darin sind sich in den Ländern 
der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen 
allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; 
wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, 
vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn ab- 
wirft. Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber 
zu Grunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit 
arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, 
denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, 
wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne 
ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören 
die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch 
schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf 
Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. 
Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust 
verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn 
es sein muss. Sonst aber sind sie von einer entschlos- 
senen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, 
Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Träg- 
heit geknüpft sein sollte. Sie furchten die Langeweile 
nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben 
viel Langeweile nöthig, wenn ihnen ihre Arbeit ge- 
lingen soll. Für den Denker und für alle erfmdsamen 
Geister ist Langeweile jene unangenehme „Windstille" 
der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen 
Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre 



 



- 70 - 



Wirkung bei sich abwarten: — das gerade ist es, 
was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich 
erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich 
scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein 
ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Euro- 
päern aus, dass sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig 
sind, als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam 
und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen 
Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols. 

43- 

Was die Gesetze verrathen. — Man vergreift 
sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes stu- 
dirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären; 
die Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, son- 
dern Das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, aus- 
ländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die 
Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte; und die härtesten 
Strafen treffen Das, was der Sitte des Nachbarvolkes 
gemäss ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei 
Todsünden: einen anderen Gott haben als den Waha- 
biten-Gott und — rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet 
als „die schmachvolle Art des Trinkens"). „Und wie 
steht es mit Mord und Ehebruch?" — fragte erstaunt 
der Engländer, der diese Dinge erfuhr. „Nun, Gott 
ist gnädig und barmherzig!" — sagte der alte Häupt- 
ling. — So gab es bei den alten Römern die Vorstel- 
lung, dass ein Weib sich nur auf zweierlei Art tödtlich 
versündigen könne: einmal durch Ehebruch, sodann — 
durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe 
das Küssen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte 
gemacht, um die Weiber in diesem Puncte unter Con- 



 



- 71 - 

trole zu halten; ein Kuss bedeute: riecht sie nach Wein? 
Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wur- 
den, mit dem Tode gestraft: und gewiss nicht nur, weil 
die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines 
alles Nein-Sagen verlernen; die Römer fürchteten vor 
Allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem 
die Weiber des europäischen Südens damals, als der 
Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heim- 
gesucht wurden, als eine ungeheuerliche Ausländerei, 
welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; 
es war ihnen wie ein Verrath an Rom, wie die Ein- 
verleibung des Auslandes. 

44. 

Die geglaubten Motive. — So wichtig es sein 
mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die 
Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der 
Glaube an diese oder jene Motive, also Das, was die 
Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres 
Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas 
noch Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere 
Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je 
nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil 
geworden, — nicht aber durch Das, was wirklich Motiv 
war! Alles diess Letztere hat ein Interesse zweiten 
Ranges. 

45. 

Epikur. — Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter 
Epikur's anders zu empfinden, als irgend Jemand viel- 
leicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese, 
das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen: 
— ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer 



 



— 72 - 

blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, 
während grosses und kleines Gethier in ihrem Lichte 
spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge 
selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Lei- 
dender erfinden können, das Glück eines Auges, vor 
dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das 
nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, 
schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen 
kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der 
Wollust. 

46. 

Unser Erstaunen. — Es liegt ein tiefes und gründ- 
liches Glück darin, dass die Wissenschaft Dinge ermittelt, 
die Stand halten und die immer wieder den Grund 
zu neuen Ermittelungen abgeben : — es könnte ja anders 
seinl Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und 
Phantasterei unserer Urtheile und von dem ewigen 
Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe über- 
zeugt, dass es uns eigentlich ein Erstaunen macht, wie 
sehr die Ergebnisse der Wissenschaft Stand halten! 
Früher wusste man Nichts von dieser Wandelbarkeit 
alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den 
Glauben aufrecht, dass das ganze innere Leben des 
Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Not- 
wendigkeit geheftet sei: — vielleicht empfand man 
damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man 
sich Märchen und Feengeschichten erzählen Hess. Das 
Wunderbare that jenen Menschen so wohl, die der Regel 
und der Ewigkeit mitunter wohl müde werden mochten. 
Einmal den Boden verlieren I Schweben! Irren! Toll 
sein! — das gehörte zum Paradies und zur Schwelgerei 
früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des 



 



— 73 — 



Schiffbrüchigen gleicht, der an's Land gestiegen ist und 
mit beiden Füssen sich auf die alte feste Erde stellt — 
staunend, dass sie nicht schwankt 

47- 

Von der Unterdrückung der Leidenschaften.— 
Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leiden- 
schaften verbietet, wie als etwas den „Gemeinen", den 
gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Ueber- 
lassendes, — also nicht die Leidenschaften selber unter- 
drücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: 
so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das mit, was 
man nicht will: die Unterdrückung der Leidenschaften 
selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung: 
— wie diess zum belehrendsten Beispiele der Hof Lud- 
wig's des Vierzehnten und Alles, was von ihm abhängig 
war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der 
Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften 
selber nicht mehr und ein anmuthiges, flaches, spielendes 
Wesen an ihrer Stelle, — ein Zeitalter, das mit der Un- 
fähigkeit behaftet war, unartig zu sein: sodass selbst 
eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen 
Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Viel- 
leicht giebt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegen- 
stück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und auf dem 
Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrie- 
ben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Aus- 
brüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt 
eine gewisse Convention der Leidenschaftlichkeit ver- 
langt, — nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem 
wird man sie damit zuletzt erreichen, und unsere Nach- 
kommen werden eine ächte Wildheit haben und nicht 
nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen. 



 



- 74 - 



48. 

Kenntniss der Noth. — Vielleicht werden die 
Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander 
geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kennt- 
niss der Noth, den sie haben: Noth der Seele wie des 
Leibes. In Bezug auf letztere sind wir Jetzigen vielleicht 
allesammt, trotz unserer Gebrechen und Gebrechlich- 
keiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stümper 
und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeit- 
alter der Furcht — dem längsten aller Zeitalter — , wo 
der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte 
und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein 
musste. Damals machte ein Mann seine reiche Schule 
körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und be- 
griff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, 
in einer freiwilligen Uebung des Schmerzes, ein ihm 
nothwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog 
man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, 
damals fugte man gern Schmerz zu und sah das Furcht- 
barste dieser Art über Andere ergehen , ohne ein anderes 
Gefühl, als das der eigenen Sicherheit. Was die Noth 
der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden 
Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Be- 
schreibung kennt; ob er diese Kenntniss zu heucheln 
doch noch für nöthig hält, etwa als ein Zeichen der 
feineren Bildung, oder ob er überhaupt an grosse Seelen- 
schmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es 
ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht, wie bei Nen- 
nung grosser körperlicher Erduldungen : wobei ihm seine 
Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint 
es mir bei den Meisten jetzt zu stehen. Aus der all- 
gemeinen Üngeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und 



 



- 75 — 

einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden 
ergiebt sich nun eine wichtige Folge: man hasst jetzt 
den Schmerz viel mehr, als frühere Menschen, und redet 
ihm viel übler nach als je, ja, man findet schon das Vor- 
handensein des Schmerzes als eines Gedankens kaum 
erträglich und macht dem gesammten Dasein eine Ge- 
wissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen 
pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merk- 
mal grosser, furchtbarer Nothstande; sondern diese Frage- 
zeichen am Werthe alles Lebens werden in Zeiten ge- 
macht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Da- 
seins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele 
und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet 
und in der Armuth an wirklichen Schmerz-Erfahrungen 
am liebsten schon quälende allgemeine Vorstel- 
lungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen 
möchte. — Es gäbe schon ein Recept gegen pessi- 
mistische Philosophien und die übergrosse Empfindlich- 
keit, welche mir die eigentliche „Noth der Gegenwart" 
zu sein scheint: — aber vielleicht klingt diess Recept 
schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen 
gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt ur- 
theilt: „Das Dasein ist etwas Böses". Nun! Das Recept 
gegen „die Noth" lautet: Noth. 

49. 

Grossmuth und Verwandtes. — Jene paradoxen 
Erscheinungen, wie die plötzliche Kälte im Benehmen 
des Gemüthsmenschen, wie der Humor des Melancho- 
likers, wie vor Allem die Grossmuth, als eine plötz- 
liche Verzichtleistung auf Rache oder Befriedigung des 
Neides — treten an Menschen auf, in denen eine mäch- 



 



- 76 - 

tige innere Schleuderkraft ist, an Menschen der plötz- 
lichen Sättigung und des plötzlichen Ekels. Ihre Be- 
friedigungen sind so schnell und so stark, dass diesen 
sofort Ueberdruss und Widerwille und eine Flucht in 
den entgegengesetzten Geschmack auf dem Fusse folgt: 
in diesem Gegensätze löst sich der Krampf der Em- 
pfindung aus, bei Diesem durch plötzliche Kälte, bei 
Jenem durch Gelächter, bei einem Dritten durch Thränen 
und Selbstaufopferung. Mir erscheint der Grossmüthige 
— wenigstens jene Art des Grossmüthigen, die immer 
am meisten Eindruck gemacht hat — als ein Mensch 
des äussersten Rachedurstes, dem eine Befriedigung 
sich in der Nähe zeigt und der sie so reichlich, gründlich 
und bis zum letzten Tropfen schon in der Vorstel- 
lung austrinkt, dass ein ungeheurer schneller Ekel dieser 
schnellen Ausschweifung folgt, — er erhebt sich nunmehr 
„über sich", wie man sagt, und verzeiht seinem Feinde, 
ja segnet und ehrt ihn. Mit dieser Vergewaltigung 
seiner selber, mit dieser Verhöhnung seines eben noch 
so mächtigen Rachetriebes giebt er aber nur dem neuen 
Triebe nach, der eben jetzt in ihm mächtig geworden 
ist (dem Ekel), und thut diess ebenso ungeduldig und 
ausschweifend wie er kurz vorher die Freude an der 
Rache mit der Phantasie vorwegnahm und gleichsam 
ausschöpfte. Es ist in der Grossmuth der selbe Grad 
von Egoismus wie in der Rache, aber eine andere Qua- 
lität des Egoismus. 

50. 

Das Argument der Vereinsamung. — Der Vor- 
wurf des Gewissens ist auch beim Gewissenhaftesten 
schwach gegen das Gefühl: „Diess und Jenes ist wider 
die gute Sitte deiner Gesellschaft." Em kalter Bfick, 



 



— 77 — 



ein verzogener Mund von Seiten Derer, unter denen und 
für die man erzogen ist, wird auch vom Stärksten noch 
gefürchtet. Was wird da eigentlich gefürchtet? Die 
Vereinsamung! als das Argument, welches auch die 
besten Argumente für eine Person oder Sache nieder- 
schlägt! — So redet der Heerden-Instinct aus uns. 

Wahrheitssinn. — Ich lobe mir eine jede Skepsis, 
auf welche mir erlaubt ist zu antworten: „Versuchen 
wir's!" Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, 
welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. 
Diess ist die Grenze meines „Wahrheitssinnes": denn 
dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren. 

52. 

Was Andere von uns wissen. — Das, was wir 
von uns selber wissen und im Gedächtniss haben, ist 
für das Glück unseres Lebens nicht so entscheidend, 
wie man glaubt. Eines Tages stürzt Das, was Andere 
von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her 
— und jetzt erkennen wir, dass es das Mächtigere ist. 
Man wird mit seinem schlechten Gewissen leichter fertig, 
als mit seinem schlechten Rufe. 

53. 

Wo das Gute beginnt. — Wo die geringe Seh- 
kraft des Auges den bösen Trieb wegen seiner Ver- 
feinerung nicht mehr als solchen zu sehen vermag, da 
setzt der Mensch das Reich des Guten an, und die Em- 
pfindung, nunmehr in's Reich des Guten übergetreten 
zu sein, bringt alle die Triebe in Miterregung, welche 
durch die bösen Triebe bedroht und eingeschränkt waren, 



- 78 



wie das Gefiihl der Sicherheit, des Behagens, des Wohl- 
wollens. Also: je stumpfer das Auge, desto weiter reicht 
das Gute! Daher die ewige Heiterkeit des Volkes und 
der Kinder! Daher die Düsterkeit und der dem schlechten 
Gewissen verwandte Gram der grossen Denker! 

54- 

Das Bewusstsein vom Scheine. — Wie wunder- 
voll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch 
fühle ich mich mit meiner Erkenntniss zum gesammten 
Dasein gestellt! Ich habe für mich entdeckt, dass die 
alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit 
und Vergangenheit alles empfindenden Seins in mir 
fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst , — ich 
bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber 
nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass 
ich weiterträumen muss, um nicht zu Grunde zu gehen: 
wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht 
hinabzustürzen. Was ist mir jetzt „Schein"! Wahrlich 
nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, — was weiss 
ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur 
die Prädicate seines Scheines! Wahrlich nicht eine todte 
Maske, die man einem unbekannten aufsetzen und auch 
wohl abnehmen könnte! Schein ist für mich das Wir- 
kende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbst- 
verspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein 
und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, — dass 
unter allen diesen Träumenden auch ich, der „Erken- 
nende", meinen Tanz tanze, dass der Erkennende ein 
Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen 
und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, 
und dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit 



 



- 79 - 



aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und 
sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die 
Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter ein- 
ander und eben damit die Dauer des Traumes auf- 
recht zu erhalten. 

55- 

Der letzte Edelsinn. — Was macht denn „edel"? 
Gewiss nicht, dass man Opfer bringt; auch der rasend 
Wollüstige bringt Opfer. Gewiss nicht, dass man über- 
haupt einer Leidenschaft folgt; es giebt verächtliche 
Leidenschaften. Gewiss nicht, dass man für Andere 
Etwas thut und ohne Selbstsucht: vielleicht ist die Con- 
sequenz der Selbstsucht gerade bei dem Edelsten am 
grössten. — Sondern dass die Leidenschaft, die den 
Edeln befällt, eine Sonderheit ist, ohne dass er um 
diese Sonderheit weiss: der Gebrauch eines seltenen 
und singulären Maassstabes und beinahe eine Verrückt- 
heit: das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich für 
alle Anderen kalt anfühlen: ein Errathen von Werthen, 
für die die Wage noch nicht erfunden ist: ein Opfer- 
bringen auf Altären, die einem unbekannten Gotte ge- 
weiht sind: eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre: 
eine Selbstgenügsamkeit, welche Ueberfluss hat und an 
Menschen und Dinge mittheilt. Bisher war es also das 
Seltene und die Unwissenheit um diess Seltensein, was 
edel machte. Dabei erwäge man aber, dass durch 
diese Richtschnur alles Gewöhnte, Nächste und Unent- 
behrliche, kurz, das am meisten Arterhaltende, und 
überhaupt die Regel in der bisherigen Menschheit, 
unbillig beurtheilt und im Ganzen verleumdet worden 
ist, zu Gunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel 
werden — das könnte vielleicht die letzte Form und 



 



- 80 - 

Feinheit sein, in welcher der Edelsinn auf Erden sich 
offenbart. 

56. 

Die Begierde nach Leiden. — Denke ich an 
die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen 
junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche 
alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen 
können, — so begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, 
Etwas zu leiden, sein muss, um aus ihrem Leiden einen 
probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. 
Noth ist nöthig! Daher das Geschrei der Politiker, daher 
die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „Noth- 
stände" aller möglichen Classen und die blinde Bereit- 
willigkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt ver- 
langt, von Aussen her solle — nicht etwa das Glück 
— sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden; 
und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein 
Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit 
einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Noth- 
süchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber 
wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden 
sie auch verstehen, von Innen her sich eine eigene, 
selbsteigene Noth zu schaffen. Ihre Erfindungen könn- 
ten dann feiner sein und ihre Befriedigungen könnten 
wie gute Musik klingen: während sie jetzt die Welt mit 
ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit 
dem Nothgefühle anfüllen! Sie verstehen mit sich 
Nichts anzufangen — und so malen sie das Unglück 
Anderer an die Wand: sie haben immer Andere nöthig! 
Und immer wieder andere Andere! — Verzeihung, 
meine Freunde, ich habe gewagt, mein Glück an die 
Wand zu malen. 



 



Zweites Buch. 

< 



Nie tische, Die fröhliche Wissenschaft. 6 



 



 



57- 

An die Realisten. — Ihr nüchternen Menschen, 
die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei ge- 
wappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath 
aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch 
Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, 
so sei sie wirklich beschaffen: vor euch allein stehe die 
Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht 
der beste Theil davon, — oh ihr geliebten Bilder von 
Sais! Aber seid nicht auch ihr in eurem entschleiertsten 
Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle 
Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch 
einem verliebten Künstler allzu ähnlich? — und was ist 
für einen verliebten Künstler „Wirklichkeit"! Immer 
noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch 
herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten 
früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben! Immer 
noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unver- 
tilgbare Trunkenheit einverleibt! Eure Liebe zur „Wirk- 
lichkeit" zum Beispiel — oh das ist eine alte uralte 
„Liebe"! In jeder Empfindung, in jedem Sinneseindruck 
ist ein Stück dieser alten Liebe : und ebenso hat irgend 
eine Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine 
Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles! 
daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg! Da jene 
Wolke! Was ist denn daran „wirklich"? Zieht einmal 

das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon 

6* 



 



- 84 - 

ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet! Wenn 
ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen 
könntet, — eure gesammte Menschheit und Thierheit! 
Es giebt für uns keine „Wirklichkeit" — und auch für 
euch nicht, ihr Nüchternen — , wir sind einander lange 
nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser 
guter Wille, über die Trunkenheit hinauszukommen, 
ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit über- 
haupt unfähig zu sein. 

58. 

Nur als Schaffende 1 — Diess hat mir die grösste 
Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die grösste 
Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, 
wie die Dinge heissen, als was sie sind. Der Ruf, . 
Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass 
und Gewicht eines Dinges — im Ursprünge zuallermeist 
ein Irrthum und eine Willkürlichkeit, den Dingen über- 
geworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst 
seiner Haut ganz fremd — ist durch den Glauben daran 
und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht 
dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen 
und zu seinem Leibe selber geworden: der Schein von 
Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und 
wirkt als Wesen! Was wäre das für ein Narr, der da 
meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebel- 
hülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft 
geltende Welt, die sogenannte „Wirklichkeit", zu 
vernichten! Nur als Schaffende können wir vernich- 
ten! — Aber vergessen wir auch diess nicht: es genügt, 
neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten 
zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge" zu 
schaffen. 



 



— 85 - 



59- 

Wir Künstler! — Wenn wir ein Weib lieben, so 
haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der 
widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes 
Weib ausgesetzt ist; gerne denken wir überhaupt daran 
vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge 
streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, 
verächtlich nach der Natur hin: — wir sind beleidigt, 
die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit 
den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren 
zu gegen alle Physiologie und decretirt für sich ins- 
geheim „ich will davon, dass der Mensch noch etwas 
Anderes ist, ausser Seele und Form, Nichts hören!" 
„Der Mensch unter der Haut" ist allen Liebenden ein 
Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. 
— Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfindet, in 
Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehe- 
dem jeder Verehrer Gottes und seiner „heiligen All- 
macht' 4 : bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, 
durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Aerzte, sah 
er einen Eingriff" in seinen köstlichsten Besitz und folg- 
lich einen Angriff, — und noch dazu eine Schamlosig- 
keit des Angreifenden! Das „Naturgesetz" klang ihm 
schon wie eine Verleumdung Gottes; im Grunde hätte 
er gar zu gerne alle Mechanik auf moralische Willens- 
und Willküracte zurückgeführt gesehn: — aber weil 
ihm Niemand diesen Dienst erweisen konnte, so ver- 
hehlte er sich die Natur und Mechanik, so gut er 
konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen von 
ehedem haben verstanden zu träumen und hatten nicht 
erst nöthig, einzuschlafen! — und auch wir Menschen 
von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem 



 



- 86 — 

unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage! 
Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt 
zu empfinden, — sofort kommt der Geist und die Kraft 
des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges 
und kalt gegen alle Gefahr auf den gefahrlichsten 
Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der 
Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren 
zum Klettern — wir Nachtwandler des Tages! Wir 
Künstler! Wir Verhehler der Natürlichkeit! Wir Mond- 
und Gottsüchtigen! Wir todtenstillen unermüdlichen 
Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, 
sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten! 

60. 

Die Frauen und ihre Wirkung in die Ferne. 
Habe ich noch Ohren? Bin ich nur noch Ohr und 
Nichts weiter mehr? Hier stehe ich inmitten des Bran- 
des der Brandung, deren weisse Flammen bis zu meinem 
Fusse heraufzüngeln: — von allen Seiten heult, droht, 
schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten 
Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf 
wie ein brüllender Stier: er stampft sich dazu einen 
solchen Erderschütterer -Tact, dass selbst diesen verwet- 
terten Felsunholden hier das Herz darüber im Leibe 
zittert. Da, plötzlich, wie aus dem Nichts geboren, er- 
scheint vor dem Thore dieses höllischen Labyrinthes, 
nur wenige Klafter weit entfernt, — ein grosses Segel- 
schiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. 
Oh diese gespenstische Schönheit! Mit welchem Zauber 
fasst sie mich an! Wie? Hat alle Ruhe und Schweig- 
samkeit der Welt sich hier eingeschifft? Sitzt mein 
Glück selber an diesem stillen Platze, mein glücklicheres 



 



- 87 - 

Ich, mein zweites verewigtes Selbst? Nicht todt sein 
und doch auch nicht mehr lebend? Als ein geister- 
haftes, stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes 
Mittelwesen? Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen 
weissen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über 
das dunkle Meer hinläuft! Ja! Ueber das Dasein hin- 
laufen! Das ist es! Das wäre es! Es scheint, der 

Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht? Aller 
grosser Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille 
und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten seines 
Lärmes steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und 
Entwürfen: da sieht er auch wohl stille zauberhafte 
Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und 
Zurückgezogenheit er sich sehnt, — es sind die 
Frauen. Fast meint er, dort bei den Frauen wohne 
sein besseres Selbst: an diesen stillen Plätzen werde 
auch die lauteste Brandung zur Todtenstille und das 
Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch! 
Jedoch! Mein edler Schwärmer, es giebt auch auf dem 
schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm und 
leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm! Der Zauber 
und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die 
Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die 
Ferne, eine actio in distans: dazu gehört aber, zuerst 
und vor Allem — Distanz! 

6t. 

Zu Ehren der Freundschaft. — Dass das Ge- 
fühl der Freundschaft dem Alterthum als das höchste 
Gefühl galt, höher selbst als der gerühmteste Stolz des 
Selbstgenügsamen und Weisen, ja gleichsam als dessen 
einzige und noch heiligere Geschwisterschaft: diess drückt 



 



- 88 - 

sehr gut die Geschichte von jenem macedonischen 
Könige aus, der einem weltverachtenden Philosophen 
Athen's ein Talent zum Geschenk machte und es von 
ihm zurückerhielt. „Wie? sagte der König, hat er 
denn keinen Freund?" Damit wollte er sagen: „ich 
ehre diesen Stolz des Weisen und Unabhängigen, aber 
ich würde seine Menschlichkeit noch höher ehren, wenn 
der Freund in ihm den Sieg über seinen Stolz davon- 
getragen hätte. Vor mir hat sich der Philosoph herab- 
gesetzt, indem er zeigte, dass er eines der beiden höchsten 
Gefühle nicht kennt, — und zwar das höhere nicht!" 

62. 

Liebe. — Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar 
die Begierde. 

63. 

Das Weib in der Musik. — Wie kommt es, dass 
warme und regnerische Winde auch die musikalische 
Stimmung und die erfinderische Lust der Melodie mit 
sich führen? Sind es nicht die selben Winde, welche die 
Kirchen füllen und den Frauen verliebte Gedanken 
geben? 

64. 

Skeptiker. — Ich furchte, dass altgewordene 
Frauen im geheimsten Verstecke ihres Herzens skepti- 
scher sind, als alle Männer: sie glauben an die Ober- 
flächlichkeit des Daseins als an sein Wesen, und alle 
Tugend und Tiefe ist ihnen nur Verhüllung dieser 
„Wahrheit", die sehr wünschenswerthe Verhüllung eines 
pudendum — , also eine Sache des Anstandes und der 
Scham, und nicht mehr! 



 



— 89 — 
65- 

Hingebung. — Es giebt edle Frauen mit einer 
gewissen Armuth des Geistes, welche, um ihre tiefste 
Hingebung auszudrücken, sich nicht anders zu helfen 
wissen, als so, dass sie ihre Tugend und Scham an- 
bieten: es ist ihnen ihr Höchstes. Und oft wird diess 
Geschenk angenommen, ohne so tief zu verpflichten, 
als die Geberinnen voraussetzen, — eine sehr schwer- 
müthige Geschichte! 

66. 

Die Stärke der Schwachen. — Alle Frauen sind 
fein darin, ihre Schwäche zu übertreiben, ja sie sind 
erfinderisch in Schwächen, um ganz und gar als zer- 
brechliche Zierathen zu erscheinen, denen selbst ein 
Stäubchen wehe thut: ihr Dasein soll dem Manne seine 
Plumpheit zu Gemüthe fuhren und in's Gewissen schieben. 
So wehren sie sich gegen die Starken und alles 
„Faustrecht". 

67. 

Sich selber heucheln. — Sie liebt ihn nun und 
blickt seitdem mit so ruhigem Vertrauen vor sich hin 
wie eine Kuh: aber wehe! Gerade diess war seine Be- 
zauberung, dass sie durchaus veränderlich und unfassbar 
schien! Er hatte eben schon zu viel beständiges Wetter 
an sich selber! Sollte sie nicht gut thun, ihren alten 
Charakter zu heucheln? Lieblosigkeit zu heucheln? 
Räth ihr also nicht — die Liebe? Vivat comoedia! 

68. 

Wille und Willigkeit. — Man brachte einen 
Jüngling zu einem weisen Manne und sagte: „Siehe, 
das ist Einer, der durch die Weiber verdorben wird!" 



 



— 90 — 

Der weise Mann schüttelte den Kopf und lächelte. „Die 
Männer sind es, rief er, welche die Weiber verderben: 
und Alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern 
gebüsst und gebessert werden, — denn der Mann 
macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet 
sich nach diesem Bilde." — „Du bist zu mildherzig 
gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du 
kennst sie nicht!" Der weise Mann antwortete: „Des 
Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, — 
so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! ein 
hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind un- 
schuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschul- 
dig im zweiten Grade: wer könnte für sie des Oels und 
der Milde genug haben." — Was Oel! Was Milde! 
rief ein Anderer aus der Menge; man muss die Weiber 
besser erziehen! — „Man muss die Männer besser er- 
ziehen," sagte der weise Mann und winkte dem Jüng- 
linge, dass er ihm folge. — Der Jüngling aber folgte 
ihm nicht. 

69. 

Fähigkeit zur Rache. — Dass Einer sich nicht 
vertheidigen kann und folglich auch nicht will, gereicht 
ihm in unsern Augen noch nicht zur Schande: aber wir 
schätzen Den gering, der zur Rache weder das Ver- 
mögen noch den guten Willen hat, — gleichgültig ob 
Mann oder Weib. Würde uns ein Weib festhalten 
(oder wie man sagt „fesseln") können, dem wir nicht zu- 
trauten, dass es unter Umständen den Dolch (irgend 
eine Art von Dolch) gegen uns gut zu handhaben 
wüsste? Oder gegen sich: was in einem bestimmten 
Falle die empfindlichere Rache wäre (die chinesische 
Rache). 



 



- 91 - 



70. 

Die Herrinnen der Herren. — Eine tiefe mäch- 
tige Altstimme, wie man sie bisweilen im Theater hört, 
zieht uns plötzlich den Vorhang vor Möglichkeiten auf, 
an die wir für gewöhnlich nicht glauben: wir glauben 
mit Einem Male daran, dass es irgendwo in der Welt 
Frauen mit hohen, heldenhaften, königlichen Seelen 
geben könne, fähig und bereit zu grandiosen Entgeg- 
nungen, EntSchliessungen und Aufopferungen, fähig und 
bereit zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das 
Beste vom Manne, über das Geschlecht hinaus, zum 
leibhaften Ideale geworden ist. Zwar sollen solche 
Stimmen nach der Absicht des Theaters gerade nicht 
diesen Begriff vom Weibe geben: gewöhnlich sollen 
sie den idealen männlichen Liebhaber, zum Beispiel einen 
Romeo, darstellen; aber nach meiner Erfahrung zu ur- 
theilen, verrechnet sich dabei das Theater und der 
Musiker, der von einer solchen Stimme solche Wir- 
kungen erwartet, ganz regelmässig. Man glaubt nicht 
an diese Liebhaber: diese Stimmen enthalten immer 
noch eine Farbe des Mütterlichen und Hausfrauenhaften, 
und gerade dann am meisten, wenn Liebe in ihrem 
Klange ist. 

71. 

Von der weiblichen Keuschheit. — Es ist 
etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Er- 
ziehung der vornehmen Frauen, ja vielleicht giebt es 
nichts Paradoxeres. Alle Welt ist darüber einverstan- 
standen, sie in eroticis so unwissend wie möglich zu 
erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen 
und die äusserste Ungeduld und Flucht beim Andeuten 
dieser Dinge in die Seele zu geben. Alle „Ehre" des 



 



92 - 

Weibes steht im Grunde nur hier auf dem Spiele: was 
verziehe man ihnen sonst nicht! Aber hierin sollen sie 
unwissend bis in's Herz hinein bleiben: — sie sollen 
weder Augen, noch Ohren, noch Worte, noch Gedanken 
für diess ihr „Böses" haben: ja das Wissen ist hier schon 
das Böse. Und nun! Wie mit einem grausigen Blitz- 
schlage in die Wirklichkeit und das Wissen geschleu- 
dert werden, mit der Ehe — und zwar durch Den, 
welchen sie am meisten lieben und hochhalten: Liebe 
und Scham im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, 
Preisgebung, Pflicht, Mitleid und Schrecken über die 
unerwartete Nachbarschaft von Gott und Thier und was 
Alles sonst noch! in Einem empfinden müssen! — 
Da hat man in der That sich einen Seelen-Knoten ge- 
knüpft, der seines Gleichen sucht! Selbst die mitleidige 
Neugier des weisesten Menschenkenners reicht nicht 
aus, zu errathen, wie sich dieses und jenes Weib in 
diese Losung des Räthsels und in diess Rathsel von 
Lösung zu finden weiss, und was für schauerliche, weit- 
hin greifende Verdachte sich dabei in der armen aus 
den Fugen gerathenen Seele regen müssen, ja wie die 
letzte Philosophie und Skepsis des Weibes an diesem 
Puncte ihre Anker wirft! — Hinterher das selbe tiefe 
Schweigen wie vorher: und oft ein Schweigen vor sich 
selber, ein Augen- Zuschliessen vor sich selber. — Die 
jungen Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich 
und gedankenlos zu erscheinen; die feinsten unter ihnen 
erheucheln eine Art Frechheit. — Die Frauen empfinden 
leicht ihre Männer als ein Fragezeichen ihrer Ehre und 
ihre Kinder als eine Apologie oder Busse, — sie be- 
dürfen der Kinder und wünschen sie sich, in einem 
ganz anderen Sinne als ein Mann sich Kinder wünscht. 



 



— 93 — 

— Kurz, man kann nicht mild genug gegen die Frauen 
sein! 

72. 

Die Mütter. — Die Thiere denken anders über 
die Weiber, als die Menschen; ihnen gilt das Weibchen 
als das productive Wesen. Vaterliebe giebt es bei 
ihnen nicht, aber so Etwas wie Liebe zu den Kindern 
einer Geliebten und Gewöhnung an sie. Die Weibchen 
haben an den Kindern Befriedigung ihrer Herrschsucht, 
ein Eigenthum, eine Beschäftigung, etwas ihnen ganz 
Verständliches, mit dem man schwätzen kann: diess Alles 
zusammen ist Mutterliebe, — sie ist mit der Liebe des 
Künstlers zu seinem Werke zu vergleichen. Die t 
Schwangerschaft hat die Weiber milder, abwartender, 
furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht; und ebenso 
erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter 
der Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter 
verwandt ist: — es sind die männlichen Mütter. — Bei 
den Thieren gilt das männliche Geschlecht als das schöne. 

73. 

Heilige Grausamkeit. — Zu einem Heiligen trat 
ein Mann, der ein eben geborenes Kind in den Händen 
hielt. „Was soll ich mit dem Kinde machen? fragte er, 
es ist elend, missgestaltet und hat nicht genug Leben, 
um zu sterben." „Tödte es, rief der Heilige mit schreck- 
licher Stimme, tödte es und halte es dann drei Tage 
und drei Nächte lang in deinen Armen, auf dass du 
dir ein Gedächtniss machest: — so wirst du nie wieder 
ein Kind zeugen, wenn es nicht an der Zeit für dich 
ist, zu zeugen." — Als der Mann diess gehört hatte, 
gieng er enttäuscht davon; und Viele tadelten den 



 



— 94 — 

Heiligen, weil er zu einer Grausamkeit gerathen hatte, 
denn er hatte gerathen, das Kind zu tödten. „Aber 
ist es nicht grausamer, es leben zu lassen?" sagte der 
Heilige. 

74- 

Die Erfolglosen. — Jenen armen Frauen fehlt 
es immer an Erfolg, welche in Gegenwart Dessen, den 
sie lieben, unruhig und unsicher werden und zu viel 
reden: denn die Männer werden am sichersten durch 
eine gewisse heimliche und phlegmatische Zärtlichkeit 
verfuhrt. 

75- 

Das dritte Geschlecht. — „Ein kleiner Mann 
ist eine Paradoxie, aber doch ein Mann, — aber die 
kleinen Weibchen scheinen mir, im Vergleich mit hoch- 
wuchsigen Frauen, von einem anderen Geschlechte zu 
sein" — sagte ein alter Tanzmeister. Ein kleines Weib 
ist niemals schön — sagte der alte Aristoteles. 

76. 

Die grösste Gefahr. — Hätte es nicht allezeit 
eine Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht 
ihres Kopfes — ihre „Vernünftigkeit" — als ihren Stolz, 
ihre Verpflichtung, ihre Tugend fühlten, welche durch 
alles Phantasiren und Ausschweifen des Denkens be- 
leidigt oder beschämt wurden, als die Freunde „des 
gesunden Menschenverstandes": so wäre die Menschheit 
längst zu Grunde gegangen! Ueber ihr schwebte und 
schwebt fortwährend als ihre grösste Gefahr der aus- 
brechende Irrsinn — das heisst eben das Ausbrechen 
des Beliebens im Empfinden, Sehen und Hören, der 
Genuss in der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude 



 



am Menschen -Unverstände. Nicht die Wahrheit und 
Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, 
sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines 
Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urtheilen. Und 
die grösste Arbeit der Menschen bisher war die, über 
sehr viele Dinge mit einander übereinzustimmen und 
sich ein Gesetz der Uebereinstimmung aufzulegen 
— gleichgültig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind. 
Diess ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit 
erhalten hat; — aber die Gegentriebe sind immer noch 
so mächtig, dass man im Grunde von der Zukunft der 
Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. Fort- 
während schiebt und verschiebt sich noch das Bild der 
Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller 
als je; fortwährend sträuben sich gerade die ausgesuch- 
testen Geister gegen jene Allverbindlichkeit — die Er- 
forscher der Wahrheit voran! Fortwährend erzeugt 
jener Glaube als Allerweltsglaube einen Ekel und eine 
neue Lüsternheit bei feineren Köpfen: und schon das 
langsame Tempo, welches er für alle geistigen Processe 
verlangt, jene Nachahmung der Schildkröte, welche 
hier als die Norm anerkannt wird, macht Künstler und 
Dichter zu Ueberläufern: — diese ungeduldigen Geister 
sind es, in denen eine förmliche Lust am Irrsinn aus- 
bricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo hat! 
Es bedarf also der tugendhaften Intellecte, — ach! ich 
will das unzweideutigste Wort gebrauchen — es bedarf 
der tugendhaften Dummheit, es bedarf unerschüt- 
terlicher Tactschläger des langsamen Geistes, damit 
die Gläubigen des grossen Gesammtglaubens bei ein- 
ander bleiben und ihren Tanz weitertanzen: es ist eine 
Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. 



96 - 



Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr, — 
wir bedürfen ewig der Verteidigung! — Nun, es lässt 
sich wirklich etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, 
vorausgesetzt, dass sie nie Regel werden will. 

77* 

Das Thier mit gutem Gewissen. — Das Ge- 
meine in Alledem, was im Süden Europa's gefallt — sei 
diess nun die italianische Oper (zum Beispiel Rossini's und 
Bellini's) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in 
der französischen Verkleidung des Gil Blas am besten zu- 
gänglich) — bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt 
mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man 
bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde 
selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: wo- 
her kommt diess? Ist es, dass hier die Scham fehlt und 
dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, 
wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaft- 
liches in der selben Art Musik oder Roman ? „Das Thier 
hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herum- 
laufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess 
Thier noch, trotz Alledem!" — das scheint mir die Moral 
der Sache und die Eigenheit der südländischen Huma- 
nität zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht 
wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er 
das grosse Bedürfhiss, die sichere Befriedigung und 
gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt ver- 
ständliche Larve und Gebärde ist: der gute, gewählte 
Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Ver- 
suchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses, — 
er ist und war niemals volksthümlich ! Volksthümlich 
ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess 



 



— 97 - 

Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den 
Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern 
dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht 
man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das 
gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier 
ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes: — 
und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen 
Naturen der alten Welt noch nöthiger, als den gemeinen. — 
Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nor- 
dischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, un- 
säglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor 
sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal 
verhüten, dabei zu erröthen: wir schämen uns mit ihm 
und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unsert- 
wegen glaubte hinabsteigen zu müssen. 

78. . 

Wofür wir dankbar sein sollen. — Erst die 
Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den 
Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit 
einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder 
selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns 
die Schätzung des Helden, der in jedem von allen diesen 
Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, 
wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleich- 
sam vereinfacht und verklärt ansehen könne, — die 
Kunst, sich vor sich selber „in Scene zu setzen". So 
allein kommen wir über einige niedrige Details an uns 
hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vorder- 
grund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, 
welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross 
und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. — 

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. 7 



 



— 98 - 

Vielleicht giebt es ein Verdienst ähnlicher Art an jener 
Religion, welche die Sündhaftigkeit jedes einzelnen 
Menschen mit dem Vergrösserungsglase ansehen hiess 
und aus dem Sünder einen grossen, unsterblichen Ver- 
brecher machte: indem sie ewige Perspectiven um ihn 
beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Feme 
und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen. 

79- 

Reiz der Unvollkommenheit. — Ich sehe hier 
einen Dichter, der, wie so mancher Mensch , durch seine 
Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch 
alles Das, was sich unter seiner Hand rundet und voll- 
kommen gestaltet, — ja er hat den Vortheil und den 
Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermögen, als von 
seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals 
ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was 
er gesehen haben möchte: es scheint, dass er den 
Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie 
selber: — aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser 
Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr 
nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des 
Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, 
welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle „Werke" 
hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, 
wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dich- 
tern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber 
ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie un- 
mittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten 
geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine 
Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hätte. Es 
kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an's 
Ziel gekommen zu sein. 



 



■ 

— 99 — 



8o. 

Kunst und Natur. — Die Griechen (oder wenig- 
stens die Athener) hörten gerne gut reden: ja sie hatten 
einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles 
Andere von den Nicht-Griechen unterscheidet. Und so 
verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Bühne, 
dass sie gut rede, und Hessen die Unnatiirlichkeit des 
dramatischen Verses mit Wonne über sich ergehen: — 
in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so 
stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so 
verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham! 
Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese 
Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir jene andere 
Unnatur, die singende Leidenschaft ertragen und gerne 
ertragen, Dank den Italiänern. — Es ist uns ein Be- 
dürfhiss geworden, welches wir aus der Wirklichkeit 
nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten 
Lagen gut und ausfuhrlich reden zu hören: es entzückt 
uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte, 
Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle 
Geistigkeit findet, wo das Leben sich den Abgründen 
nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf 
und gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art Ab- 
weichung von der Natur ist vielleicht die angenehmste 
Mahlzeit für den Stolz des Menschen; ihretwegen über- 
haupt liebt er die Kunst, als den Ausdruck einer hohen, 
heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man 
macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen Vor- 
wurf daraus, wenn er nicht Alles in Vernunft und Wort 
verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen in 
der Hand zurückbehält: — so wie man mit dem Musiker 
der Oper unzufrieden ist, der für den höchsten Affect 

7* 



 



— 100 — 



nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles „natür- 
liches" Stammeln und Schreien zu finden weiss. Hier 
soll eben der Natur widersprochen werden! Hier soll 
eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize 
weichen! Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, 
weit — zum Erschrecken weit! Wie sie die Bühne so 
schmal wie möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe 
Hintergründe sich verbieten, wie sie dem Schauspieler 
das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich 
machen und ihn in einen feierlichen, steifen, masken- 
haften Popanz verwandeln, so haben sie auch der Leiden- 
schaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr 
ein Gesetz der schönen Rede dictirt, ja sie haben über- 
haupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht- 
und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie 
wolltenebennichtFurchtundMitleid, — Aristoteles 
in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich 
nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als 
er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach! 
Man sehe sich doch die griechischen Dichter der Tra- 
gödie darauf hin an, was am Meisten ihren Fleiss, ihre 
Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, — gewiss nicht 
die Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch 
Affecte! Der Athener gieng in's Theater, um schöne 
Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem 
Sophokles zu thun! — man vergebe mir diese Ketzerei! — 
Sehr verschieden steht es mit der ernsten Oper: alle 
ihre Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, 
dass man ihre Personen verstehe. Ein gelegentlich auf- 
gerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu 
Hülfe kommen: im Ganzen muss die Situation sich selber 
erklären, — es liegt Nichts an den Reden! — so denken 



 



— 101 — 

sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre 
Possen getrieben. Vielleicht hat es ihnen nur an Muth 
gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes 
ganz auszudrucken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini 
und er hätte durchweg la-la-la-la singen lassen — 
und es wäre Vernunft dabei gewesen! Es soll den 
Personen der Oper eben nicht „aufs Wort" geglaubt 
werden, sondern auf den Ton! Das ist der Unter- 
schied, das ist die schöne Unnatürlichkeit, derent- 
wegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo 
secco will nicht eigentlich als Wort und Text an- 
gehört sein-, diese Art von Halbmusik soll vielmehr 
dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe 
geben (die Ruhe von der Melodie, als dem sublimsten 
und desshalb auch anstrengendsten Genüsse dieser Kunst) 
— , aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine wach- 
sende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine 
neue Begierde nach ganzer Musik, nach Melodie. — 
Wie verhält es sich, von diesem Gesichtspuncte aus 
gesehen, mit der Kunst Richard Wagner 's? Vielleicht 
anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort 
und Musik seiner Schöpfungen vor der Auffuhrung 
auswendig gelernt haben müsste: denn ohne diess — so 
schien es mir — höre man weder die Worte noch selber 
die Musik. 

81. 

Griechischer Geschmack. — „Was ist Schönes 
daran? — sagte jener Feldmesser nach einer Auffuhrung 
der Iphigenie — es wird Nichts darin bewiesen!" Sollten 
die Griechen so fern von diesem Geschmacke gewesen 
sein? Bei Sophokles wenigstens wird „Alles bewiesen". 



 



- 102 - 



82. 

Der esprit ungriechisch. — Die Griechen sind 
in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und 
schlicht; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute 
Zeit, nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es 
so häufig werden: welche gar zu gerne einen kleinen 
Sprung in's Gegentheil machen und den Geist der Logik 
eigentlich nur vertragen, wenn er durch eine Menge 
solcher kleiner Sprünge in's Gegentheil seine gesellige 
Artigkeit, seine gesellige Selbstverleugnung verräth. 
Logik erscheint ihnen als nothwendig, wie Brod und 
Wasser, aber auch gleich diesen als eine Art Gefangenen- 
kost, sobald sie rein und allein genossen werden sollen. 
In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig 
und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik 
will: daher die kleine Dosis Unvernunft in allem fran- 
zösischen esprit. — Der gesellige Sinn der Griechen 
war bei Weitem weniger entwickelt, als der der Fran- 
zosen es ist und war: daher so wenig esprit bei ihren 
geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei 
ihren Witzbolden, daher — ach! Man wird mir schon 
diese meine Sätze nicht glauben, und wie viele der 
Art habe ich noch auf der Seele! — Est res magna 
tacere — sagt Martial mit allen Geschwätzigen. 

83. 

Uebersetzungen. — Man kann den Grad des 
historischen Sinnes, welchen .eine Zeit besitzt, daran 
abschätzen, wie diese Zeit Uebersetzungen macht 
und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben 
sucht. Die Franzosen Corneille's, und auch noch die der 
Revolution, bemächtigten sich des römischen Alterthums 



 



- 103 - 



in einer Weise, zu der wir nicht den Muth mehr hätten 
— Dank unserem höheren historischen Sinne. Und das 
römische Alterthum selbst: wie gewaltsam und naiv 
zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe 
des griechischen älteren Alterthums! Wie übersetzten 
sie in die römische Gegenwart hinein! Wie verwischten 
sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des 
Schmetterlings Augenblick! So übersetzte Horaz hier 
und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz 
den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges 
mit Theokrit, wenn wir urtheilen dürfen): was lag ihnen 
daran, dass der eigentliche Schöpfer Diess und Jenes 
erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hinein- 
geschrieben hatte! — als Dichter waren sie dem anti- 
quarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne vor- 
anläuft, abhold, als Dichter Hessen sie diese ganz per- 
sönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer Stadt, 
einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und 
Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs 
das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle. 
Sie scheinen uns zu fragen: „Sollen wir das Alte 
nicht für uns neu machen und uns in ihm zurechtlegen? 
Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe 
einblasen dürfen? denn todt ist er nun einmal: wie 
hässlich ist alles Todte!" — Sie kannten den Genuss des 
historischen Sinnes nicht; das Vergangene und Fremde 
war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer 
römischen Eroberung. In der That, man eroberte da- 
mals, wenn man übersetzte, — nicht nur so, däss man 
das Historische wegliess: nein, man fugte die An- 
spielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor 
Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den 



 



- 104 - 

eigenen an seine Stelle — nicht im Gefühl des Dieb- 
stahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des im- 
perium Romanum. 

84. 

Vom Ursprünge der Poesie. — Die Liebhaber 
des Phantastischen am Menschen, welche zugleich die 
Lehre von der instinctiven Moralität vertreten, schliessen 
so: „gesetzt, man habe zu allen Zeiten den Nutzen als 
die höchste Gottheit verehrt, woher dann in aller Welt 
ist die Poesie gekommen? — diese Rhythmisirung der 
Rede, welche der Deutlichkeit der Mittheilung eher 
entgegenwirkt, als forderlich ist, und die trotzdem wie 
ein Hohn auf alle nützliche Zweckmässigkeit überall 
auf Erden aufgeschossen ist und noch aufschiesst! Die 
wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, 
ihr Utilitarier! Gerade vom Nutzen einmal loskommen 
wollen — das hat den Menschen erhoben, das hat ihn 
zur Moralitat und Kunst inspirirt! 4 ' Nun ich muss 
hierin einmal den Utilitariern zu Gefallen reden, — sie 
haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist! 
Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie in's 
Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge 
und eine sehr grosse Nützlichkeit — damals als man 
den Rhythmus in die Rede dringen Hess, jene Gewalt 
die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen 
heisst und den Gedanken neu färbt und dunkler, frem- 
der, ferner macht: freilich eine abergläubische 
Nützlichkeit! Es sollte vermöge des Rhythmus den 
Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt 
werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch 
einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine un- 
gebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das 



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— 105 — 



rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich hör- 
bar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den 
Göttern näher an's Ohr zu kommen. Vor Allem aber 
wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueber- 
wältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören 
der Musik erfahrt: der Rhythmus ist ein Zwang; er er- 
zeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit ein- 
zustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die 
Seele selber geht dem Tacte nach, — wahrscheinlich, 
so schloss man, auch die Seele der Götter! Man ver- 
suchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und 
eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die 
Poesie wie eine magische Schlinge um. Es gab noch 
eine wunderlichere Vorstellung: und diese gerade hat 
vielleicht am mächtigsten zur Entstehung der Poesie 
gewirkt. Bei den Pythagoreern erscheint sie als philo- 
sophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung: aber 
längst bevor es Philosophen gab, gestand man der 
Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele 
zu reinigen, die ferocia animi zu mildern — und zwar 
gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn 
die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren 
gegangen war, musste man tanzen, in dem Tacte des 
Sängers, — das war das Recept dieser Heilkunst. Mit 
ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Em- 
pedokles einen Rasenden, reinigte Dämon einen liebes- 
siechen Jüngling; mit ihr nahm man auch die wildge- 
wordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, 
dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer 
Affecte aufs Höchste trieb, also den Rasenden toll, den 
Rachsüchtigen rachetrunken machte : — alle orgiastischen 
Culte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal 



 



entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher 
sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in 
Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach ein 
Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, son- 
dern weil seine Nachwirkung sanft macht. — Und nicht 
nur im Cultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der 
«ältesten Zeiten ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische 
eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim Wasser- 
schöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der 
hierbei thätig gedachten Dämonen, es macht sie will- 
fahrig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so 
oft man handelt, hat man einen Anlass zu singen, — jede 
Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft: 
Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der 
Poesie zu sein. Wenn der Vers auch beim Orakel ver- 
wendet wurde — die Griechen sagten, der Hexameter 
sei in Delphi erfunden — , so sollte der Rhythmus auch 
hier einen Zwang ausüben. Sich prophezeien lassen 
— das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrschein- 
lichen Ableitung des griechischen Wortes): sich Etwas 
bestimmen lassen; man glaubt die Zukunft erzwingen 
zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt: 
er, der nach der ältesten Vorstellung viel mehr, als ein 
vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausge- 
sprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so 
bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfin- 
dung Apollo's, welcher als Gott der Rhythmen auch die 
Göttinnen des Schicksals binden kann. — Im Ganzen 
gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische 
Art des Menschen überhaupt etwas Nützlicheres, als 
den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit 
magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, 



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- 107 — 



nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem 
Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend 
einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mit- 
leids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene 
Seele, sondern die des bösesten Dämons, — ohne den 
Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man bei- 
nahe ein Gott. Ein solches Grundgefuhl lässt sich nicht 
mehr völlig ausrotten, — und noch jetzt, nach Jahr- 
tausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aber- 
glaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich 
zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass 
er einen Gedanken als wahrer empfindet, wenn er 
eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hop- 
sasa daher kommt. Ist es nicht eine sehr lustige Sache, 
dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng 
sie es sonst mit aller Gewissheit nehmen, sich auf 
Dichtersprüche berufen, um ihren Gedanken Kraft 
und Glaubwürdigkeit zu geben? — und doch ist es für 
eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zu- 
stimmt, als wenn er ihr widerspricht 1 Denn wie Homer 
sagt: „Viel ja lügen die Sänger!" — 

85. 

Das Gute und das Schöne. — Die Künstler 
verherrlichen fortwährend — sie thun nichts Anderes 
— : und zwar alle jene Zustände und Dinge, welche in 
dem Rufe stehen, dass bei ihnen und in ihnen der 
Mensch sich einmal gut oder gross, oder trunken, oder 
lustig, oder wohl und weise fühlen kann. Diese aus- 
gelesenen Dinge und Zustände, deren Werth für das 
menschliche Glück als sicher und abgeschätzt gilt, sind 
die Objecte der Künstler: sie liegen immer auf der 



 



- 108 — 

Lauer, dergleichen zu entdecken und in's Gebiet der 
Kunst hinüberzuziehen. Ich will sagen: sie sind nicht 
selber die Taxatoren des Glückes und des Glücklichen, 
aber sie drangen sich immer in die Nähe dieser Taxa- 
toren, mit der grössten Neugierde und Lust, sich ihre 
Schätzungen sofort zu Nutze zu machen. So werden sie, 
weil sie ausser ihrer Ungeduld auch die grossen Lungen 
der Herolde und die Füsse der Läufer haben, immer 
auch unter den Ersten sein, die das neue Gute ver- 
herrlichen, und oft als Die erscheinen, welche es zuerst 
gut nennen und als gut taxiren. Diess aber ist, wie ge- 
sagt, ein Irrthum: sie sind nur geschwinder und lauter, 
als die wirklichen Taxatoren. — Und wer sind denn 
diese? — Es sind die Reichen und die Müssigen. 

86. 

Vom Theater. — Dieser Tag gab mir wieder 
starke und hohe Gefühle, und wenn ich an seinem 
Abende Musik und Kunst haben könnte, so weiss ich 
wohl, welche Musik und Kunst ich nicht haben möchte, 
nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen 
und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls 
emportreiben möchte, — jene Menschen des Alltags 
der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumph- 
wägen gleichen, sondern müden Maulthieren, an denen 
das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat. Was 
würden jene Menschen überhaupt von „höheren Stim- 
mungen" wissen, wenn es nicht rauscherzeugende Mittel 
und idealische Peitschenschlage gäbe! — und so haben 
sie ihre Begeisterer, wie sie ihre Weine haben. Aber 
was ist mir ihr Getränk und ihre Trunkenheit! Was 
braucht der Begeisterte den Wein! Vielmehr blickt er 



 



- 109 - 

mit einer Art von Ekel auf die Mittel und Mittler hin, 
welche hier eine Wirkung ohne zureichenden Grund 
erzeugen sollen, — eine Nachäffung der hohen Seelen- 
fluth! — Wie? Man schenkt dem Maulwurf Flügel und 
stolze Einbildungen, — vor Schlafengehen, bevor er in 
seine Höhle kriecht? Man schickt ihn in's Theater und 
setzt ihm grosse Gläser vor seine blinden und müden 
Augen? Menschen, deren Leben keine „Handlung", 
sondern ein Geschäft ist, sitzen vor der Bühne und 
schauen fremdartigen Wesen zu, denen das Leben mehr 
ist, als ein Geschäft? „So ist es anständig", sagt ihr, 
„so ist es unterhaltend, so will es die Bildung!" — 
Nun denn! So fehlt mir allzuoft die Bildung: denn 
dieser Anblick ist mir allzuoft ekelhaft. Wer an sich 
der Tragödie und Komödie genug hat, bleibt wohl am 
Liebsten fern vom Theater; oder, zur Ausnahme, der 
ganze Vorgang — Theater und Publicum und Dichter 
eingerechnet — wird ihm zum eigentlichen tragischen 
und komischen Schauspiel, sodass das aufgeführte Stück 
dagegen ihm nur wenig bedeutet. Wer Etwas wie Faust 
und Manfred ist, was liegt dem an den Fausten und 
Manfreden des Theaters! — während es ihm gewiss 
noch zu denken giebt, dass man überhaupt dergleichen 
Figuren aufs Theater bringt. Die stärksten Gedanken 
und Leidenschaften vor Denen, welche des Denkens und 
der Leidenschaft nicht fähig sind — aber des Rausches! 
Und jene als ein Mittel zu diesem! Und Theater und 
Musik das Haschisch -Rauchen und Betel -Kauen der 
Europäer! Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte 
der Narcotica! — Es ist beinahe die Geschichte der 
„Bildung", der sogenannten höheren Bildung! 



 



— 110 - 



«7. 

Von der Eitelkeit der Künstler. — Ich glaube, 
dass die Künstler oft nicht wissen, was sie am besten 
können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf etwas 
Stolzeres gerichtet haben, als diese kleinen Pflanzen zu 
sein scheinen, welche neu, seltsam und schön, in wirk- 
licher Vollkommenheit auf ihrem Boden zu wachsen 
vermögen. Das letzthin Gute ihres eigenen Gartens 
und Weinbergs wird von ihnen obenhin abgeschätzt, 
und ihre Liebe und ihre Einsicht sind nicht gleichen 
* Ranges. Da ist ein Musiker, der mehr als irgend ein 
Musiker darin seine Meisterschaft hat, die Töne aus 
dem Reiche leidender, gedrückter, gemarterter Seelen 
zu finden und auch noch den stummen Thieren Sprache 
zu geben. Niemand kommt ihm gleich in den Farben 
des späten Herbstes, dem unbeschreiblich rührenden 
Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Ge- 
niessens, er kennt einen Klang für jene heimlich-un- 
heimlichen Mitternächte der Seele, wo Ursache und 
Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen 
und jeden Augenblick Etwas „aus dem Nichts" entstehen 
kann; er schöpft am glücklichsten vor Allen aus dem 
unteren Grunde des menschlichen Glückes und gleichsam 
aus dessen ausgetrunkenem Becher, wo die herbsten und 
widrigsten Tropfen zu guter- und böser letzt mit den 
süssesten zusammengelaufen sind; er kennt jenes müde 
Sich-schieben der Seele, die nicht mehr springen und 
fliegen, ja nicht mehr gehen kann; er hat den scheuen 
Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne 
Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss; ja, als 
der Orpheus alles heimlichen Elendes ist er grösser, als 
irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt der 



 



- 111 - 



Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar 
und selbst der Kunst unwürdig erschien, und mit Worten 
namentlich nur zu verscheuchen, nicht zu fassen war, — 
manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele: 
ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er will 
es nicht sein! Sein Charakter liebt vielmehr die 
grossen Wände und die verwegene Wandmalerei! Es 
entgeht ihm, dass sein Geist einen anderen Geschmack 
und Hang hat und am liebsten still in den Winkeln zu- 
sammengestürzter Häuser sitzt: — da, verborgen, sich 
selber verborgen, malt er seine eigentlichen Meister- 
stücke, welche alle sehr kurz sind, oft nur Einen Tact 
lang, — da erst wird er ganz gut, gross und vollkommen, 
da vielleicht allein. — Aber er weiss es nicht! Er ist 
zu eitel dazu, es zu wissen. 

88. 

Der Ernst um die Wahrheit. — Ernst um die 
Wahrheit! Wie Verschiedenes verstehen die Menschen 
bei diesen Worten! Eben die selben Ansichten und 
Arten von Beweis und Prüfung, welche ein Denker an 
sich wie eine Leichtfertigkeit empfindet, der er zu seiner 
Scham in dieser oder jener Stunde unterlegen ist, — 
eben die selben Ansichten können einem Künstler, der 
auf sie stösst und mit ihnen zeitweilig lebt, das Bewusst- 
sein geben, jetzt habe ihn der tiefste Ernst um die 
Wahrheit erfasst, und es sei bewunderungswürdig, dass 
er, obschon Künstler, doch zugleich die ernsthafteste 
Begierde nach dem Gegensatze des Scheinenden zeige. 
So ist es möglich, dass Einer gerade mit seinem Pathos 
von Ernsthaftigkeit verräth, wie oberflächlich und ge- 
nügsam sein Geist bisher im Reiche der Erkenntniss 



 



- 112 - 



gespielt hat. — Und ist nicht Alles, was wir wichtig 
nehmen, unser Verräther? Es zeigt, wo unsere Gewichte 
liegen und wofür wir keine Gewichte besitzen. 

8g. 

Jetzt und ehedem. — Was liegt an aller unsrer 
Kunst der Kunstwerke, wenn jene höhere Kunst, die 
Kunst der Feste, uns abhanden kommt! Ehemals waren 
alle Kunstwerke an der grossen Feststrasse der Mensch- 
heit aufgestellt, als Erinnerungszeichen und Denkmäler 
hoher und seliger Momente. Jetzt will man mit den 
Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von 
der grossen Leidensstrasse der Menschheit bei Seite 
locken, für ein lüsternes Augenblickchen; man bietet 
ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an. 

90. 

Lichter und Schatten. — Die Bücher und Nieder- 
schriften sind bei verschiedenen Denkern Verschiedenes: 
der Eine hat im Buche die Lichter zusammengebracht, die 
er geschwind aus den Strahlen einer ihm aufleuchtenden 
Erkenntniss wegzustehlen und heimzutragen wusste; ein 
Anderer giebt nur die Schatten, die Nachbilder in Grau 
und Schwarz von dem wieder, was Tags zuvor in seiner 
Seele sich aufbaute. 

91. 

Vorsicht. — Alfieri hat, wie bekannt, sehr viel 
gelogen, als er den erstaunten Zeitgenossen seine Le- 
bensgeschichte erzählte. Er log aus jenem Despotismus 
gegen sich selber, den er zum Beispiel in der Art be- 
wies, wie er sich seine eigene Sprache schuf und sich 
zum Dichter tyrannisirte: — er hatte endlich eine strenge 



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- 113 — 



Form von Erhabenheit gefunden, in welche er sein Leben 
und sein Gedächtniss hineinpresste: es wird viel Qual 
dabei gewesen sein. — Ich würde auch einer Lebens- 
geschichte Platon's, von ihm selber geschrieben, keinen 
Glauben schenken: so wenig, als der Rousseau's, oder 
der vita nuova Dante's. 

92. 

Prosa und Poesie. — Man beachte doch, dass 
die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter 
gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Ge- 
heimen und für das „Kämmerlein"; und fürwahr, man 
schreibt nur im Angesichte der Poesie gute Prosa! 
Denn diese ist ein ununterbrochener artiger Krieg mit 
der Poesie: alle ihre Reize bestehen darin, dass be- 
ständig der Poesie ausgewichen und widersprochen 
wird; jedes Abstractum will als Schalkheit gegen diese 
und wie mit spöttischer Stimme vorgetragen sein; jede 
Trockenheit und Kühle soll die liebliche Göttin in eine 
liebliche Verzweifelung bringen; oft giebt es Annähe- 
rungen, Versöhnungen des Augenblickes und dann ein 
plötzliches Zurückspringen und Auslachen; oft wird der 
Vorhang aufgezogen und grelles Licht hereingelassen, 
während gerade die Göttin ihre Dämmerungen und 
dumpfen Farben geniesst; oft wird ihr das Wort aus 
dem Munde genommen und nach einer Melodie abge- 
sungen, bei der sie die feinen Hände vor die feinen 
Oehrchen hält — und so giebt es tausend Vergnügungen 
des Krieges, die Niederlagen mitgezählt, von denen die 
Unpoetischen, die sogenannten Prosa -Menschen, gar 
Nichts wissen: — diese schreiben und sprechen denn 
auch nur schlechte Prosa! Der Krieg ist der Vater 

Nietfiche, Die fröhliche WU»en»ch»ft. 8 



 



— 114 - 



aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der 
guten Prosa! — Vier sehr seltsame und wahrhaft dich- 
terische Menschen waren es in diesem Jahrhundert, 
welche an die Meisterschaft der Prosa gereicht haben, 
für die sonst diess Jahrhundert nicht gemacht ist — 
aus Mangel an Poesie, wie angedeutet. Um von Goethe 
abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in 
Anspruch nimmt, das ihn hervorbrachte: so sehe ich 
nur Giacomo Leopardi, Prosper Merimee, Ralph Waldo 
Emerson und Walter Savage Landor, den Verfasser der 
Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der 
Prosa zu heissen. 

Aber warum schreibst denn du? — A.: Ich 
gehöre nicht zu Denen, welche mit der nassen Feder 
in der Hand denken; und noch weniger zu Jenen, die 
sich gar vor dem offenen Tintenfasse ihren Leiden- 
schaften überlassen, auf ihrem Stuhle sitzend und aufs 
Papier starrend. Ich ärgere oder schäme mich alles 
Schreibens; Schreiben ist für mich eine Nothdurft, — 
selbst im Gleichniss davon zu reden, ist mir widerlich. 
B.: Aber warum schreibst du dann? A.: Ja, mein 
Lieber, im Vertrauen gesagt: ich habe bisher noch kein 
anderes Mittel gefunden, meine Gedanken los zu wer- 
den. B.: Und warum willst du sie los werden? A.: 
Warum ich will? Will ich denn? Ich muss. — B.: Ge- 
nug! Genug! 

94- 

Wachsthum nach dem Tode. — Jene kleinen 
verwegenen Worte über moralische Dinge, welche Fon- 
tenelle in seinen unsterblichen Todtengesprächen hin- 
warf, galten seiner Zeit als Paradoxien und Spiele eines 



 



— 115 — 



nicht unbedenklichen Witzes; selbst die höchsten Richter 
des Geschmackes und des Geistes sahen nicht mehr 
darin, — ja, vielleicht Fontenelle selber nicht. Nun 
ereignet sich etwas Unglaubliches: diese Gedanken 
werden Wahrheiten! Die Wissenschaft beweist sie! 
Das Spiel wird zum Ernst! Und wir lesen jene Dialoge 
mit einer anderen Empfindung, als Voltaire und Hel- 
vetius sie lasen, und heben unwillkürlich ihren Urheber 
in eine andere und viel höhere Rangclasse der Geister, 
als Jene thaten, — mit Recht? Mit Unrecht? 

95* 

Chamfort. — Dass ein solcher Kenner der Men- 
schen und der Menge, wie Chamfort, eben der Menge 
beisprang und nicht in philosophischer Entsagung und 
Abwehr seitwärts stehen blieb, das weiss ich mir nicht 
anders zu erklären, als so: Ein Instinct war in ihm 
stärker, als seine Weisheit, und war nie befriedigt 
worden, der Hass gegen alle Noblesse des Geblüts: 
vielleicht der alte nur zu erklärliche Hass seiner Mutter, 
welcher durch die Liebe zur Mutter in ihm heilig ge- 
sprochen war, — ein Instinct der Rache von seinen 
Knabenjahren her, der die Stunde erwartete, die Mutter 
zu rächen. Und nun hatte ihn das Leben und sein Genie, 
und ach! am meisten wohl das väterliche Blut in seinen 
Adern dazu verführt, eben dieser Noblesse sich einzu- 
reihen und gleichzustellen — viele viele Jahre lang! 
Endlich ertrug er aber seinen eigenen Anblick, den 
Anblick des „alten Menschen" unter dem alten Regime 
nicht mehr; er gerieth in eine heftige Leidenschaft der 
Busse, und in dieser zog er das Gewand des Pöbels 
an, als seine Art von härener Kutte! Sein böses Ge- 

8* 



 



— 116 — 



wissen war die Versäumniss der Rache. — Gesetzt, 
Chamfort wäre damals um einen Grad mehr Philosoph 
geblieben, so hätte die Revolution ihren tragischen 
Witz und ihren schärfsten Stachel nicht bekommen: sie 
würde als ein viel dümmeres Ereigniss gelten und keine 
solche Verfuhrung der Geister sein. Aber der Hass 
und die Rache Chamfort's erzogen ein ganzes Geschlecht: 
und die erlauchtesten Menschen machten diese Schule 
durch. Man erwäge doch, dass Mirabeau zu Chamfort 
wie zu seinem höheren und älteren Selbst aufsah, von 
dem er Antriebe, Warnungen und Richtersprüche er- 
wartete und ertrug, — Mirabeau, der als Mensch zu 
einem ganz anderen Range der Grösse gehört, als 
selbst die Ersten unter den staatsmännischen Grössen 
von gestern und heute. — Seltsam, dass trotz einem 
solchen Freunde und Fürsprecher — man hat ja die 
Briefe Mirabeau's an Chamfort — dieser witzigste aller 
Moralisten den Franzosen fremd geblieben ist, nicht 
anders, als Stendhal, der vielleicht unter allen Fran- 
zosen dieses Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen 
und Ohren gehabt hat. Ist es, dass Letzterer im Grunde 
zu viel von einem Deutschen und Engländer an sich 
hatte, um den Parisern noch erträglich zu sein? — 
während Chamfort, ein Mensch, reich an Tiefen und 
Hintergründen der Seele, düster, leidend, glühend, — 
ein Denker, der das Lachen als das Heilmittel gegen 
das Leben nöthig fand, und der sich beinahe verloren 
gab, an jedem Tage, wo er nicht gelacht hatte, — 
vielmehr wie ein Italiäner und Blutsverwandter Dante's 
und Leopardi's erscheint, als wie ein Franzose! Man 
kennt die letzten Worte Chamfort's: „Ah! mon ami, 
sagte er zu Sieyes, je m'en vais enfin de ce monde, 



 



- 117 - 



oü il faut que le coeur se brise ou se bronze — Das 
sind sicherlich nicht Worte eines sterbenden Franzosen. 

96. 

Zwei Redner. — Von diesen beiden Rednern er- 
reicht der eine die ganze Vernunft seiner Sache nur 
dann, wenn er sich der Leidenschaft überlässt: erst 
diese pumpt genug Blut und Hitze ihm in's Gehirn, 
um seine hohe Geistigkeit zur Offenbarung zu zwingen. 
Der Andere versucht wohl hier und da das Selbe: mit 
Hülfe der Leidenschaft seine Sache volltönend, heftig 
und hinreissend vorzubringen, — aber gewöhnlich mit 
einem schlechten Erfolge. Er redet dann sehr bald 
dunkel und verwirrt, er übertreibt, macht Auslassungen 
und erregt gegen die Vernunft seiner Sache Misstrauen: 
ja, er selber empfindet dabei diess Misstrauen, und daraus 
erklären sich plötzliche Sprünge in die kältesten und ab- 
stossendsten Töne, welche in dem Zuhörer einen Zweifel 
erregen, ob seine ganze Leidenschaftlichkeit ächt ge- 
wesen sei. Bei ihm überfluthet jedes Mal die Leiden- 
schaft den Geist; vielleicht, weil sie stärker ist, als bei 
dem Ersten. Aber er ist auf der Höhe seiner Kraft, 
wenn er dem andringenden Sturme seiner Empfindung 
widersteht und ihn gleichsam verhöhnt: da erst tritt sein 
Geist ganz aus seinem Versteck heraus, ein logischer, 
spöttischer, spielender, und doch furchtbarer Geist. 

* 

97- 

Von der Geschwätzigkeit der Schriftsteller. 
Es giebt eine Geschwätzigkeit des Zornes, — häufig 
bei Luther, auch bei Schopenhauer. Eine Geschwätzig- 
keit aus einem zu grossen Vorrathe von Begriffsformeln 



 



— 118 — 

wie bei Kant. Eine Geschwätzigkeit aus Lust an immer 
neuen Wendungen der selben Sache: man findet sie bei 
Montaigne. Eine Geschwätzigkeit hämischer Naturen: 
wer Schriften dieser Zeit liest, wird sich hierbei zweier 
Schriftsteller erinnern. Eine Geschwätzigkeit aus Lust 
an guten Worten und Sprachformen: nicht selten in 
der Prosa Goethe's. Eine Geschwätzigkeit aus innerem 
Wohlgefallen an Lärm und Wirrwarr der Empfindungen: 
zum Beispiel bei Carlyle. 

98. 

Zum Ruhme Shakespeare's. — Das Schönste, 
was ich zum Ruhme Shakespeare's, des Menschen, zu 
sagen wüsste, ist diess: er hat an Brutus geglaubt und 
kein Stäubchen Misstrauens auf diese Art Tugend ge- 
worfen! Ihm hat er seine beste Tragödie geweiht — 
sie wird jetzt immer noch mit einem falschen Namen 
genannt — , ihm und dem furchtbarsten Inbegriff hoher 
Moral. Unabhängigkeit der Seele! — das gilt es hier! 
Kein Opfer kann da zu gross sein: seinen liebsten 
Freund selbst muss man ihr opfern können, und sei er 
noch dazu der herrlichste Mensch, die Zierde der Welt, 
das Genie ohne Gleichen, — wenn man nämlich die 
Freiheit als die Freiheit grosser Seelen liebt, und durch 
ihn dieser Freiheit Gefahr droht: — derart muss Shake- 
speare gefühlt haben! Die Höhe, in welche er Cäsar 
stellt, ist die feinste Ehre, die er Brutus erweisen konnte: 
so erst erhebt er dessen inneres Problem in's Ungeheure 
und ebenso die seelische Kraft, welche diesen Knoten 
zu zerhauen vermochte! — Und war es wirklich die 
politische Freiheit, welche diesen Dichter zum Mitgefühl 
mit Brutus trieb, — zum Mitschuldigen des Brutus machte? 



 



— 119 — 

Oder war die politische Freiheit nur eine Symbolik 
für irgend etwas Unaussprechbares? Stehen wir viel- 
leicht vor irgend einem unbekannt gebliebenen dunklen 
Ereignisse und Abenteuer aus des Dichters eigener 
Seele, von dem er nur durch Zeichen reden mochte? 
Was ist alle Hamlet-Melancholie gegen die Melancholie 
des Brutus! — und vielleicht kennt Shakespeare auch 
diese, wie er jene kannte, aus Erfahrung! Vielleicht 
hatte auch er seine finstere Stunde und seinen bösen 
Engel, gleich Brutus! — Was es aber auch derart von 
Aehnlichkeiten und geheimen Bezügen gegeben haben 
mag: vor der ganzen Gestalt und Tugend des Brutus 
warf Shakespeare sich auf den Boden und fühlte sich 
unwürdig und ferne: — das Zeugniss dafür hat er in 
seine Tragödie hineingeschrieben. Zweimal hat er in 
ihr einen Poeten vorgeführt und zweimal eine solche 
ungeduldige und allerletzte Verachtung über ihn ge- 
schüttet, dass es wie ein Schrei klingt, — wie der Schrei 
der Selbstverachtung. Brutus, selbst Brutus verliert 
die Geduld, als der Poet auftritt, eingebildet, pathetisch, 
zudringlich, wie Poeten zu sein pflegen, als ein Wesen, 
welches von Möglichkeiten der Grösse, auch der sitt- 
lichen Grösse, zu strotzen scheint und es doch in der 
Philosophie der That und des Lebens selten selbst bis 
zur gemeinen Rechtschaffenheit bringt. „Kennt er die 
Zeit, so kenn' ich seine Launen, — fort mit dem 
Schellen -Hanswurst!" — ruft Brutus. Man übersetze 
sich diess zurück in die Seele des Poeten, der es dichtete. 

99- 

Die Anhänger Schopenhauer's. — Was man 
bei der Berührung von Cultur -Völkern und Barbaren 



 



— 120 — 



zu sehen bekommt: dass regelmässig die niedrigere Cul- 
tur von der höheren zuerst deren Laster, Schwächen 
und Ausschweifungen annimmt, von da aus einen Reiz 
auf sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der an- 
geeigneten Laster und Schwächen Etwas von der werth- 
haltigen Kraft der höheren Cultur mit auf sich über- 
strömen lässt: — das kann man auch in der Nähe und 
ohne Reisen zu Barbaren -Völkern mit ansehen, freilich 
etwas verfeinert und vergeistigt und nicht so leicht mit 
Händen zu greifen. Was pflegen doch die Anhänger 
Schopenhauer 's in Deutschland von ihrem Meister zu- 
erst anzunehmen? — als welche, im Vergleich zu dessen 
überlegener Cultur, sich barbarenhaft genug vorkommen 
müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fascinirt 
und verführt zu werden. Ist es sein harter Thatsachen- 
Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der 
ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen 
lässt? Oder die Stärke seines intellectuellen Gewissens, 
das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und 
Wollen aushielt und ihn dazu zwang, sich auch in 
seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zu 
widersprechen? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der 
Kirche und des christlichen Gottes? — denn hierin war 
er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so dass 
er „als Voltairianer" lebte und starb. Oder seine un- 
sterblichen Lehren von der Intellectualität der An- 
schauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, 
von der Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfrei- 
heit des Willens? Nein, diess Alles bezaubert nicht und 
wird nicht als bezaubernd gefühlt: aber die mystischen 
• Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauers, an jenen 
Stellen, wo der Thatsachen-Denker sich vom eitlen 



 



— 121 — 



Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verfuhren 
und verderben Hess, die unbeweisbare Lehre von Einem 
Willen („alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen 
der Erscheinung des Willens zu dieser Zeit, an diesem 
Orte", „der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch 
dem geringsten, ganz und ungetheilt vorhanden, so 
vollständig, wie in Allen, die je waren, sind und sein 
werden, zusammengenommen"), die Leugnung des In- 
dividuums („alle Löwen sind im Grunde nur Ein Löwe", 
„die Vielheit der Individuen ist ein Schein"; sowie auch 
die Entwicklung nur ein Schein ist: — er nennt den 
Gedanken de Lamarck's „einen genialen, absurden Irr- 
thum"), die Schwärmerei vom Genie („in der ästhe- 
tischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr In- 
dividuum, sondern reines, willenloses, schmerzloses, 
zeitloses Subject der Erkenntniss"; „das Subject, indem 
es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist 
dieser Gegenstand selbst geworden"), der Unsinn vom 
Mitleide und der in ihm ermöglichten Durchbrechung 
des principii individuationis als der Quelle aller Mora- 
lität, hinzugerechnet solche Behauptungen „das Sterben 

ist eigentlich der Zweck des Daseins", „es lässt sich a 
priori nicht geradezu die Möglichkeit ableugnen, dass 
eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem 
bereits Gestorbenen ausgehen können": diese und ähn- 
liche Ausschweifungen und Laster des Philosophen 
werden immer am ersten angenommen und zur Sache 
des Glaubens gemacht: — Laster und Ausschweifungen 
sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und 
wollen keine lange Vorübung. Doch reden wir von 
dem berühmtesten der lebenden Schopenhauerianer, von 
Richard Wagner. — - Ihm ist es ergangen , wie es schon 



 



1 99 



manchem Künstler ergangen ist: er vergriff sich in der 
Deutung der Gestalten, die er schuf, und verkannte die 
unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst. 
Richard Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens 
durch Hegel irrefuhren lassen; er that das Selbe noch 
einmal, als er später Schopenhauer's Lehre aus seinen 
Gestalten herauslas und mit „Wille", „Genie** und „Mit- 
leid** sich selber zu formuliren begann. Trotzdem wird 
es wahr bleiben: Nichts geht gerade so sehr wider den 
Geist Schopenhauer's, als das eigentlich Wagnerische 
an den Helden Wagner's: ich meine die Unschuld der 
höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leiden- 
schaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das 
Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. „Das Alles 
riecht eher noch nach Spinoza als nach mir" — würde viel- 
leicht Schopenhauer sagen. So gute Gründe also Wagner 
hätte, sich gerade nach anderen Philosophen umzusehen 
als nach Schopenhauer: die Bezauberung, der er in Be- 
treff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur 
gegen alle anderen Philosophen, sondern sogar gegen 
die Wissenschaft selber blind gemacht; immer mehr 
will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Er- 
gänzung der Schopenhauerschen Philosophie geben und 
immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren 
Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen 
Erkenntniss und Wissenschaft zu werden. Und nicht nur 
reizt ihn dazu der ganze geheimnissvolle Prunk dieser 
Philosophie, welche auch einen Cagliostro gereizt haben 
würde: auch die einzelnen Gebärden und die Affecte der 
Philosophen waren stets Verführer! Schopenhauerisch 
ist zum Beispiel Wagner's Ereiferung über die Ver- 
derbniss der deutschen Sprache; und wenn man hierin 



 



- 123 — 

die Nachahmung gut heissen sollte, so darf doch auch 
nicht verschwiegen werden, dass Wagner's Stil selber 
nicht wenig an all den Geschwüren und Geschwülsten 
krankt, deren Anblick Schopenhauern so wüthend 
machte, und dass, in Hinsicht auf die deutsch schrei- 
benden Wagnerianer, die Wagnerei sich so gefahrlich 
zu erweisen beginnt, als nur irgend eine Hegelei sich 
erwiesen hat. Schopenhauerisch ist Wagner's Hass 
gegen die Juden, denen er selbst in ihrer grössten That 
nicht gerecht zu werden vermag: die Juden sind ja die 
Erfinder des Christenthums! Schopenhauerisch ist der 
Versuch Wagner's, das Christenthum als ein verwehtes 
Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter 
zeitweiliger Annäherung an katholisch -christliche For- 
meln und Empfindungen, ein buddhistisches Zeitalter 
vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagner's Predigt 
zu Gunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit Thieren; 
Schopenhauer's Vorgänger hierin war bekanntlich Vol- 
taire, der vielleicht auch schon, gleich seinen Nach- 
folgern, seinen Hass gegen gewisse Dinge und Menschen 
als Barmherzigkeit gegen Thiere zu verkleiden wusste. 
Wenigstens ist Wagner's Hass gegen die Wissenschaft, 
der aus seiner Predigt spricht, gewiss nicht vom Geiste 
der Mildherzigkeit und Güte eingegeben — noch auch, 
wie es sich von selber versteht, vom Geiste über- 
haupt. — Zuletzt ist wenig an der Philosophie eines 
Künstlers gelegen, falls sie eben nur eine nachträgliche 
Philosophie ist und seiner Kunst selber keinen Schaden 
thut. Man kann sich nicht genug davor hüten, einem 
Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr un- 
glücklichen und anmaasslichen Maskerade willen gram 
zu werden; vergessen wir doch nicht, dass die lieben 



 



— 124 - 



Künstler sammt und sonders ein wenig Schauspieler 
sind und sein müssen und ohne Schauspielerei es schwer- 
lich auf die Länge aushielten. Bleiben wir Wagnern in 
dem treu, was an ihm wahr und ursprünglich ist, — 
und namentlich dadurch, dass wir, seine Jünger, uns 
selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und ur- 
sprünglich ist. Lassen wir ihm seine intellectuellen 
Launen und Krämpfe, erwägen wir vielmehr in Billig- 
keit, welche seltsamen Nahrungen und Nothdürfte eine 
Kunst, wie die seine, haben darf, um leben und wachsen 
zu können! Es liegt Nichts daran, dass er als Denker 
so oft Unrecht hat; Gerechtigkeit und Geduld sind 
nicht seine Sache. Genug, dass sein Leben vor sich 
selber Recht hat und Recht behält: — dieses Leben, 
welches Jedem von uns zuruft: „Sei ein Mann und folge 
mir nicht nach, — sondern dir! Sondern dir!" Auch 
unser Leben soll vor uns selber Recht behalten! Auch 
wir sollen frei und furchtlos, in unschuldiger Selbstig- 
keit aus uns selber wachsen und blühen! Und so klingen 
mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch 
heute noch, wie ehedem, diese Sätze an's Ohr: „dass 
Leidenschaft besser ist, als Stoicismus und Heuchelei, 
dass Ehrlich -sein, selbst im Bösen, besser ist, als sich 
selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, 
dass der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, 
dass aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur 
ist, und an keinem himmlischen noch irdischen Tröste 
Antheil hat; endlich dass Jeder, der frei werden 
will, es durch sich selber werden muss, und dass 
Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in 
den Schooss fällt". (Richard Wagner in Bayreuth S. 94.) 



 



- 125 — 



ioo7 

Huldigen lernen. — Auch das Huldigen müssen 
die Menschen lernen wie das Verachten. Jeder, der 
auf neuen Bahnen geht und Viele auf neue Bahnen 
geführt hat, entdeckt mit Staunen, wie ungeschickt und 
arm diese Vielen im Ausdruck ihrer Dankbarkeit sind, 
ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit 
äussern kann. Es ist als ob ihr immer, wenn sie einmal 
reden will, Etwas in die Kehle komme, sodass sie sich 
nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt. Die 
Art, wie ein Denker die Wirkung seiner Gedanken und 
ihre umbildende und erschütternde Gewalt zu spüren 
bekommt, ist beinahe eine Komödie; mitunter hat es das 
Ansehen, als ob Die, auf welche gewirkt worden ist, sich 
im Grunde dadurch beleidigt fühlten und ihre, wie sie 
fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in allerlei Un- 
arten zu äussern wüssten. Es bedarf ganzer Geschlech- 
ter, um auch nur eine höfliche Convention des Dankes 
zu erfinden: und erst sehr spät kommt jener Zeitpunct, 
wo selbst in die Dankbarkeit eine Art Geist und Ge- 
nialität gefahren ist: dann ist gewöhnlich auch Einer 
da, welcher der grosse Dank-Empfanger ist, nicht nur 
für Das, was er selber Gutes gethan hat, sondern zu- 
meist für Das, was von seinen Vorgängern als ein Schatz 
des Höchsten und Besten allmählich aufgehäuft wor- 
den ist. 

101. 

Voltaire. — Ueberall, wo es einen Hof gab, hat 
er das Gesetz des Gut -Sprechens und damit auch das 
Gesetz des Stils für alle Schreibenden gegeben. Die 
höfische Sprache ist aber die Sprache des Höflings, 
der kein Fach hat und der sich selbst in Gesprächen 



 



- 126 - 

über wissenschaftliche Dinge alle bequemen technischen 
Ausdrücke verbietet, weil sie nach dem Fache schmecken, 
desshalb ist der technische Ausdruck und Alles, was den 
Specialisten verräth, in den Ländern einer höfischen 
Cultur ein Flecken des Stils. Man ist jetzt, wo alle 
Höfe Caricaturen von sonst und jetzt geworden sind, 
erstaunt, selbst Voltaire in diesem Puncte unsäglich 
spröde und peinlich zu finden (zum Beispiel in seinem 
Urtheil über solche Stilisten, wie Fontenelle und Mon- 
tesquieu), — wir sind eben alle vom höfischen Geschmack 
emancipirt, während Voltaire dessen Vollender warl 

102. 

Ein Wort für die Philologen. — Dass es Bücher 
giebt, so werthvolle und königliche, dass ganze Ge- 
lehrten-Geschlechter gut verwendet sind, wenn durch 
ihre Mühe diese Bücher rein erhalten und verständlich 
erhalten werden, — diesen Glauben immer wieder zu 
befestigen ist die Philologie da. Sie setzt voraus, dass 
es an jenen seltenen Menschen nicht fehlt (wenn man 
sie gleich nicht sieht), die so werthvolle Bücher wirk- 
lich zu benutzen wissen: — es werden wohl die sein, 
welche selber solche Bücher machen oder machen 
könnten. Ich wollte sagen, die Philologie setzt einen 
vornehmen Glauben voraus, — dass zu Gunsten einiger 
Weniger, die immer „kommen werden" und nicht da 
sind, eine sehr grosse Menge von peinlicher, selbst un- 
sauberer Arbeit voraus abzuthun sei: es ist Alles Ar- 
beit in usum Delphinorum. 

103. 

Von der deutschen Musik. — Die deutsche 
Musik ist jetzt schon desshalb, mehr als jede andere, 



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- 127 - 



die europäische Musik, weil in ihr allein die Verände- 
rung, welche Europa durch die Revolution erfuhr, einen 
Ausdruck bekommen hat: nur die deutschen Musiker 
verstehen sich auf den Ausdruck bewegter Volksmassen, 
auf jenen ungeheuren künstlichen Lärm, der nicht ein- 
mal sehr laut zu sein braucht, — während zum Beispiel 
die italiänische Oper nur Chöre von Bedienten oder 
Soldaten kennt, aber kein „Volk". Es kommt hinzu, 
dass aus aller deutschen Musik eine tiefe bürgerliche 
Eifersucht auf die noblesse herauszuhören ist, nament- 
lich auf esprit und elegance, als den Ausdruck einer 
höfischen, ritterlichen, alten, ihrer selber sicheren Gesell- 
schaft. Das ist keine Musik, wie die des Goethischen 
Sängers vor dem Thore, die auch „im Saale", und zwar 
dem Könige wohlgefallt; da heisst es nicht: „die Ritter 
schauten muthig drein und in den Schooss die Schönen". 
Schon die Grazie tritt nicht ohne Anwandelung von 
Gewissensbissen in der deutschen Musik auf; erst bei 
der Anmuth, der ländlichen Schwester der Grazie, fangt 
der Deutsche an, sich ganz moralisch zu fühlen — und 
von da an immer mehr bis hinauf zu seiner schwär- 
merischen, gelehrten, oft bärbeissigen „Erhabenheit", 
der Beethoven'schen Erhabenheit. Will man sich den 
Menschen zu dieser Musik denken, nun, so denke 
man sich eben Beethoven, wie er neben Goethe, etwa 
bei jener Begegnung in Teplitz, erscheint: als die Halb- 
barbarei neben der Cultur, als Volk neben Adel, als 
der gutartige Mensch neben dem guten und mehr noch 
als „guten" Menschen, als der Phantast neben dem 
Künstler, als der Trostbedürftige neben dem Getrösteten, 
als der Uebertreiber und Verdächtiger neben dem Bil- 
ligen, als der Grillenfänger und Selbstquäler, als der 



 



— 128 — 

Närrisch -Verzückte, der Selig -Unglückliche, der Treu- 
herzig-Maasslose, als der Anmaassliche und Plumpe — 
und Alles in Allem als der „ungebändigte Mensch": so 
empfand und bezeichnete ihn Goethe selber, Goethe der 
Ausnahme -Deutsche, zu dem eine ebenbürtige Musik 
noch nicht gefunden ist! — Zuletzt erwäge man noch, 
ob nicht jene jetzt immer mehr um sich greifende Ver- 
achtung der Melodie und Verkümmerung des melo- 
dischen Sinnes bei Deutschen als eine demokratische 
Unart und Nachwirkung der Revolution zu verstehen 
ist. Die Melodie hat nämlich eine solche offene Lust 
an der Gesetzlichkeit und einen solchen Widerwillen 
bei allem Werdenden, Ungeformten, Willkürlichen, dass 
sie wie ein Klang aus der alten Ordnung der euro- 
päischen Dinge und wie eine Verfuhrung und Rück- 
führung zu dieser klingt. 

104. 

Vom Klange der deutschen Sprache. — Man 
weiss, woher das Deutsch stammt, welches seit ein 
paar Jahrhunderten das allgemeine Schriftdeutsch ist. 
Die Deutschen, mit ihrer Ehrfurcht vor Allem, was vom 
Hofe kam, haben sich geflissentlich die Kanzleien zum 
Muster genommen, in Allem, was sie zu schreiben 
hatten, also namentlich in ihren Briefen, Urkunden, 
Testamenten und so weiter. Kanzleimässig schreiben, 
das war hof- und regierungsmässig schreiben, — das 
war etwas Vornehmes, gegen das Deutsch der Stadt 
gehalten, in der man gerade lebte. Allmählich zog man 
den Schluss und sprach auch so, wie man schrieb, 
— so wurde man noch vornehmer, in den Wortformen, 
in der Wahl der Worte und Wendungen und zuletzt 



 



- 129 - 



auch im Klange: man affectirte einen höfischen Klang, 
wenn man sprach, und die Affectation wurde zuletzt 
Natur. Vielleicht hat sich etwas ganz Gleiches nirgends- 
wo ereignet: die Uebergewalt des Schreibestils über 
die Rede und die Ziererei und Vornehmthuerei eines 
ganzen Volkes als Grundlage einer gemeinsamen nicht 
mehr dialektischen Sprache. Ich glaube, der Klang der 
deutschen Sprache war im Mittelalter, und namentlich 
nach dem Mittelalter, tief bäuerisch und gemein: er hat 
sich in den letzten Jahrhunderten etwas veredelt, haupt- 
sächlich dadurch, dass man sich genöthigt fand, so viel 
französische, italiänische und spanische Klänge nachzu- 
ahmen und zwar gerade von Seiten des deutschen (und 
österreichischen) Adels, der mit der Muttersprache sich 
durchaus nicht begnügen konnte. Aber für Montaigne 
oder gar Racine muss trotz dieser Uebung Deutsch 
unerträglich gemein geklungen haben: und selbst jetzt 
klingt es, im Munde der Reisenden, mitten unter ita- 
liänischem Pöbel, noch immer sehr roh, wälderhaft, 
heiser, wie aus räucherigen Stuben und unhöflichen 
Gegenden stammend. — Nun bemerke ich, dass jetzt 
wieder unter den ehemaligen Bewunderern der Kanzleien 
ein ähnlicher Drang nach Vornehmheit des Klanges 
um sich greift, und dass die Deutschen einem ganz ab- 
sonderlichen „Klangzauber" sich zu fugen anfangen, 
der auf die Dauer eine wirkliche Gefahr für die deutsche 
Sprache werden könnte, — denn abscheulichere Klänge 
sucht man in Europa vergebens. Etwas Höhnisches, 
Kaltes, Gleichgültiges, Nachlässiges in der Stimme: das 
klingt jetzt den Deutschen „vornehm" — und ich höre 
den guten Willen zu dieser Vornehmheit in den Stimmen 
der jungen Beamten, Lehrer, Frauen, Kaufleute; ja 

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. 9 



 



— 130 — 



die kleinen Mädchen machen schon dieses Offizierdeutsch 
nach. Denn der Offizier, und zwar der preussische, ist 
der Erfinder dieser Klänge: dieser selbe Offizier, der 
als Militär und Mann des Fachs jenen bewunderungs- 
würdigen Tact der Bescheidenheit besitzt, an dem die 
Deutschen allesammt zu lernen hätten (die deutschen 
Professoren und Musicanten eingerechnet!). Aber so- 
bald er spricht und sich bewegt, ist er die unbeschei- 
denste und geschmackwidrigste Figur im alten Europa 
— sich selber unbewusst, ohne allen Zweifel! Und auch 
den guten Deutschen unbewusst, die in ihm den Mann 
der ersten und vornehmsten Gesellschaft anstaunen und 
sich gerne „den Ton von ihm angeben" lassen. Das 
thut er denn auch! — und zunächst sind es die Feld- 
webel und Unteroffiziere, welche seinen Ton nachahmen 
und vergröbern. Man gebe Acht auf die Commando- 
rufe, von denen die deutschen Städte formlich umbrüllt 
werden, jetzt wo man vor allen Thoren exerciert: welche 
Anmassung, welches wüthende Autoritätsgefühl, welche 
höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus! 
Sollten die Deutschen wirklich ein musicalisches Volk 
sein? — Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im 
Klange ihrer Sprache militarisiren: wahrscheinlich ist, 
dass sie, eingeübt militärisch zu sprechen, endlich auch 
militärisch schreiben werden. Denn die Gewohnheit 
an bestimmte Klänge greift tief in den Charakter: — 
man hat bald die Worte und Wendungen und schliess- 
lich auch die Gedanken, welche eben zu diesem Klange 
passen! Vielleicht schreibt man jetzt schon offizier- 
mässig; vielleicht lese ich nur zu wenig von dem, was 
man jetzt in Deutschland schreibt. Aber Eines weiss 
ich um so sicherer: die öffentlichen deutschen Kund- 



 



gebungen, die auch in's Ausland dringen, sind nicht 
von der deutschen Musik inspirirt, sondern von eben 
jenem neuen Klange einer geschmackwidrigen An- 
maassung. Fast in jeder Rede des ersten deutschen 
Staatsmannes und selbst dann, wenn er sich durch sein 
kaiserliches Sprachrohr vernehmen lasst, ist ein Accent, 
den das Ohr eines Ausländers mit Widerwillen zurück- 
weist: aber die Deutschen ertragen ihn, — sie er- 
tragen sich selber. 

105. 

Die Deutschen als Künstler. — Wenn der 
Deutsche einmal wirklich in Leidenschaft geräth (und 
nicht nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur 
Leidenschaft I), so benimmt er sich dann in derselben, 
wie er eben muss, und denkt nicht weiter an sein Be- 
nehmen. Die Wahrheit aber ist, dass er sich dann 
sehr ungeschickt und hässlich und wie ohne Tact und 
Melodie benimmt, sodass die Zuschauer ihre Pein oder 
ihre Rührung dabei haben und nicht mehr: — es sei 
denn, dass er sich in das Erhabene und Entzückte 
hinaufhebt, dessen manche Passionen fähig sind. Dann 
wird sogar der Deutsche schön! Die Ahnung davon, 
auf welcher Höhe erst die Schönheit ihren Zauber 
selbst über Deutsche ausgiesst, treibt die deutschen 
Künstler in die Höhe und Ueberhöhe und in die Aus- 
schweifungen der Leidenschaft: ein wirkliches tiefes 
Verlangen also, über die Hässlichkeit und Ungeschickt- 
heit hinauszukommen, mindestens hinauszublicken — hin 
nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnen- 
hafteren Welt Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur 
Anzeichen dafür, dass sie tanzen möchten: diese armen 

9' 



— 132 — 



Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter 
ihr Wesen treiben — und mitunter noch höhere Gott- 
heiten! 

106. 

Musik als Fürsprecherin. — „Ich habe Durst 
nach einem Meister der Tonkunst, sagte ein Neuerer 
zu seinem Jünger, dass er mir meine Gedanken ablerne 
und sie furderhin in seiner Sprache rede: so werde ich 
den Menschen besser zu Ohr und Herzen dringen. Mit 
Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und 
jeder Wahrheit verfuhren: wer vermöchte einen Ton zu 
widerlegen?" — „Also möchtest du für unwiderlegbar 
gelten?" sagte sein Jünger. Der Neuerer erwiderte: 
„Ich möchte, dass der Keim zum Baume werde. Da- 
mit eine Lehre zum Baume werde, muss sie eine gute 
Zeit geglaubt werden: damit sie geglaubt werde, muss 
sie für unwiderlegbar gelten. Dem Baume thun Stürme, 
Zweifel, Gewürm, Bosheit noth, damit er die Art und 
Kraft seines Keimes offenbar mache; mag er brechen, 
wenn er nicht stark genug ist! Aber ein Keim wird 
immer nur vernichtet, — nicht widerlegt!" — Als er das 
gesagt hatte, rief sein Jünger mit Ungestüm: „Aber ich 
glaube an deine Sache und halte sie für so stark, dass 
ich Alles, Alles sagen werde, was ich noch gegen sie 
auf dem Herzen habe". — Der Neuerer lachte bei sich 
und drohte ihm mit dem Finger. „Diese Art Jünger- 
schaft, sagte er dann, ist die beste, aber sie ist gefähr- 
lich und nicht jede Art Lehre verträgt sie". 

107. 

Unsere letzte Dankbarkeit gegen die Kunst. 
Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese 



 



- 133 - 



Art von Cultus des Unwahren erfanden: so wäre die 
Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, 
die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird — 
die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Be- 
dingung des erkennenden und empfindenden Daseins 
— , gar nicht auszuhalten. Die Redlichkeit würde den 
Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber 
hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns sol- 
chen Consequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als 
den guten Willen zum Scheine. Wir verwehren es 
unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu 
dichten: und dann ist es nicht mehr die ewige Unvoll- 
kommenheit, die wir über den Fluss des Werdens 
tragen — dann meinen wir, eine Göttin zu tragen 
und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. 
Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer 
noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge 
und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu ge- 
geben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu 
können. Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, da- 
durch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus 
einer künstlerischen Ferne her, über uns lachen oder 
über uns weinen; wir müssen den Helden und ebenso 
den Narren entdecken, der in unsrer Leidenschaft der 
Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und 
zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu. 
können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere 
und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Men- 
schen sind, so thut uns Nichts so gut als die Schelmen- 
kappe: wir brauchen sie vor uns selber — wir brauchen 
alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kin- 
dische und selige Kunst, um jener Freiheit über den 



 



- 134 - 



Dingen nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal 
von uns fordert. Es wäre ein Rückfall für uns, gerade 
mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu 
gerathen und um der überstrengen Anforderungen willen, 
die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugend- 
haften Ungeheuern und Vogelscheuchen zu werden. 
Wir sollen auch über der Moral stehen können: und 
nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines 
Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu 
fallen furchtet, sondern auch über ihr schweben und 
spielen! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des 
Narren entbehren? — Und so lange ihr euch noch 
irgendwie vor euch selber schämt, gehört ihr noch 
nicht zu uns! 



 



Drittes Buch. 



io8. 

Neue Kämpfe. — Nachdem Buddha todt war, 
zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in 
einer Höhle, — einen ungeheuren schauerlichen Schatten. 
Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen ist, 
wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben,, 
in denen man seinen Schatten zeigt. — Und wir — wir^ 
müssen auch noch seinen Schatten besiegen! 

109. 

Hüten wir uns! — Hüten wir uns, zu denken, 
dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte 
sie sich ausdehnen? Wovon sollte sie sich nähren? Wie 
könnte sie wachsen und sich vermehren? Wir wissen 
ja ungefähr, was das Organische ist: und wir sollten 
das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, 
das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum 
Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es 
Jene thun, die das All einen Organismus nennen? Da- 
vor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, 
dass das All eine Maschine sei; es ist gewiss nicht auf 
Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort „Ma- 
schine" eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, 
etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen 
unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall voraus- 
zusetzen; schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel 
auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und wider- 
sprechendere Bewegungen giebt, ebenfalls Sterne mit 



ewigen senkrechten Fallbahnen und dergleichen. Die 
astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme; 
diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch 
sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Aus- 
nahmen ermöglicht: die Bildung des Organischen. Der 
Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewig- 
keit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendig- 
keit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, 
Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen 
Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus 
geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die 
Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, 
und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, 
die nie eine Melodie heissen darf, — und zuletzt ist 
selbst das Wort „verunglückter Wurf" schon eine Ver- 
menschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber 
wie dürften wir das All tadeln oder loben! Hüten wir 
uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren 
Gegensätze nachzusagen: es ist weder vollkommen, noch 
schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, 
es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nach- 
zuahmen! Es wird durchaus durch keines unserer ästhe- 
tischen und moralischen Urtheile getroffen! Es hat auch 
keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe ; 
es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, 
dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Not- 
wendigkeiten: da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der 
gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass 
es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen 
Zufall giebt: denn nur neben einer Welt von Zwecken 
hat das Wort „Zufall" einen Sinn. Hüten wir uns, zu 
sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das 



— 139 - 



Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr 
seltene Art. — Hüten wir uns, zu denken, die Welt 
schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften 
Substanzen; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, 
wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am 
Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein! Wann 
werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr ver- 
dunkeln? Wann werden wir die Natur ganz entgött^ 
licht haben! Wann werden wir anfangen dürfen, uns \ 
Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten 
Natur zu vernatürlichen! 



1 10. 

Ursprung der Erkenntniss. — Der Intellect hat 
ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer 
erzeugt; einige davon ergaben sich als nützlich und 
arterhaltend: wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, 
kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs 
mit grösserem Glücke. Solche irrthümliche Glaubens- 
sätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum 
menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum 
Beispiel diese: dass es dauernde Dinge gebe, dass es 
gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Körper 
gebe, dass ein Ding Das sei, als was es erscheine, dass 
unser Wollen frei sei, dass was für mich gut ist, auch 
an und für sich gut sei. Sehr spät erst traten die 
Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf, — sehr 
spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste— 1 
Form der Erkenntniss. Es schien, dass man mit ihr 
nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren 
Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Functionen, 
die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Em- 



 



— 140 — 

pfindung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einver- 
leibten Grundirrthümern. Mehr noch: jene Sätze wurden 
selbst innerhalb der Erkenntniss zu den Normen, nach 
denen man „wahr" und „unwahr" bemass — bis hinein 
in die entlegensten Gegenden der reinen Logik. Also: 
die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade 
von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einver- 
leibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung. Wo 
Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schie- 
nen, ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt Leug- 
nung und Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahme-Denker, 
wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der 
natürlichen Irrthümer aufstellten und festhielten, glaubten 
daran, dass es möglich sei, dieses Gegentheil auch zu 
leben: sie erfanden den Weisen als den Menschen der 
Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der 
Anschauung, als Eins und Alles zugleich, mit einem 
eigenen Vermögen für jene umgekehrte Erkenntniss; 
sie waren des Glaubens, dass ihre Erkenntniss zugleich 
das Princip des Lebens sei. Um diess Alles aber be- 
haupten zu können, mussten sie sich über ihren eigenen 
Zustand täuschen: sie mussten sich Unpersönlichkeit 
und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des 
Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Er- 
kennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig 
freie, sich selbst entsprungene Activität fassen; sie 
hielten sich die Augen dafür zu, dass auch sie im 
Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen 
nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren 
Sätzen gekommen waren. Die feinere Entwickelung 
der Redlichkeit und der Skepsis machte endlich auch 
diese Menschen unmöglich; auch ihr Leben und Ur- 



 



- 141 - 



theilen ergab sich als abhängig von den uralten Trieben 
und Grundirrthümern alles empfindenden Daseins. — 
Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort 
ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf 
das Leben anwendbar erschienen, weil sich beide mit 
den Grundirrthümern vertrugen, wo also über den 
höheren oder geringeren Grad des Nutzens für das 
Leben gestritten werden konnte; ebenfalls dort, wo 
neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber 
wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusse- 
rungen eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig 
und glücklich gleich allem Spiele. Allmählich füllte sich 
das menschliche Gehirn mit solchen Urtheilen und Ueber- 
zeugungen, es entstand in diesem Knäuel Gährung, 
Kampf und Machtgelüst. Nützlichkeit und Lust nicht 
nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem 
Kampfe um die „Wahrheiten"; der intellectuelle Kampf 
wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pflicht, Würde — : 
das Erkennen und das Streben nach dem Wahren orcU^ 
nete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürf- 
nisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und ; 
die Ueberzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leug- 
nung, das Misstrauen, der Widerspruch eine Macht, , 
alle „bösen" Instincte waren der Erkenntniss unter- 
geordnet und in ihren Dienst gestellt und bekamen 
den Glanz des Erlaubten, Geehrten, Nützlichen und zu- 
letzt das Auge und die Unschuld des Guten. Die Er- 
kenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und 
als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht: bis 
endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirr- 
thümer auf einander stiessen, beide als Leben, beide 
als Macht, beide in dem selben Menschen. Der Denker: 



 



- 142 — 



das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahr- 
heit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten 
Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit 
sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat. Im 
Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles 
Andere gleichgültig: die letzte Frage um die Bedingimg 
des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird 
hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu 
antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einver- 
leibung? — das ist die Frage, das ist das Experiment. 



Herkunft des Logischen. — Woher ist die 
Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiss aus 
der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer ge- 
wesen sein muss. Aber unzählig viele Wesen, welche 
anders schlössen, als wir jetzt schliessen, giengen zu 
Grunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! 
Wer zum Beispiel das „Gleiche" nicht oft genug auf- 
zufinden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff 
der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam sub- 
sumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte 
nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, 
welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit 
rieth. Der überwiegende Hang aber, das Aehnliche 
als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang — denn 
es giebt an sich nichts Gleiches — , hat erst alle Grund- 
lage der Logik geschaffen. Ebenso musste, damit der 
Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für 
die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts 
Wirkliches entspricht, — lange Zeit das Wechselnde an 
den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden 



in. 




— 143 — 



sein; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen 
Vorsprang 1 vor denen, welche Alles „im Flusse" sahen. 
An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vor- 
sicht im Schliessen, jeder skeptische Hang eine grosse 
Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden 
Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte 
Hang, lieber zu bejahen als das Urtheil auszusetzen, 
lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber 
zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urtheilen als 
gerecht zu sein — ausserordentlich stark angezüchtet 
worden wäre. — Der Verlauf logischer Gedanken und 
Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem 
Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln 
alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren 
gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell 
und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mecha- 
nismus in uns ab. 

112. 

Ursache und Wirkung. — „Erklärung" nennen n 
wir's: aber „Beschreibung" ist es, was uns vor älteren 
Stufen der Erkenntniss und Wissenschaft auszeichnet. 
Wir beschreiben besser, — wir erklären ebenso wenig 
wie alle Früheren. Wir haben da ein vielfaches Nach- 
einander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher 
älterer Culturen nur Zweierlei sah, „Ursache" und „Wir- v 
kung", wie die Rede lautete; wir haben das Bild des , 
Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter 
das Bild nicht hinaus gekommen. Die Reihe der „Ur- j 
Sachen" steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, 
wir schliessen: diess und das muss erst vorangehen, da- 
mit jenes folge, — aber begriffen haben wir damit 
Nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen 



 



— 144 — 

Werden, erscheint nach wie vor als ein „Wunder", 
ebenso jede Fortbewegung; Niemand hat den Stoss 
„erklärt". Wie könnten wir auch erklären! Wir operiren 
mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien, 
Flachen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theil- 
baren Räumen — , wie soll Erklärung auch nur möglich 
sein, wenn wir Alles erst zum Bilde machen, zu unserem 
.Bilde ! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst 
getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir 
lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem 
wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ur- 
j sache und Wirkung: eine solche Zweiheit giebt es wahr- 
L scheinlich nie, — in Wahrheit steht ein continuum vor 
uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren; so wie wir 
eine Bewegung immer nur als isolirte Puncte wahr- 
nehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschliessen. 
Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen ab- 
heben, fuhrt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit 
für uns. Es giebt eine unendliche Menge von Vor- 
gängen in dieser Secunde der Plötzlichkeit, die uns 
entgehen. Ein Intellect, der Ursache und Wirkung als 
continuum, nicht nach unserer Art als willkürliches 
Zertheilt- und Zerstücktsein, sähe, der den Fluss des 
Geschehens sähe, — würde den Begriff Ursache und 
Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen. 

113. 

Zur Lehre von den Giften. — Es gehört so viel 
zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken ent- 
stehe: und alle diese nöthigen Kräfte haben einzeln 
erfunden, geübt, gepflegt werden müssen! In ihrer 
Vereinzelung haben sie aber sehr häufig eine ganz 



 



— 145 — 



andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des 
wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken 
und in Zucht halten: — sie haben als Gifte gewirkt, 
zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende 
Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, 
der auflösende Trieb. Viele Hekatomben von Menschen 
sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe 
lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit 
einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in 
Einem Menschen zu fühlen! Und wie ferne sind wir 
noch davon, dass zum wissenschaftlichen Denken sich 
auch noch die künstlerischen Kräfte und die practische 
Weisheit des Lebens hinzufinden, dass ein höheres or- 

i 

ganisches System sich bildet, in Bezug auf welches der 

i 

Gelehrte, der Arzt, der Künstler und der Gesetzgeber, 
so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige Alterthümer 
erscheinen müsstenl 

1 14. 

Umfang des Moralischen. — Wir construiren 
ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller 
alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je nach 
dem Grade unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es 
giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst _ 
nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung. 

115. 

Die vier Irrthümer. — Der Mensch ist durch 
seine Irrthümer erzogen worden: er sah sich erstens 
immer nur unvollständig, zweitens legte er sich er- 
dichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in 
einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, vier- 
tens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie 

Nietzsche, Die fröhliche Wi.sentchaft 1 0 



 



— 146 — 

eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald 
dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an 
der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung 
veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier 
Irrthümer weg, so hat man auch Humanität, Mensch- 
lichkeit und „Menschenwürde" hinweggerechnet. 

1 16. 

Heerden -Instinct. — Wo wir eine Moral an- 
treffen, da finden wir eine Abschätzung und Rang- 
ordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese 
Schätzungen und Rangordnungen sind immer der Aus- 
druck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Heerde: 
Das, was ihr am ersten frommt — und am zweiten und 
dritten — , das ist auch der oberste Maassstab für den 
Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Ein- 
zelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur 
als Function sich Werth zuzuschreiben. Da die Be- 
dingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr ver- 
schieden von denen einer anderen Gemeinde gewesen 
sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in Hin- 
sicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen 
der Heerden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften 

» 

kann man prophezeien, dass es noch sehr abweichende 
N ' Moralen geben wird. Moralität ist Heerden -Instinct 
im Einzelnen. 

117. 

Heerden-Gewissensbiss. — In den längsten und 
fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz an- 
deren Gewissensbiss als heut zu Tage. Heute fühlt man 
sich nur verantwortlich für Das, was man will und thut, 
und hat in sich selber seinen Stolz: alle unsere Rechts- 



 



- 147 - 

lehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des 
Einzelnen aus, wie als ob hier von jeher die Quelle 
des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit der 
Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als 
sich einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, 
weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum be- 
deuten — das war damals keine Lust, sondern eine 
Strafe; man wurde verurtheilt „zum Individuum". Ge- 
dankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Während 
wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbusse 
empfinden, empfand man ehedem den Egoismus als 
eine peinliche Sache, als eine eigentliche Noth. Selbst 
sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht 
schätzen — das gieng damals wider den Geschmack. 
Die Neigung dazu würde als Wahnsinn empfunden wor- 
den sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und 
jede Furcht verknüpft. Damals hatte der „freie Wille* 4 
das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: 
und je unfreier man handelte, je mehr der Heerden- 
Instinct und nicht der persönliche Sinn aus der Hand- 
lung sprach, um so moralischer schätzte man sich. Alles, 
was der Heerde Schaden that, sei es, dass der Einzelne 
es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem 
Einzelnen Gewissensbisse — und seinem Nachbar noch 
dazu, ja der ganzen Heerde! — Darin haben wir am 
allermeisten umgelernt. 

118. 

Wohlwollen. — Ist es tugendhaft, wenn eine 
Zelle sich in die Function einer stärkeren Zelle ver- 
wandelt? Sie muss es. Und ist es böse, wenn die 

stärkere jene sich assimilirt? Sie muss es ebenfalls; so ist 

10* 



 



— 148 — 



es für sie noth wendig, denn sie strebt nach überreich- 
lichem Ersatz und will sich regeneriren. Demnach hat 
man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungs- 
trieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der Stär- 
kere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude 
und Begehren sind bei dem Stärkeren, der Etwas zu 
seiner Function umbilden will, beisammen: Freude und 
Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der Func- 
tion werden möchte. — Mitleid ist wesentlich das Erstere, 
eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim 
Anblick des Schwächeren: wobei noch zu bedenken ist, 
dass „stark" und „schwach" relative Begriffe sind. 

119. 

Kein Altruismus! — Ich sehe an vielen Menschen 
eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein zu 
wollen; sie drängen sich dorthin und haben die feinste 
Witterung für alle jene Stellen, wo gerade sie Function 
sein können. Dahin gehören jene Frauen, die sich in 
die Function eines Mannes verwandeln, welche an ihm 
gerade schwach entwickelt ist, und dergestalt zu seinem 
Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu seiner Ge- 
selligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber 
am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus 
einfügen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärger- 
lich, gereizt und fressen sich selber auf. 

120. 

Gesundheit der Seele. — Die beliebte medi- 
cinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios 
ist): „Tugend ist die Gesundheit der Seele" — müsste 
wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeändert 



 



- 149 — 

werden: „deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele". 
Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle 
Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind kläglich 
missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, 
deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und 
namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele 
an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Ge- ' 
sundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzählige 
Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Ein- 
zelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt 
zu erheben, je mehr man das Dogma von der „Gleich- 
heit der Menschen" verlernt, um so mehr muss auch 
der Begriff einer Normal -Gesundheit, nebst Normal- 
Diät, Normal- Verlauf der Erkrankung unsern Medicinern 
abhanden kommen. Und dann erst dürfte es an der 
Zeit sein, über Gesundheit und Krankheit der Seele 
nachzudenken und die eigenthümliche Tugend eines 
Jeden in deren Gesundheit zu setzen: welche freilich 
bei dem Einen so aussehen könnte wie der Gegensatz 
der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch 
die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung ent- 
behren könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tu- 
gend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Er- 
kenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so 
gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der 
alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feig- 
heit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und 
Rückständigkeit sei. 

121. 

Das Leben kein Argument. — Wir haben uns 
eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können 
— mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, 



 



i - 150 — 

Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Ge- 
stalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es 
jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch 
nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter 
den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein. 

122. 

Die moralische Skepsis im Christenthum. — 
Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur 
Aufklärung gegeben: und lehrte die moralische Skepsis 
auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: an- 
klagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld 
und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen 
den Glauben an seine „Tugenden 44 : es Hess für immer 
jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, 
an denen das Alterthum nicht arm war, jene populären 
Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der 
Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn 
wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der 
Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Bei- 
spiel Seneca's und Epiktet's, lesen, so fühlen wir eine 
kurzweilige Ueberlegenheit und sind voller geheimer 
Einblicke und Ueberblicke, es ist uns dabei zu Muthe, 
als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge 
schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir 
kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir 
aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zu- 
stände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Hei- 
ligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, 
dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher 
das selbe Gefühl der feinen Ueberlegenheit und Einsicht 
haben: — wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! 



 



- 151 - 

Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu be- 
schreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens 
sterben aus: — retten wir ihr Abbild und ihren Typus 
wenigstens für. die Erkenntniss! 

123. 

Die Erkenntniss mehr, als ein Mittel. — Auch 
ohne diese neue Leidenschaft — ich meine die Leiden- 
schaft der Erkenntniss — würde die Wissenschaft ge- 
fördert werden: die Wissenschaft ist ohne sie bisher 
gewachsen^ und gross geworden. Der gute Glaube an 
die Wissenschaft, das ihr gunstige Vorurtheil, von dem 
unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es 
sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener 
unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offen- 
bart hat, und dass Wissenschaft eben nicht als Leiden- 
schaft, sondern als Zustand und ,, Ethos" gilt. Ja, es 
genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neu- 
gierde), es genügt amour-vanite, Gewöhnung an sie, mit 
der Hinterabsicht auf Ehre und Brod, es genügt selbst 
für Viele, dass sie mit einem Ueberschuss von Müsse 
Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, 
beobachten, weiter erzählen: ihr „wissenschaftlicher 
Trieb" ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte 
hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissen- 
schaft gesungen: er bezeichnet sie als den schönsten 
Schmuck und den grössten Stolz unseres Lebens, als 
eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück; „ohne 
sie, sagt er endlich, wäre alles menschliche Unternehmen 
ohne festen Halt, — auch mit ihr ist es ja noch ver- 
änderlich und unsicher genug!" Aber dieser leidlich 
skeptische Papst verschweigt, wie alle anderen kirch- 



 



- 152 - 

liehen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urtheil 
über sie. Mag man nun aus seinen Worten heraus- 
hören, was für einen solchen Freund der Kunst merk- 
würdig genug ist, dass er die Wissenschaft über die 
Kunst stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, 
wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch 
über alle Wissenschaft stellt: von der „geoffenbarten 
Wahrheit" und von dem „ewigen Heil der Seele", — 
was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, 
Sicherung des Lebens! „Die Wissenschaft ist Etwas 
von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein 
Gegenstand der Passion", — diess Urtheil blieb in der 
Seele Leo's zurück: das eigentlich christliche Urtheil 
über die Wissenschaft! Im Alterthum war ihre Würde 
und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter 
ihren eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tugend 
voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr 
höchstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man 
sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas 
Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr 
sein will, als ein Mittel. 

124. 

Im Horizont des Unendlichen. — Wir haben das 
Land verlassen und sind zu Schiff gegangen ! Wir haben 
die Brücke hinter uns, — mehr noch, wir haben das 
Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh' 
dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er 
brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide 
und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen 
Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist 
und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlich- 



 



- 153 — 

keit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat 
und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, 
wenn das Land-Heimweh dich befallt, als ob dort mehr 
Freiheit gewesen wäre, — und es giebt kein „Land" 
mehr! 

125. 

Der tolle Mensch. — Habt ihr nicht von jenem 
tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine 
Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich 
schrie: „Ich suche Gott! Ich suche Gott!" — Da dort 
gerade Viele von Denen zusammen standen, welche 
nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Ge- 
lächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der 
Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der 
Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich 
vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — 
so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle 
Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie 
mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott? rief er, ich will 
es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und 
ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben 
wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer aus- 
zutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen 
Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese 
Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie 
sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen 
Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rück- 
wärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt 
es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht 
wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht 
der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? 
Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? 



 



— 154 - 

Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet 
werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der 
Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir 
noch Nichts von der göttlichen Verwesung? — auch 
Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und 
wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mör- 
der aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was 
die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern 
verblutet, — wer wischt diess Blut von uns ab? Mit 
welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche 
Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir er- 
finden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu 
gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern 
werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab 
nie eine grössere That, — und wer nur immer nach 
uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine 
höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" — 
Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine 
Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet 
auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, 
dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu 
früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. 
Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wan- 
dert, — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Men- 
schen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das 
Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, 
auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört 
zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, 
als die fernsten Gestirne, — und doch haben sie die- 
selbe gethan!" — Man erzählt noch, dass der tolle 
Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen ein- 
gedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo 



 



— 155 - 



angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, 
habe er immer nur diess entgegnet: „Was sind denn 
diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und 
Grabmäler Gottes sind?" — 

126. 

Mystische Erklärungen. — Die mystischen Er- 
klärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie noch 
nicht einmal oberflächlich sind. 

127. 

Nachwirkung der ältesten Religiosität. — 
Jeder Gedankenlose meint, der Wille sei das allein Wir- 
kende; Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gege- 
benes, Unableitbares, An -sich -Verständliches. Er ist 
überzeugt, wenn er Etwas thut, zum Beispiel einen 
Schlag ausfuhrt, er sei es, der da schlage, und er habe 
geschlagen, weil er schlagen wollte. Er merkt gar 
Nichts von einem Problem daran, sondern das Gefühl 
des Willens genügt ihm, nicht nur zur Annahme von 
Ursache und Wirkung, sondern auch zum Glauben, ihr 
Verhältniss zu verstehen. Von dem Mechanismus des 
Geschehens und der hundertfaltigen feinen Arbeit, die 
abgethan werden muss, damit es zu dem Schlage komme, 
ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch 
nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er 
Nichts. Der Wille ist ihm eine magisch wirkende Kraft: 
der Glaube an den Willen, als an die Ursache von Wir- 
kungen, ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte. Nun 
hat ursprünglich der Mensch überall, wo er ein Geschehen 
sah, einen Willen als Ursache und persönlich wollende 
Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt, — der Be- 



 



— 156 — 



griff der Mechanik lag ihm ganz ferne. Weil aber 
der Mensch ungeheure Zeiten lang nur an Personen 
geglaubt hat (und nicht an Stoffe, Kräfte, Sachen und 
so weiter), ist ihm der Glaube an Ursache und Wir- 
kung zum Grundglauben geworden, den er überall, wo 
Etwas geschieht, verwendet, — auch jetzt noch instinctiv 
und als ein Stück Atavismus ältester Abkunft. Die 
Sätze „keine Wirkung ohne Ursache", „jede Wirkung 
wieder Ursache" erscheinen als Verallgemeinerungen 
viel engerer Sätze: „wo gewirkt wird, da ist gewollt 
worden", „es kann nur auf wollende Wesen gewirkt 
werden", „es giebt nie ein reines, folgenloses Erleiden 
einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung 
des Willens" (zur That, Abwehr, Rache, Vergeltung), 
— aber in den Urzeiten der Menschheit waren diese und 
jene Satze identisch, die ersten nicht Verallgemeine- 
rungen der zweiten, sondern die zweiten Erläuterungen 
der ersten. — Schopenhauer, mit seiner Annahme, dass 
Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei, hat eine 
uralte Mythologie auf den Thron gehoben; er scheint 
nie eine Analyse des Willens versucht zu haben,, weil 
er an die Einfachheit und Unmittelbarkeit alles Wol- 
lens glaubte, gleich Jedermann: — während Wollen 
nur ein so gut eingespielter Mechanismus ist, dass er 
dem beobachtenden Auge fast entläuft. Ihm gegenüber 
stelle ich diese Sätze auf: erstens, damit Wille entstehe, 
ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig. Zwei- 
tens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust em- 
pfunden werde, das ist die Sache des interpretiren- 
den Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst 
arbeitet; und ein und derselbe Reiz kann als Lust oder 
Unlust interpretirt werden. Drittens: nur bei den in- 



 



— 157 - 



tellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille; 
die ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts 
davon. 

128. 

Der Werth des Gebetes. — Das Gebet ist für 
solche Menschen erfunden, welche eigentlich nie von 
sich aus Gedanken haben und denen eine Erhebung der 
Seele unbekannt ist oder unbemerkt verläuft: was sollen 
Diese an heiligen Stätten und in allen wichtigen Lagen 
des Lebens, welche Ruhe und eine Art Würde erfordern? 
Damit sie wenigstens nicht stören, hat die Weisheit 
aller Religionsstifter, der kleinen wie der grossen, ihnen 
die Formel des Gebetes anbefohlen, als eine lange 
mechanische Arbeit der Lippen, verbunden mit An- 
strengung des Gedächtnisses und mit einer gleichen 
festgesetzten Haltung von Händen und Füssen und 
Augen! Da mögen sie nun gleich den Tibetanern ihr 
„om mane padme hum" unzählige Male wiederkäuen, 
oder, wie in Benares, den Namen des Gottes Ram- 
Ram-Ram (und so weiter mit oder ohne Grazie) an den 
Fingern abzählen : oder den Wischnu mit seinen tausend, 
den Allah mit seinen neunundneunzig Anrufnamen ehren: 
oder sie mögen sich der Gebetmühlen und der Rosen- 
kränze bedienen, — die Hauptsache ist, dass sie mit 
dieser Arbeit für eine Zeit festgemacht sind und einen 
erträglichen Anblick gewähren: ihre Art Gebet ist zum 
Vortheil der Frommen erfunden, welche Gedanken und 
Erhebungen von sich aus kennen. Und selbst Diese 
haben ihre müden Stunden, wo ihnen eine Reihe ehr- 
würdiger Worte und Klänge und eine fromme Mechanik 
wohlthut. Aber angenommen, dass diese seltenen Men- 
schen — in jeder Religion ist der religiöse Mensch 



 



— 158 — 

eine Ausnahme — sich zu helfen wissen: jene Armen 
im Geiste wissen sich nicht zu helfen, und ihnen das 
Gebets-Geklapper verbieten heisst ihnen ihre Religion 
nehmen: wie es der Protestantismus mehr und mehr 
an den Tag bringt. Die Religion will von Solchen eben 
nicht mehr, als dass sie Ruhe halten, mit Augen, Hän- 
den, Beinen und Organen aller Art: dadurch werden 
sie zeitweilig verschönert und — menschenähnlicher! 

129. 

Die Bedingungen Gottes. — „Gott selber kann 
nicht ohne weise Menschen bestehen" — hat Luther 
gesagt und mit gutem Rechte; aber „Gott kann noch 
weniger ohne unweise Menschen bestehen" — das hat 
der gute Luther nicht gesagt! 

130. 

Ein gefährlicher Entschluss. — Der christliche 
Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu finden, 
hat die Welt hässlich und schlecht gemacht. 

131. 

Christenthum und Selbstmord. — Das Christen- 
thum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure 
Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner 
Macht gemacht: es Hess nur zwei Formen des Selbst- 
mordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde 
und den höchsten Hoffnungen und verbot alle anderen 
auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und 
die langsame Selbstentleibung des Asketen waren er- 
laubt. 



 



- 159 - 



132. 

Gegen das Christenthum. — Jetzt entscheidet 
unser Geschmack gegen das Christenthum, nicht mehr 
unsere Gründe. 

1 33' 

Grundsatz. — Eine unvermeidliche Hypothese, 
auf welche die Menschheit immer wieder verfallen muss, 
ist auf die Dauer doch mächtiger, als der bestgeglaubte 
Glaube an etwas Unwahres (gleich dem christlichen 
Glauben). Auf die Dauer: das heisst hier auf hundert- 
tausend Jahre hin. 

134- 

Die Pessimisten als Opfer. — Wo eine tiefe 
Unlust am Dasein überhand nimmt, kommen die Nach- 
wirkungen eines grossen Diätfehlers, dessen sich ein 
Volk lange schuldig gemacht hat, an's Licht. So ist 
die Verbreitung des Buddhismus (nicht seine Entstehung) 
zu einem guten Theile abhängig von der übermässigen 
und fast ausschliesslichen Reiskost der Inder und der 
dadurch bedingten allgemeinen Erschlaffung. Vielleicht 
ist die europäische Unzufriedenheit der neuen Zeit darauf- 
hin anzusehen, dass unsere Vorwelt, das ganze Mittel- 
alter, Dank den Einwirkungen der germanischen Nei- 
gungen auf Europa, dem Trunk ergeben war: Mittel- 
alter, das heisst die Alkoholvergiftung Europa's. — 
Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Winter- 
siechthum, eingerechnet die Wirkungen der Keller- 
luft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen. 

135. 

Herkunft der Sünde. — Sünde, so wie sie jetzt 
überall empfunden wird, wo das Christenthum herrscht 



 



- 160 - 



oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches 
Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht 
auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war 
in der That das Christenthum darauf aus, die ganze 
Welt zu „verjüdeln". Bis zu welchem Grade ihm diess 
in Huropa gelungen ist, das spürt man am feinsten an 
dem Grade von Fremdheit, den das griechische Alter- 
thum — eine Welt ohne Sündengefuhle — immer noch 
für unsere Empfindung hat, trotz allem guten Willen 
zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze 
Geschlechter und viele ausgezeichnete Einzelne nicht 
haben fehlen lassen. „Nur wenn du bereuest, ist Gott 
dir gnädig" — das ist einem Griechen ein Gelächter 
und ein Aergerniss: er würde sagen „so mögen Sclaven 
empfinden". Hier ist ein Mächtiger, Uebermächtiger 
und doch Rachelustiger vorausgesetzt: seine Macht ist 
so gross, dass ihm ein Schaden überhaupt nicht zu- 
gefugt werden kann, ausser in dem Puncte der Ehre. 
Jede Sünde ist eine Respects -Verletzung, ein crimen 
laesae majestatis divinae — und Nichts weiter! Zer- 
knirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen — das 
ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade 
sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen 
Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, 
ob ein tiefes wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, 
das einen Menschen nach dem andern wie eine Krank- 
heit fasst und würgt — das lässt diesen ehrsüchtigen 
Orientalen im Himmel unbekümmert: Sünde ist ein Ver- 
gehen an ihm, nicht an der Menschheit! — wem er 
seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese 
Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. 
Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegen- 



 



— 161 - 

gesetzt gedacht, dass im Grunde an letzterer überhaupt 
nicht gesündigt werden kann, — jede That soll nur 
auf ihre übernatürlichen Folgen hin angesehen 
werden: nicht auf ihre natürlichen: so will es das jü- 
dische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an 
sich ist. Den Griechen dagegen lag der Gedanke näher, 
dass auch der Frevel Würde haben könne — selbst 
der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Ab- 
schlachtung von Vieh als Aeusserung eines wahnsinnigen 
Neides, wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfniss, 
dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die 
Tragödie erfunden, — eine Kunst und eine Lust, die 
dem Juden, trotz aller seiner dichterischen Begabung 
und Neigung zum Erhabenen, im tiefsten Wesen fremd 
geblieben ist. 

136. 

Das auserwählte Volk. — Die Juden, die sich 
als das auserwählte Volk unter den Völkern fühlen, 
und zwar weil sie das moralische Genie unter den Völ- 
kern sind (vermöge der Fähigkeit, dass sie den Men- 
schen in sich tiefer verachtet haben, als irgend ein 
Volk) — die Juden haben an ihrem göttlichen Monarchen 
und Heiligen einen ähnlichen Genuss wie der war, welchen 
der französische Adel an Ludwig dem Vierzehnten hatte. 
Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbst- 
herrlichkeit nehmen lassen und war verächtlich ge- 
worden: um diess nicht zu fühlen, um diess vergessen zu 
können, bedurfte es eines königlichen Glanzes, einer 
königlichen Autorität und Machtfulle ohne Gleichen, 
zu der nur dem Adel der Zugang offen stand. Indem 
man gemäss diesem Vorrecht sich zur Höhe des Hofes 
erhob und von da aus blickend Alles unter sich, Alles 

Nietzsche, Die fröhliche Wi.ienichaft. 1 1 



 



— 162 — 



verächtlich sah, kam man über alle Reizbarkeit des 
Gewissens hinaus. So thürmte man absichtlich den 
Thurm der königlichen Macht immer mehr in die Wolken 
hinein und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht 
4aran. 

137. 

Im Gleichniss gesprochen. — Ein Jesus Christus 
war nur in einer jüdischen Landschaft möglich — ich 
meine in einer solchen, über der fortwährend die düstere 
und erhabene Gewitterwolke des zürnenden Jehovah 
hieng. Hier allein wurde das seltene plötzliche Hin- 
durchleuchten eines einzelnen Sonnenstrahls durch die 
grauenhafte allgemeine und andauernde Tag -Nacht wie 
ein Wunder der „Liebe" empfunden, als der Strahl der 
unverdientesten „Gnade". Hier allein konnte Christus 
seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, 
auf der Gott zu den Menschen hinabstieg; überall 
sonst galt das helle Wetter und die Sonne zu sehr als 
Regel und Alltäglichkeit. 

13$- 

Der Irrthum Christi. — Der Stifter des Christen- 
thums meinte, an Nichts litten die Menschen so sehr, 
als an ihren Sünden: — es war sein Irrthum, der Irr- 
thum Dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin 
an Erfahrung gebrach! So füllte sich seine Seele mit 
jenem wundervollen phantastischen Erbarmen, das einer 
Noth galt, welche selbst bei seinem Volke, dem Er- 
finder der Sünde, selten eine grosse Noth war! — Aber 
die Christen haben es verstanden, ihrem Meister nach- 
träglich Recht zu schaffen und seinen Irrthum zur 
„Wahrheit" zu heiligen. 



 



— 163 — 



139- 

Farbe der Leidenschaften. — Solche Naturen, 
wie die des Apostel Paulus, haben für die Leiden- 
schaften einen bösen Blick; sie lernen von ihnen nur 
das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen, 
— ihr idealer Drang geht daher auf Vernichtung der 
Leidenschaften aus: im Göttlichen sehen sie die völlige 
Reinheit davon. Ganz anders, als Paulus und die Juden, 
haben die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die 
Leidenschaften gewendet und diese geliebt, gehoben, 
vergoldet und vergöttlicht; offenbar fühlten sie sich in 
der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch 
reiner und göttlicher, als sonst. — Und nun die Christen? 
Wollten sie hierin zu Juden werden? Sind sie es viel- 
leicht geworden? 

140. 

Zu jüdisch. — Wenn Gott ein Gegenstand der 
Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Rich- 
tens und der Gerechtigkeit begeben müssen: — ein 
Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegen- 
stand der Liebe. Der Stifter des Christenthums em- 
pfand hierin nicht fein genug, — als Jude. 

141. 

Zu orientalisch. — Wie? Ein Gott, der die Men- 
schen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und 
der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den 
schleudert, der nicht an diese Liebe glaubt! Wie? 
eine verclausulirte Liebe als die Empfindung eines all- 
mächtigen Gottes! Eine Liebe, die nicht einmal über 
das Gefühl der Ehre und der gereizten Rachsucht Herr 

geworden ist! Wie orientalisch ist das Alles! „Wenn 

11* 



 



- 164 — 



ich dich liebe, was geht's dich an?" ist schon eine aus- 
reichende Kritik des ganzen Christenthums. 

142. 

Räucherwerk. ^- Buddhasagt: „schmeichle deinem 
Wohlthäter nicht! 44 Man spreche diesen Spruch nach 
in einer christlichen Kirche: — er reinigt sofort die 
Luft von allem Christlichen. 

H3- 

Grösster Nutzen des Polytheismus. — Dass 
der Einzelne sich sein eigenes Ideal aufstelle und aus 
ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ab- 
leite — das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste 
aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei 
an sich; in der That haben die Wenigen, die diess wag- 
ten, immer vor sich selber eine Apologie nöthig ge- 
habt, und diese lautete gewöhnlich: „nicht ich! nicht 
ich! sondern ein Gott durch mich!" Die wundervolle 
Kunst und Kraft, Götter zu schaffen — der Polytheis- 
mus — war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, 
in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte: 
denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehn- 
licher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame 
und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale 
feind sein: das war ehemals das Gesetz jeder Sittlich- 
keit. Da gab es nur Eine Norm: „der Mensch" — und 
jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu 
haben. Aber über sich und ausser sich, in einer fernen 
Ueberwelt, durfte man eine Mehrzahl von Normen 
sehen: der eine Gott war nicht die Leugnung oder 
Lästerung des anderen Gottes! Hier erlaubte man sich 



 



- 165 - 

zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von 
Individuen. Die Erfindung von Göttern, Heroen und 
Uebermenschen aller Art, sowie von Neben- und Unter- 
menschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, 
Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung 
zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlich- 
keit des Einzelnen: die Freiheit, welche man dem Gotte 
gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt 
sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn. 
Der Monotheismus dagegen, diese starre Consequenz 
der Lehre von Einem Normalmenschen — also der 
Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch 
falsche Lügengötter giebt — war vielleicht die grösste 
Gefahr der bisherigen Menschheit: da drohte ihr jener 
vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, 
die meisten anderen Thiergattungen schon längst er- 
reicht haben; als welche alle an Ein Normalthier und 
Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der 
Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben. 
Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei 
des Menschen vorgebildet: die Kraft, sich neue und 
eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue 
und noch eigenere: sodass es für den Menschen 
allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und 
Perspectiven giebt. 

144. 

Religionskriege. — Der grösste Fortschritt der 
Massen war bis jetzt der Religionskrieg: denn er be- 
weist, dass die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehr- 
furcht zu behandeln. Religionskriege entstehen erst, 
wenn durch die feineren Streitigkeiten der Secten die 



 



- 166 — 

allgemeine Vernunft verfeinert ist: sodass selbst der 
Pöbel spitzfindig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, 
ja es für möglich hält, dass das „ewige Heil der Seele" 
an den kleinen Unterschieden der Begriffe hängt. 

"45- 

Gefahr der Vegetarianer. — Der vorwiegende 
ungeheure Reisgenuss treibt zur Anwendung von Opium 
und narkotischen Dingen, in gleicher Weise wie der 
vorwiegende ungeheure Kartoffelgenuss zu Branntwein 
treibt — : er treibt aber, in feinerer Nachwirkung, auch 
zu Denk- und Gefuhlsweisen, die narkotisch wirken. 
Damit stimmt zusammen, dass die Förderer narkotischer 
Denk- und Gefuhlsweisen, wie jene indischen Lehrer, 
gerade eine Diät preisen und zum Gesetz der Masse 
machen möchten, welche rein vegetabilisch ist: sie 
wollen so das Bedürfniss hervorrufen und mehren, 
welches sie zu befriedigen im Stande sind. 

146. 

Deutsche Hoffnungen. — Vergessen wir doch 
nicht, dass die Völkernamen gewöhnlich Schimpfhamen 
sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach 
„die Hunde" : so wurden sie von den Chinesen getauft. Die 
„Deutschen": das bedeutet ursprünglich „die Heiden": 
so nannten die Gothen nach ihrer Bekehrung die grosse 
Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach An- 
leitung ihrer Uebersetzung der Septuaginta, in der die 
Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im 
Griechischen „die Völker" bedeutet: man sehe Ulfilas. — 
Es wäre immer noch möglich, dass die Deutschen aus 
ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehren- 



 



— 167 - 

namen machten, indem sie das erste unchristliche 
Volk Europa's würden: wozu in hohem Maasse angelegt 
zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So 
käme das Werk Luther 's zur Vollendung, der sie gelehrt 
hat, unrömisch zu sein und zu sprechen: „hier stehe 
ich! Ich kann nicht anders!" — 

147. 

Frage und Antwort. — Was nehmen jetzt wilde 
Völkerschaften zuerst von den Europäern an? Brannt- 
wein und Christenthum, die europäischen Narcotica. — 
Und woran gehen sie am schnellsten zu Grunde? — 
An den europäischen Narcoticis. 

148. 

Wo die Reformationen entstehen. — Zur Zeit 
der grossen Kirchen- Verderbniss war in Deutschland 
die Kirche am wenigsten verdorben: desshalb entstand 
hier die Reformation, als das Zeichen, dass schon die 
Anfange der Verderbniss unerträglich empfunden wur- 
den. Verhältnissmässig war nämlich kein Volk jemals 
christlicher, als die Deutschen zur Zeit Luther's: ihre 
christliche Cultur war eben bereit, zu einer hundert- 
faltigen Pracht der Blüthe auszuschlagen, — es fehlte 
nur noch Eine Nacht; aber diese brachte den Sturm, 
der Allem ein Ende machte. 

149. 

Misslingen der Reformationen. — Es spricht 
für die höhere Cultur der Griechen selbst in ziemlich 
frühen Zeiten, dass mehrere Male die Versuche, neue 
griechische Religionen zu gründen, gescheitert sind; es 



 



— 168 — 



spricht dafür, dass es schon früh eine Menge verschie- 
denartiger Individuen in Griechenland gegeben haben 
muss, deren verschiedenartige Noth nicht mit einem 
einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens abzuthun 
war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, 
und bereits viel früher die orphischen Schwarmgeister, 
waren darauf aus, neue Religionen zu gründen; und die 
beiden Erstgenannten hatten so ächte Religionsstifter- 
Seelen und -Talente, dass man sich über ihr Miss- 
lingen nicht genug verwundern kann: sie brachten es 
aber nur zu Secten. Jedes Mal, wo die Reformation 
eines ganzen Volkes misslingt und nur Secten ihr Haupt 
emporheben, darf man schliessen, dass das Volk schon 
sehr vielartig in sich ist und sich von den groben 
Heerdeninstincten und der Sittlichkeit der Sitte loszu- 
lösen beginnt: ein bedeutungsvoller Schwebezustand, 
den man als Sittenverfall und Corruption zu verun- 
glimpfen gewohnt ist: während er das Reifwerden des 
Eies und das nahe Zerbrechen der Eierschaale ankündigt. 
Dass Luther's Reformation im Norden gelang, ist ein 
Zeichen dafür, dass der Norden gegen den Süden Eu- 
ropa's zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige 
und einfarbige Bedürfnisse kannte; und es hätte über- 
haupt keine Verchristlichung Europa's gegeben, wenn 
nicht die Cultur der alten Welt des Südens allmählich 
durch eine übermässige Hinzumischung von germa- 
nischem Barbarenblut barbarisirt und ihres Cultur- 
Uebergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allge- 
meiner und unbedingter ein Einzelner oder der Gedanke 
eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und 
um so niedriger muss die Masse sein, auf die da ge- 
wirkt wird; während Gegenbestrebungen innere Gegen- 



 



- 169 — 

bedürfnisse verrathen, welche auch sich befriedigen und 
durchsetzen wollen. Umgekehrt darf man immer auf 
eine wirkliche Höhe der Cultur schliessen, wenn mäch- 
tige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer ge- 
ringen und sectirerischen Wirkung bringen: diess gilt 
auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Er- 
kenntniss. Wo geherrscht wird, da giebt es Massen: 
wo Massen sind, da giebt es ein Bedürfhiss nach Scla- 
verei. Wo es Sclaverei giebt, da sind der Individuen 
nur wenige, und diese haben die Heerdeninstincte und 
das Gewissen gegen sich. 

150. 

Zur Kritik der Heiligen. — Muss man denn, 
um eine Tugend zu haben, sie gerade in ihrer brutalsten 
Gestalt haben wollen? — wie es die christlichen Heiligen 
wollten und nöthig hatten; als welche das Leben nur 
mit dem Gedanken ertrugen, dass beim Anblick ihrer 
Tugend einen Jeden die Verachtung seiner selber an- 
wandelte. Eine Tugend aber mit solcher Wirkung nenne 
ich brutal. 

151- 

Vom Ursprünge der Religion. — Das meta- 
physische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der Reli- 
gionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein Nach- 
schössling derselben. Man hat sich unter der Herr- 
schaft; religiöser Gedanken an die Vorstellung einer 
„anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt" gewöhnt 
und fühlt bei der Vernichtung der religiösen Gedanken 
eine unbehagliche Leere und Entbehrung, v — und nun 
wächst aus diesem Gefühle wieder eine „andere Welt" 
heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht 



 



— 170 — 

mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur An- 
nahme einer „anderen Welt" überhaupt führte, war 
nicht ein Trieb und Bedürfhiss, sondern ein Irr- 
thum in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, 
eine Verlegenheit des Intellects. 

> 

Die grösste Veränderung. — Die Beleuchtung 
und die Farben aller Dinge haben sich verändert! Wir 
verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das 
Nächste und Häufigste empfanden, — zum Beispiel den 
Tag und das Wachen: dadurch, dass die Alten an 
Träume glaubten, hatte das wache Leben andere Lichter. 
Und ebenso das ganze Leben, mit der Zurückstrahlung 
des Todes und seiner Bedeutung: unser „Tod" ist ein 
ganz anderer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, 
denn ein Gott glänzte aus ihnen; alle Entschlüsse und 
Aussichten auf die ferne Zukunft ebenfalls: denn man 
hatte Orakel und geheime Winke und glaubte an die 
Vorhersagung. „Wahrheit" wurde anders empfunden, 
denn der Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mund- 
stück gelten, — was uns schaudern oder lachen macht. 
Jedes Unrecht wirkte anders auf das Gefühl: denn man 
fürchtete eine göttliche Vergeltung und nicht nur eine 
bürgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude 
in der Zeit, als man an die Teufel und die Versucher 
glaubte 1 Was die Leidenschaft, wenn man die Dä- 
monen in der Nähe lauern sah! Was die Philosophie, 
wenn der Zweifel als Versündigung der gefahrlichsten 
Art gefühlt wurde, und zwar als ein Frevel an der 
ewigen Liebe, als Misstrauen gegen Alles, was gut, 
hoch, rein und erbarmend war! — Wir haben die Dinge 



 



— 171 — 



neu gefärbt, wir malen immerfort an ihnen, — aber 
was vermögen wir einstweilen gegen die Farben- 
pracht jener alten Meisterin! — ich meine die alte 
Menschheit. 

153. 

Homo poeta. — „Ich selber, der ich höchst eigen- 
händig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe, 
soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral 
erst in's Dasein hineinknüpfte und so fest zog, dass nur 
ein Gott ihn lösen kann, — so verlangt es ja Horaz! — 
ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter um- 
gebracht, — aus Moralität! Was soll nun aus dem 
fünften werden! Woher noch die tragische Lösung 
nehmen! — Muss ich anfangen, über eine komische 
Lösung nachzudenken?'* 

154. 

Verschiedene Gefährlichkeit des Lebens. — 
Ihr wisst gar nicht, was ihr erlebt, ihr lauft wie be- 
trunken durch's Leben und fallt ab und zu eine Treppe 
hinab. Aber, Dank eurer Trunkenheit, brecht ihr doch 
nicht dabei die Glieder: eure Muskeln sind zu matt und 
euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die Steine dieser 
Treppe so hart fandet, wie wir Anderen! Für uns ist 
das Leben eine grössere Gefahr: wir sind von Glas — 
wehe, wenn wir uns stossen! Und Alles ist verloren, 
wenn wir fallen! 

155. 

Was uns fehlt. — Wir lieben die grosse Natur und 
haben sie entdeckt: das kommt daher, dass in unserem 
Kopfe die grossen Menschen fehlen. Umgekehrt die Grie- 
chen: ihr Naturgefühl ist ein anderes, als das unsrige. 



 



172 



156. 

Der Einflussreichste. — Dass ein Mensch seiner 
ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Thore aufhält 
und zur Rechenschaft zieht, das muss Einfluss üben! 
Ob er es will, ist gleichgültig; dass er es kann, ist die 
Sache. 

157. 

Mentiri. — Gieb Acht! — er sinnt nach: sofort 
wird er eine Lüge bereit haben. Diess ist eine Stufe 
der Cultur, auf der ganze Völker gestanden haben. 
Man erwäge doch, was die Römer mit mentiri aus- 
drückten! 

158. 

Unbequeme Eigenschaft. — Alle Dinge tief 
finden — das ist eine unbequeme Eigenschaft: sie 
macht, dass man beständig seine Augen anstrengt und 
am Ende immer mehr findet, als man gewünscht hat. 

159. 

Jede Tugend hat ihre Zeit. — Wer jetzt un- 
beugsam ist, dem macht seine Redlichkeit oft Ge- 
wissensbisse: denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend 
eines anderen Zeitalters, als die Redlichkeit. 

160. 

Im Verkehre mit Tugenden. — Man kann auch 
gegen eine Tugend würdelos und schmeichlerisch sein. 

161. 

An die Liebhaber der Zeit. — Der entlaufene 
Priester und der entlassene Sträfling machen fortwäh- 
rend Gesichter: was sie wollen, ist ein Gesicht ohne 



 



— 173 - 



Vergangenheit. — Habt ihr aber schon Menschen ge- 
sehen, welche wissen, dass die Zukunft in ihrem Ge- 
sichte sich spiegelt, und welche so höflich gegen euch, 
ihr Liebhaber der „Zeit", sind, dass sie ein Gesicht ohne 
Zukunft machen? — 

162. 

Egoismus. — Egoismus ist das perspectivische 
Gesetz der Empfindung, nach dem das Nächste gross 
und schwer erscheint: während nach der Ferne zu alle 
Dinge an Grösse und Gewicht abnehmen. 

163. 

Nach einem grossen Siege. — Das Beste an 
einem grossen Siege ist, dass er dem Sieger die Furcht 
vor einer Niederlage nimmt. „Warum nicht auch ein- 
mal unterliegen? — sagt er sich: ich bin jetzt reich 
genug dazu". 

164. 

Die Ruhesuchenden. — Ich erkenne die Geister, 
welche Ruhe suchen, an den vielen dunklen Gegen- 
ständen, welche sie um sich aufstellen: wer schlafen 
will, macht sein Zimmer dunkel oder kriecht in eine 
Höhle. — Ein Wink für Die, welche nicht wissen, was 
sie eigentlich am meisten suchen, und es wissen möchten I 

165. 

Vom Glücke der Entsagenden. — Wer sich 
Etwas gründlich und auf lange Zeit hin versagt, wird, 
bei einem zufälligen Wiederantreffen desselben, fast 
vermeinen, es entdeckt zu haben, — und welches 
Glück hat jeder Entdecker! Seien wir klüger, als die 
Schlangen, welche zu lange in der selben Sonne liegen. 



 



- 174 — 



i66. 

Immer in unserer Gesellschaft. — Alles, was 
meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet zu mir, 
lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich — : das 
Andere höre ich nicht oder vergesse es gleich. Wir 
sind stets nur in unserer Gesellschaft 

167. 

Misanthropie und Liebe. — Man spricht nur 
dann davon, dass man der Menschen satt sei, wenn 
man sie nicht mehr verdauen kann und doch noch den 
Magen voll davon hat. Misanthropie ist die Folge 
einer allzubegehrlichen Menschenliebe und „Menschen- 
fresserei", — aber, wer hiess dich auch Menschen zu 
verschlucken wie Austern, mein Prinz Hamlet? 

168. 

Von einem Kranken. — „Es steht schlecht um 
ihn!" — Woran fehlt es? — „Er leidet an der Be- 
gierde, gelobt zu werden, und findet keine Nahrung 
für sie." — Unbegreiflich! Alle Welt feiert ihn, und 
man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch 
auf den Lippen! — „Ja, aber er hat ein schlechtes Ge- 
hör für das Lob. Lobt ihn ein Freund, so klingt es 
ihm, als ob dieser sich selber lobe; lobt ihn ein Feind, 
so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden 
wolle; lobt ihn endlich einer der Uebrigen — es sind 
gar nicht so Viele übrig, so berühmt ist er! — so be- 
leidigt es ihn, dass man ihn nicht zum Freund oder Feind 
haben wolle; er pflegt zu sagen: „Was liegt mir an 
Einem, der gar noch gegen mich den Gerechten zu 
spielen vermag!" 



 



— 175 - 



169. 

Offene Feinde. — Die Tapferkeit vor dem Feinde 
ist ein Ding für sich: damit kann man immer noch ein 
Feigling und ein unentschlossener Wirrkopf sein. So 
urtheilte Napoleon in Hinsicht auf den „tapfersten Men- 
schen", der ihm bekannt sei, Murat: — woraus sich 
ergiebt, dass offene Feinde für manche Menschen un- 
entbehrlich sind, falls sie sich zu ihrer Tugend, ihrer 
Männlichkeit und Heiterkeit erheben sollen. 

170. 

Mit der Menge. — Er läuft bisher mit der Menge 
und ist ihr Lobredner: aber eines Tages wird er ihr 
Gegner sein! Denn er folgt ihr im Glauben, dass seine 
Faulheit dabei ihre Rechnung fände: er hat noch nicht 
erfahren, dass die Menge nicht faul genug für ihn ist! 
dass sie immer vorwärts drängt! dass sie Niemandem 
erlaubt, stehen zu bleiben! — Und er bleibt so gern 
stehen! 

171. 

Ruhm. — Wenn die Dankbarkeit Vieler gegen 
Einen alle Scham wegwirft, so entsteht der Ruhm. 

172. 

Der Geschmacks-Verderber. — A.: „Du bist 
ein Geschmacks-Verderber, — so sagt man überall!" 
B.: „Sicherlich! Ich verderbe Jedermann den Geschmack 
an seiner Partei: — das verzeiht mir keine Partei.* 4 

173. 

Tief sein und tief scheinen. — Wer sich tief 
weiss, bemüht sich um Klarheit; wer der Menge tief 



 



— 176 — 



scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn 
die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht 
sehen kann: sie ist so furchtsam und geht so ungern 
in's Wasser. 

174. 

Abseits. — Der Parlamentarismus, das heisst die 
öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen Grund- 
meinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen 
Vielen ein, welche gerne selbständig und individuell 
scheinen und für ihre Meinungen kämpfen möchten. 
Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Heerde Eine 
Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. — 
Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und 
bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich. 

175. 

Von der Beredtsamkeit. — Wer besass bis jetzt 
die überzeugendste Beredtsamkeit? Der Trommelwirbel : 
und so lange die Könige diesen in der Gewalt haben, 
sind sie immer noch die besten Redner und Volks- 
aufwiegler. 

176. 

Mitleiden. — Die armen regierenden Fürsten! 
Alle ihre Rechte verwandeln sjch jetzt unversehens in 
Ansprüche, und all diese Ansprüche klingen bald wie 
Anmaassungen ! Und wenn sie nur „Wir" sagen oder 
„mein Volk", so lächelt schon das alte boshafte Europa. 
Wahrhaftig, ein Oberceremonienmeister der modernen 
Welt würde wenig Ceremonien mit ihnen machen; 
vielleicht würde er decretiren: „les souverains rangent 
aux parvenus". 



 



- 177 — 



1 77- 

Zum „Erziehungswesen". — In Deutschland fehlt 
dem höheren Menschen ein grosses Erziehungsmittel: 
das Gelächter höherer Menschen: diese lachen nicht in 
Deutschland. 

178. 

Zur moralischen Aufklärung. — Man muss den^l 
Deutschen ihren Mephistopheles ausreden: und ihren I 
Faust dazu. Es sind zwei moralische Vorurtheile gegen 
den Werth der Erkenntniss. 

179. : 
Gedanken. — Gedanken sind die Schatten unserer 
Empfindungen, — immer dunkler, leerer, einfacher, als 
diese. 

180. 

Die gute Zeit der freien Geister. — Die freien 
Geister nehmen sich auch vor der Wissenschaft noch 
ihre Freiheiten — und einstweilen giebt man sie ihnen 
auch, — so lange die Kirche noch steht! — In so fern 
haben sie jetzt ihre gute Zeit. 

■ 

181. 

Folgen und Vorangehen. — A.: „Von den Beiden 
wird der Eine immer folgen, der Andere immer^ voran- 
gehen, wohin sie auch das Schicksal führt. Und doch 
steht der Erstere über dem Anderen, nach seiner Tu- 
gend und seinem Geiste!" B.: „Und doch? Und doch? 
Das ist für die Anderen geredet; nicht für mich, nicht 
für uns! — Fit secundum regulam." 

♦ 

Nie tische, Die fröhliche Wis«en»chaft. 12 



 



— 178 — 



182. 

In der Einsamkeit. — Wenn man allein lebt, so 
spricht man nicht zu laut, man schreibt auch nicht zu 
laut: denn man furchtet den hohlen Widerhall — die 
Kritik der Nymphe Echo. — Und alle Stimmen klingen 
anders in der Einsamkeit 1 

183. 

Die Musik der besten Zukunft. — Der erste 
Musiker würde mir der sein, welcher nur die Traurig- 
keit des tiefsten Glückes kennte, und sonst keine Traurig- 
keit: einen solchen gab es bisher nicht. 

184. 

Justiz. — Lieber sich bestehlen lassen, als Vogel- 
scheuchen um sich haben — das ist mein Geschmack. 
Und es ist unter allen Umstanden eine Sache des Ge- 
schmackes — und nicht mehr! 

185. 

Arm. — Er ist heute arm: aber nicht weil man 
ihm Alles genommen, sondern weil er Alles weggeworfen 
hat: — was macht es ihm? Er ist daran gewöhnt, zu 
finden. — Die Armen sind es, welche seine freiwillige 
Armuth miss verstehen. 

186. 

Schlechtes Gewissen. — Alles, was er jetzt thut, 
ist brav und ordentlich — und doch hat er ein schlech- 
tes Gewissen dabei. Denn das Ausserordentliche ist 
seine Aufgabe. 

187. 

Das Beleidigende im Vortrage. — Dieser 
Künstler beleidigt mich durch die Art, wie er seine 



 



— 179 - 

Einfalle, seine sehr guten Einfälle vorträgt: so breit 
und nachdrücklich, und mit so groben Kunstgriffen der 
Ueberredung, als ob er zum Pöbel spräche. Wir sind 
immer nach einiger Zeit, die wir seiner Kunst schenkten, 
wie „in schlechter Gesellschaft". 

188. 

Arbeit. — Wie nah steht jetzt auch dem Müssig- 
sten von uns die Arbeit und der Arbeiter! Die könig- 
liche Höflichkeit in dem Worte „wir Alle sind Arbeiter!" 
Wäre noch unter Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus 
und eine Indecenz gewesen. 

189. 

Der Denker. — Er ist ein Denker: das heisst, er 
versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen,, 
als sie sind. 

190. 

Gegen die Lobenden. — A.: „Man wird nur von 
Seinesgleichen gelobt!" B.: „Ja! Und wer dich lobt, 
sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!" 

191. 

Gegen manche Vertheidigung. — Die perfi- 
deste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich 
mit fehlerhaften Gründen vertheidigen. 

192. 

Die Gutmüthigen. — Was unterscheidet jene 

Gutmüthigen, denen Wohlwollen aus dem Gesichte 

strahlt, von den anderen Menschen? Sie fühlen sich in 

Gegenwart einer neuen Person wohl und sind schnell 

12* 



 



— 180 — 



in sie verliebt; sie wollen ihr dafür wohl, ihr erstes 
Urtheil ist „sie gefallt mir 44 . Bei ihnen folgt auf ein- 
ander: Wunsch der Aneignung (sie machen sich wenig 
Scrupel über den Werth des Anderen), rasche An- 
eignung, Freude am Besitz und Handeln zu Gunsten 
des Besessenen. 

Kant' s Witz. — Kant wollte auf eine „alle Welt 4 ' 
vor den Kopf stossende Art beweisen, dass „alle Welt 44 
Recht habe: — das war der heimliche Witz dieser 
Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des 
Volks -Vorurtheils, aber für Gelehrte und nicht für das 
Volk. 

194. 

Der „Offenherzige 44 . — Jener Mensch handelt 
wahrscheinlich immer nach verschwiegenen Gründen: 
denn er trägt immer mittheilbare Gründe auf der Zunge 
und beinahe in der offnen Hand. 

195. 

Zum Lachen! — Seht hin! Seht hin! Er läuft von 
den Menschen weg — : diese aber folgen ihm nach, 
weil er vor ihnen herläuft, — so sehr sind sie Heerde! 

196. 

Grenze unseres Hörsinns. — Man hört nur die 
Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort 
zu finden. 

197. 

Darum Vorsicht! — Nichts theilen wir so gern 
an Andere mit, als das Siegel der Verschwiegenheit — 
sammt dem, was darunter ist. 



 



- 181 — 
ig8. 

Verdruss des Stolzen. — Der Stolze hat selbst 
an Denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss : 
er blickt böse auf die Pferde seines Wagens. 

199. 

Freigebigkeit. — Freigebigkeit ist bei Reichen 
oft nur eine Art Schüchternheit. 

1 

200. 

Lachen. — Lachen heisst: schadenfroh sein, aber 
mit gutem Gewissen. 

201. 

Im Beifall. — Im Beifall ist immer eine Art Lärm: 
selbst in dem Beifall, den wir uns selber zollen. 

202. 

Ein Verschwender. — Er hat noch nicht jene 
Armuth des Reichen, der seinen ganzen Schatz schon 
einmal überzählt hat, — er verschwendet seinen Geist 
mit der Unvernunft der Verschwenderin Natur. 

203. 

Hic niger est. — Er hat für gewöhnlich keinen 
Gedanken, — aber für die Ausnahme kommen ihm 
schlechte Gedanken. 

204. 

Die Bettler und die Höflichkeit. — „Man ist 
nicht unhöflich, wenn man mit einem Steine an die 
Thüre klopft, welcher der Klingelzug fehlt" — so denken 
Bettler und Nothleidende aller Art; aber Niemand giebt 
ihnen Recht. 



 



- 182 - 



205- 

Bedürfniss. — Das Bedürfhiss gilt als die Ur- 
sache der Entstehung: in Wahrheit ist es oft nur eine 
Wirkung des Entstandenen. 

206. 

Beim Regen. — Es regnet, und ich gedenke der 
armen Leute, die sich jetzt zusammen drängen, mit 
ihrer vielen Sorge und ohne Uebung, diese zu ver- 
bergen, also Jeder bereit und guten Willens, dem An- 
dern wehe zu thun und sich auch bei schlechtem Wetter 
eine erbärmliche Art von Wohlgefuhl zu machen. — 
Das, nur das ist die Armuth der Armen! 

207. 

Der Neidbold. — Das ist ein Neidbold, — dem 
muss man keine Kinder wünschen; er würde auf sie 
neidisch sein, weil er nicht mehr Kind sein kann. 

208. 

G-rosser Mann! — Daraus, dass einer „ein grosser 
Mann" ist, darf man noch nicht schliessen, dass er ein 
Mann ist; vielleicht ist es nur ein Knabe, oder ein Cha- 
mäleon aller Lebensalter, oder ein verhextes Weiblein. 

209. 

Eine Art, nach Gründen zu fragen. — Es giebt 
eine Art, uns nach unseren Gründen zu fragen, bei der 
wir nicht nur unsre besten Gründe vergessen, sondern auch 
einen Trotz und Widerwillen gegen Gründe überhaupt 
in uns erwachen fühlen: — eine sehr verdummende Art zu 
fragen und recht ein Kunstgriff tyrannischer Menschen! 



 



- 183 - 



2IO. 

Maass im Fleisse. — Man muss den Fleiss seines 
Vaters nicht überbieten wollen — das macht krank. 

211. 

Geheime Feinde. — Einen geheimen Feind sich 
halten können — das ist ein Luxus, für den die Mora- 
lität selbst hochgesinnter Geister nicht reich genug zu 
sein pflegt. 

212. 

Sich nicht täuschen lassen. — Sein Geist hat 
schlechte Manieren, er ist hastig und stottert immer 
vor Ungeduld: so ahnt man kaum, in welcher lang- 
athmigen und breitbrüstigen Seele er zu Hause ist. 

213. 

Der Weg zum Glücke. — Ein Weiser fragte 
einen Narren, welches der Weg zum Glücke sei. Dieser 
antwortete ohne Verzug, wie Einer, der nach dem Wege 
zur nächsten Stadt gefragt wird: „Bewundere dich selbst 
und lebe auf der Gasse!" „Halt, rief der Weise, du 
verlangst zu viel, es genügt schon sich selber zu be- 
wundern!" Der Narr entgegnete: „Aber wie kann man 
beständig bewundern, ohne beständig zu verachten?" 

214. 

Der Glaube macht selig. — Die Tugend giebt 
nur Denen Glück und eine Art Seligkeit, welche den 
guten Glauben an ihre Tugend haben: — nicht aber 
jenen feineren Seelen, deren Tugend im tiefen Misstrauen 
gegen sich und alle Tugend besteht. Zuletzt macht 
also auch hier „der Glaube selig"! — und wohlgemerkt, 
nicht die Tugend! 



 



- 184 — 



215- 

Ideal und Stoff. — Du hast da ein vornehmes 
Ideal vor Augen: aber bist du auch ein so vornehmer 
Stein, dass aus dir solch ein Götterbild gebildet werden 
dürfte? Und ohne diess — ist all deine Arbeit nicht 
eine barbarische Bildhauerei? Eine Lästerung deines 
Ideals? 

216. 

Gefahr in der Stimme. — Mit einer sehr lauten 
Stimme im Halse, ist man fast ausser Stande, feine 
Sachen zu denken. 

217. 

Ursache und Wirkung. — Vor der Wirkung 
glaubt man an andere Ursachen, als nach der Wirkung. 

218. 

Meine Antipathie. — Ich liebe die Menschen 
nicht, welche, um überhaupt Wirkung zu thun, zer- 
platzen müssen, gleich Bomben, und in deren Nähe 
man immer in Gefahr ist, plötzlich das Gehör — oder 
noch mehr zu verlieren. 

2 IQ. 

Zweck der Strafe. — Die Strafe hat den Zweck, 
Den zu bessern, welcher straft, — das ist die letzte 
Zuflucht für die Vertheidiger der Strafe. 

220. 

Opfer. — Ueber Opfer und Aufopferung denken 
die Opferthiere anders, als die Zuschauer: aber man hat 
sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen. 



 



* 



- 185 - 

221. 

Schonung. — Väter und Söhne schonen sich viel 
mehr unter einander, als Mütter und Töchter. 

222. 

Dichter und Lügner. — Der Dichter sieht in 
dem Lügner seinen Milchbruder, dem er die Milch weg- 
getrunken hat; so ist Jener elend geblieben und hat es 
nicht einmal bis zum guten Gewissen gebracht. 

223. 

Vicariat der Sinne. — „Man hat auch die Augen 
um zu hören — sagte ein alter Beichtvater, der taub 
wurde; und unter den Blinden ist Der König, wer die 
längsten Ohren hat." 

224. 

Kritik der Thiere. — Ich fürchte, die Thiere 
betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, 
das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thier- 
verstand verloren hat, — als das wahnwitzige Thier, 
als das lachende Thier, als das weinende Thier, als das 
unglückselige Thier. 

225. 

Die Natürlichen. — „Das Böse hat immer den 
grossen Effect für sich gehabt! Und die Natur ist böse! 
Seien wir also natürlich!" — so schliessen im Geheimen 
die grossen Effecthascher der Menschheit, welche man 
gar zu oft unter die grossen Menschen gerechnet hat. 

226. 

Die Misstrauischen und der Stil. — Wir sagen 
die stärksten Dinge schlicht, vorausgesetzt, dass Men- 



 



- 186 - 



sehen um uns sind, die an unsere Stärke glauben: — 
eine solche Umgebung erzieht zur „Einfachheit des 
Stils". Die Misstrauischen reden emphatisch; die Miss- 
trauischen machen emphatisch. 

227. 

Fehlschluss, Fehlschuss. — Er kann sich nicht 
beherrschen: und daraus schliesst jene Frau, es werde 
leicht sein, ihn zu beherrschen und wirft ihre Fang- 
seile nach ihm aus; — die Arme, die in Kürze seine 
Sclavin sein wird. 

228. 

Gegen die Vermittelnden. — Wer zwischen 
zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist ge- 
zeichnet als mittelmassig: er hat das Auge nicht dafür, 
das Einmalige zu sehen; die Aehnlichseherei und Gleich- 
macherei ist das Merkmal schwacher Augen. 

229. 

Trotz und Treue. — Er hält aus Trotz an einer 
Sache fest, die ihm durchsichtig geworden ist, — er 
nennt es aber „Treue". 

230. 

Mangel an Schweigsamkeit. — Sein ganzes 
Wesen überredet nicht — das kommt daher, dass er 
nie eine gute Handlung, die er that, verschwiegen hat. 

231- 

Die „Gründlichen". — Die Langsamen der Er- 
kenntniss meinen, die Langsamkeit gehöre zur Er- 
kenntniss. 



 



- 187 — 



232. 

Träumen. — Man träumt gar nicht, oder in- 
teressant. — Man muss lernen, ebenso zu wachen: — 
gar nicht, oder interessant. 

233. 

Gefährlichster Gesichtspunct. — Was ich jetzt 
thue oder lasse, ist für alles Kommende so wichtig, 
als das grösste Ereigniss der Vergangenheit: in dieser 
ungeheuren Perspective der Wirkung sind alle Hand- 
lungen gleich gross und klein. 

234. 

Trostrede eines Musicanten. — „Dein Leben 
klingt den Menschen nicht in die Ohren: für sie lebst 
du ein stummes Leben, und alle Feinheit der Melodie, 
alle zarte Entschliessung im Folgen oder Vorangehen, 
bleibt ihnen verborgen. Es ist wahr: du kommst nicht 
auf breiter Strasse mit Regimentsmusik daher, — aber 
desshalb haben diese Guten doch kein Recht, zu sagen, 
es fehle deinem Lebenswandel an Musik. Wer Ohren 
hat, der höre." 

235- 

Geist und Charakter. — Mancher erreicht seinen 
Gipfel als Charakter, aber sein Geist ist gerade dieser 
Höhe nicht angemessen — und Mancher umgekehrt. 

236. 

Um die Menge zu bewegen. — Muss nicht Der, 
welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner 
selber sein? Muss er nicht sich selber erst in's Grotesk- 



 



- 188 - 



Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache 
in dieser Vergröberung und Vereinfachung vortragen? 

237- 

Der Höfliche. — „Er ist so höflich! 44 — Ja, er hat 
immer einen Kuchen für den Cerberus bei sich und ist 
so furchtsam, dass er Jedermann für den Cerberus hält, 
auch dich und mich, — das ist seine „Höflichkeit". 

238. 

Neidlos. — Er ist ganz ohne Neid, aber es ist 
kein Verdienst dabei: denn er will ein Land erobern, 
das Niemand noch besessen und kaum Einer auch nur 
gesehen hat. 

239. 

Der Freudlose. — Ein einziger freudloser Mensch 
genügt schon, um einem ganzen Hausstande dauernden 
Missmuth und trüben Himmel zu machen ; und nur durch 
ein Wunder geschieht es, dass dieser Eine fehlt! — 
Das Glück ist lange nicht eine so ansteckende Krank- 
heit, — woher kommt das? 

240. 

Am Meere. — Ich würde mir kein Haus bauen 

(und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Haus- 
besitzer zu sein!). Müsste ich aber, so würde ich, gleich 

manchem Römer, es bis in's Meer hineinbauen, — ich 

möchte schon mit diesem schönen Ungeheuer einige 
Heimlichkeiten gemeinsam haben. 

241. 

Werk und Künstler. — Dieser Künstler ist ehr- 
geizig und Nichts weiter: zuletzt ist sein Werk nur ein 



 



- 189 - 



Vergrösserungsglas, welches er Jedermann anbietet, der 
nach ihm hinblickt. 

242. 

Suum cuique. — Wie gross auch die Habsucht 
meiner Erkenntniss ist: ich kann aus den Dingen nichts 
Anderes herausnehmen, als was mir schon gehört, — 
das Besitzthum Anderer bleibt in den Dingen zurück. 
Wie ist es möglich, dass ein Mensch Dieb oder Räu- 
ber sei! 

243. 

Ursprung von „Gut" und „Schlecht". — Eine 
Verbesserung erfindet nur Der, welcher zu fühlen weiss: 
„Diess ist nicht gut". 

244. 

Gedanken und Worte. — Man kann auch seine 
Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben. 

245. 

Lob in der Wahl. — Der Künstler wählt seine 
Stoffe aus: das ist seine Art zu loben. 

246. 

Mathematik. — Wir wollen die Feinheit und 
Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hinein- 
treiben, so weit diess nur irgend möglich ist, nicht im 
Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge er- 
kennen werden, sondern um damit unsere menschliche 
Relation zu den Dingen festzustellen. Die Mathe- 
matik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten 
Menschenkenntniss. 



 



- 190 - 



247- 

Gewohnheit. — Alle Gewohnheit macht unsere 
Hand witziger und unseren Witz unbehender. 

248. 

Bücher. — Was ist an einem Buche gelegen, das 
uns nicht einmal über alle Bücher hinweg trägt? 

249. 

Der Seufzer des Erkennenden. — „Oh über 
meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine Selbst- 
losigkeit, — vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, 
welches durch viele Individuen wie durch seine Augen 
sehen und wie mit seinen Händen greifen möchte, — 
ein auch die ganze Vergangenheit noch zurückholendes 
Selbst, welches Nichts verlieren will, was ihm überhaupt 
gehören könnte! Oh über diese Flamme meiner Hab- 
sucht! Oh, dass ich in hundert Wesen wiedergeboren 
würde!" — Wer diesen Seufzer nicht aus Erfahrung 
kennt, kennt auch die Leidenschaft des Erkennenden 
nicht. 

250. 

Schuld. — Obschon die scharfsinnigsten Richter 
der Hexen und sogar die Hexen selber von der Schuld 
der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem 
nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld. 

251. 

Verkannte Leidende. — Die grossartigen Na- 
turen leiden anders, als ihre Verehrer sich einbilden: 
sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen 
Wallungen mancher bösen Augenblicke, kurz, durch 



 



— 191 — 

ihren Zweifel an der eigenen Grossartigkeit, — nicht 
aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Auf- 
gabe von ihnen verlangt. So lange Prometheus Mit- 
leid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert, ist 
er glücklich und gross in* sich; aber wenn er neidisch 
auf Zeus und die Huldigungen wird, welche Jenem die 
Sterblichen bringen, — da leidet er! 

252. 

Lieber schuldig. — „Lieber schuldig bleiben, als 
mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt!" — 
so will es unsere Souveränität. 

253. 

Immer zu Hause. — Eines Tages erreichen wir 
unser Ziel — und weisen nunmehr mit Stolz darauf 
hin, was für lange Reisen wir dazu gemacht haben. 
In Wahrheit merkten wir nicht, dass wir reisten. Wir 
kamen aber dadurch so weit, dass wir an jeder Stelle 
wähnten, zu Hause zu sein. 

254- 

Gegen die Verlegenheit. — Wer immer tief 
beschäftigt ist, ist über alle Verlegenheit hinaus. 

255. 

Nachahmer. — A.: „Wie? Du willst keine Nach- 
ahmer?" B.: „Ich will nicht, dass man mir Etwas nach- 
mache, ich will, dass Jeder sich Etwas vormache: das 
Selbe, was ich thue." A.: „Also — ?«' 



 



— 192 - 



256. 

Hautlichkeit. — Alle Menschen der Tiefe haben 
ihre Glückseligkeit darin, einmal den fliegenden Fischen 
zu gleichen und auf den äussersten Spitzen der Wellen 
zu spielen; sie schätzen als das Beste an den Dingen, 
— dass sie eine Oberfläche haben: ihre Hautlichkeit — 
sit venia verbo. 

257- 

Aus der Erfahrung. — Mancher weiss nicht, 
wie reich er ist, bis er erfahrt, was für reiche Menschen 
an ihm noch zu Dieben werden. 

258. 

Die Leugner des Zufalls. — Kein Sieger glaubt 
an den Zufall. 

259. 

Aus dem Paradiese. — „Gut und böse sind die 
Vorurtheile Gottes* 4 — sagte die Schlange. 

■ 

260. 

Ein Mal eins. — Einer hat immer Unrecht: aber 
mit Zweien beginnt die Wahrheit. — Einer kann sich 
nicht beweisen: aber Zweie kann man bereits nicht 
widerlegen. 

261. 

Originalität. — Was ist Originalität? Etwas sehen, 
das noch keinen Namen tragt, noch nicht genannt werden 
kann, ob es gleich vor Aller Augen liegt. Wie die 
Menschen gewöhnlich sind, macht ihnen erst der Name 
ein Ding überhaupt sichtbar. — Die Originalen sind 
zumeist auch die Namengeber gewesen. 



 



- 193 - 

* 

262. 

Sub specie aeterni. — A.: „Du entfernst dich 
immer schneller von den Lebenden: bald werden sie 
dich aus ihren Listen streichen!" — B.: „Es ist das 
einzige Mittel, um an dem Vorrecht der Todten theil- 
zuhaben." — A.: „An welchem Vorrecht?*' — B.: „Nicht 
mehr zu sterben." 

263. 

Ohne Eitelkeit. — Wenn wir lieben, so wollen 
wir, dass unsere Mängel verborgen bleiben, — nicht 
aus Eitelkeit, sondern, weil das geliebte Wesen nicht 
leiden soll. Ja, der Liebende möchte ein Gott scheinen, 
— und auch diess nicht aus Eitelkeit. 

264. 

Was wir thun. — Was wir thun, wird nie ver- 
standen, sondern immer nur gelobt und getadelt. 

265. 

Letzte Skepsis. — Was sind denn zuletzt die 
Wahrheiten des Menschen? — Es sind die unwider- 
legbaren Irrthümer des Menschen. 

266. 

Wo Grausamkeit noth thut. — Wer Grösse hat, 
ist grausam gegen seine Tugenden und Erwägungen 
zweiten Ranges. 

267. 

Mit einem grossen Ziele. — Mit einem grossen 
Ziele ist man sogar der Gerechtigkeit überlegen, nicht 
nur seinen Thaten und seinen Richtern. 

Niatstche, Die fröhliche Wi.»«j»chaft. I 3 



 



— 194 — 

268. 

Was macht heroisch? — Zugleich seinem höch- 
sten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehn. 

269. 

Woran glaubst du? — Daran: dass die Gewichte 
aller Dinge neu bestimmt werden müssen. 

270. 

Was sagt dein Gewissen? — „Du sollst der 
werden, der du bist." 

271. 

Wo liegen deine grössten Gefahren? — Im 
Mitleiden. 

272. 

Was liebst du an Anderen? — Meine Hoff- 
nungen. 

273- 

Wen nennst du schlecht? — Den, der immer 
beschämen will. 

274. 

Was ist dir das Menschlichste? — Jemandem 
Scham ersparen. 

275. 

Was ist das Siegel der erreichten Freiheit? 
— Sich nicht mehr vor sich selber schämen. 



 




I 



Viertes Buch. 

Sanetus Januarius. 



Genua im Januar 1882. 



Der du mit 
Meiner Seele Eis sertbeilt. 
Dass tie brausend nun zum Meere 
Ihrer höchsten Hoffnung eilt: 
Heller stets und stets gesunder , 
Frei im liebevollsten Muss: — 
Also preist sie deine Wunder, 
Schönster Januarius! 



'3* 



 



276. 

Zum neuen Jahre. — Noch lebe ich, noch denke 
ich: ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. 
Sura, ergo cogito: cogito, ergo sum. Heute erlaubt 
sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken 
auszusprechen: nun, so will auch ich sagen, was ich mir 
heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke 
mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, — welcher 
Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles 
weiteren Lebens sein soll! Ich will immer mehr lernen, 
das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: 
— so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge 
schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine 
Liebe! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche 
führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal 
die Ankläger anklagen. Wegsehen sei meine einzige 
Verneinung! Und, Alles in Allem und Grossen: ich 
will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein! 

Persönliche Providenz. — Es giebt einen ge- 
wissen hohen Punct des Lebens : haben wir den erreicht, 
so sind wir mit all unserer Freiheit, und so sehr wir dem 
schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft 
und Güte abgestritten haben, noch einmal in der grössten 
Gefahr der geistigen Unfreiheit und haben unsere 
schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt sich 
erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der 



 



- 198 - 



eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten 
Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir 
mit Händen greifen, dass uns alle, alle Dinge, die uns 
treffen, fortwährend zum Besten gereichen. Das 
Leben jedes Tages und jeder Stunde scheint Nichts 
mehr zu wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen; 
sei es was es sei, böses wie gutes Wetter, der Verlust 
eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das 
Ausbleiben eines Briefes, die Verstauchung eines Fusses, 
ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, 
das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug: 
es erweist sich sofort oder sehr bald nachher als ein 
Ding, das „nicht fehlen durfte", — es ist voll tiefen 
Sinnes und Nutzens gerade für uns! Giebt es eine 
gefahrlichere Verführung, den Göttern Epikur's, jenen 
sorglosen Unbekannten, den Glauben zu kündigen und 
an irgend eine sorgenvolle und kleinliche Gottheit zu 
glauben, welche selbst jedes Härchen auf unserem 
Kopfe persönlich kennt und keinen Ekel in der erbärm- 
lichsten Dienstleistung findet? Nun — ich meine trotz- 
alledem! wir wollen die Götter in Ruhe lassen und die 
dienstfertigen Genien ebenfalls und uns mit der An- 
nahme begnügen, dass unsere eigene practische und 
theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurecht- 
legen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunct gelangt 
sei. Wir wollen auch nicht zu hoch von dieser Finger- 
fertigkeit unserer Weisheit denken, wenn uns mitunter die 
wunderbare Harmonie allzusehr überrascht, welche beim 
Spiel auf unserem Instrumente entsteht: eine Harmonie, 
welche zu gut klingt, als dass wir es wagten, sie uns 
selber zuzurechnen. In der That, hier und da spielt Einer 
mit uns — der liebe Zufall: er führt uns gelegentlich 



 



— 199 — 



die Hand, und die allerweiseste Providenz könnte keine 
schönere Musik erdenken, als dann dieser unserer thörich- 
ten Hand gelingt. 

278. 

Der Gedanke an den Tod. — Es macht mir ein 
melancholisches Glück, mitten in diesem Gewirr der 
Gässchen, der Bedürfnisse, der Stimmen zu leben: wie- 
viel Geniessen, Ungeduld, Begehren, wieviel durstiges 
Leben und Trunkenheit des Lebens kommt da jeden 
Augenblick an den Tag! Und doch wird es für alle 
diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen bald so 
stille sein! Wie steht hinter Jedem sein Schatten, sein 
dunkler Weggefahrte! Es ist immer wie im letzten 
Augenblicke vor der Abfahrt eines AuswandererschifFes: 
man hat einander mehr zu sagen als je, die Stunde drängt, 
der Ozean und sein ödes Schweigen wartet ungeduldig 
hinter alle dem Lärme — so begierig, so sicher seiner 
Beute. Und Alle, Alle meinen, das Bisher sei Nichts 
oder Wenig, die nahe Zukunft sei Alles: und daher 
diese Hast, diess Geschrei, dieses Sich-Uebertäuben und 
Sich-Uebervortheilen! Jeder will der Erste in dieser 
Zukunft sein, — und doch ist Tod und Todtenstille das 
einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zu- 
kunft! Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und 
Gemeinsamkeit fast gar Nichts über die Menschen ver- 
mag und dass sie am Weitesten davon entfernt sind, 
sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen! Es 
macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den 
Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen! 
Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedanken 
an das Leben noch hundertmal denkenswerther zu 
machen. 



 



- 200 - 



279. 

Sternen-Freundschaft. — Wir waren Freunde 
und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so 
und wir wollen's uns nicht verhehlen und verdunkeln, 
als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind 
zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel und seine Bahn hat; 
wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander 
feiern, wie wir es gethan haben, — und dann lagen die 
braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer 
Sonne, dass es scheinen mochte, sie seien schon am 
Ziele und hätten Ein Ziel gehabt. Aber dann trieb 
uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder 
auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche 
und vielleicht sehen wir uns nie wieder, — vielleicht 
auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht 
wieder: die verschiedenen Meere und Sonnen haben 
uns verändert! Dass wir uns fremd werden müssen, 
ist das Gesetz über uns: ebendadurch sollen wir 
uns auch ehrwürdiger werden ! Ebendadurch soll 
der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft hei- 
liger werden! Es giebt wahrscheinlich eine ungeheure 
unsichtbare Curve und Sternenbahn, in der unsere 
so verschiedenen Strassen und Ziele als kleine Weg- 
strecken einbegriffen sein mögen, — erheben wir 
uns zu diesem Gedanken! Aber unser Leben ist zu 
kurz und unsere Sehkraft zu gering, als dass wir mehr 
als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit 
sein könnten. — Und so wollen wir an unsere Sternen- 

I 

Freundschaft glauben, selbst wenn wir einander Erden- 
Feinde sein müssten. 



 



- 201 - 



2 SO, 

Architektur der Erkennenden. — Es bedarf 
einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, 
was vor Allem unseren grossen Städten fehlt: stille 
und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte 
mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes 
oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der 
Wagen und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer 
Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen 
würde: Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes 
die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens 
ausdrücken. Die Zeit ist vorbei, wo die Kirche das 
Monopol des Nachdenkens besass, wo die vita con- 
templativa immer zuerst vita religiosa sein musste: und 
Alles, was die Kirche gebaut hat, drückt diesen Gedanken 
aus. Ich wüsste nicht, wie wir uns mit ihren Bau- 
werken, selbst wenn sie ihrer kirchlichen Bestimmung 
entkleidet würden, genügen lassen könnten; diese Bau- 
werke reden eine viel zu pathetische und befangene 
Sprache, als Häuser Gottes und Prunkstätten eines über- 
weltlichen Verkehrs, als dass wir Gottlosen hier unsere 
Gedanken denken könnten. Wir wollen uns in Stein 
und Pflanze übersetzt haben, wir wollen in uns spazieren 
gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln. 

281. 

Das Ende zu finden wissen. — Die Meister des 
ersten Ranges geben sich dadurch zu erkennen, dass sie 
im Grossen wie im Kleinen auf eine vollkommene Weise 
das Ende zu finden wissen, sei es das Ende einer Melo- 
die oder eines Gedankens, sei es der fünfte Act einer 
Tragödie oder Staats-Action. Die ersten der zweiten 



 



- 202 - 

Stufe werden immer gegen das Ende hin unruhig, und 
fallen nicht in so stolzem ruhigem Gleichmaasse in's Meer 
ab, wie zum Beispiel das Gebirge bei Porto fino — dort, 
wo die Bucht von Genua ihre Melodie zu Ende singt. 

282. 

Der Gang. — Es giebt Manieren des Geistes, an 
denen auch grosse Geister verrathen, dass sie vom 
Pöbel oder Halbpöbel herkommen: — der Gang und 
Schritt ihrer Gedanken ist es namentlich, der den Ver- 
räther macht; sie können nicht gehen. So konnte auch 
Napoleon zu seinem tiefen Verdrusse nicht fürsten- 
mässig und „legitim" gehen, bei Gelegenheiten, wo man 
es eigentlich verstehen muss, wie bei grossen Krönungs- 
Processionen und Aehnlichem: auch da war er immer 
nur der Anfuhrer einer Colonne — stolz und hastig 
zugleich und sich dessen sehr bewusst. — Man hat 
Etwas zum Lachen, diese Schriftsteller zu sehen, welche 
die faltigen Gewänder der Periode um sich rauschen 
machen: sie wollen so ihre Füsse verdecken. 

♦ 

283. 

Vorbereitende Menschen. — Ich begrüsse alle 
Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches 
Zeitalter anhebt, das vor Allem die Tapferkeit wieder 
zu Ehren bringen wird! Denn es soll einem noch 
höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft ein- 
sammeln, welche jenes einmal nöthig haben wird, — 
jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss 
trägt und Kriege führt um der Gedanken und ihrer 
Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbe- 
reitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus 



 



- 203 - 



dem Nichts entspringen können — und ebensowenig 
aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und 
Grossstadt -Bildung: Menschen, welche es verstehen, 
schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Thätig- 
keit zufrieden und beständig zu sein: Menschen, die 
mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem 
suchen, was an ihnen zu überwinden ist: Menschen, 
denen Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung 
der grossen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist, als Grossmuth 
im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten 
aller Besiegten: Menschen mit einem scharfen und freien 
Urtheile über alle Sieger und über den Antheil des 
Zufalls an jedem Siege und Ruhme: Menschen mit eige- 
nen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, 
gewohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo 
es gilt, zu gehorchen, im Einen wie im Anderen gleich 
stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend: gefährdetere 
Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Men- 
schen! Denn, glaubt es mir! — das Geheimniss, um die 
grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom 
Dasein einzuernten, heisst: gefährlich leben! Baut 
eure Städte an den Vesuv! Schickt eure Schiffe in 
unerforschte Meere! Lebt im Kriege mit Euresgleichen 
und mit euch selber! Seid Räuber und Eroberer, so 
lange ihr nicht Herrscher und Besitzer sein könnt, 
ihr Erkennenden! Die Zeit geht bald vorbei, wo 
es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in 
Wäldern versteckt zu leben! Endlich wird die Erkennt- 
niss die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt: 
— sie wird herrschen und besitzen wollen, und ihr 
mit ihr! 



 



- 204 — 



284. 

Der Glaube an sich. — Wenige Menschen über- 
haupt haben den Glauben an sich: — und von diesen 
Wenigen bekommen ihn die Einen mit, als eine nütz- 
liche Blindheit oder theilweise Verfinsterung ihres Geistes 
— (was würden sie erblicken, wenn sie sich selber auf 
den Grund sehen könnten!), die Anderen müssen ihn 
sich erst erwerben: Alles, was sie Gutes, Tüchtiges, 
Grosses thun, ist zunächst ein Argument gegen den 
Skeptiker, der in ihnen haust: es gilt, diesen zu über- 
zeugen oder zu überreden, und dazu bedarf es beinahe 
des Genie's. Es sind die grossen Selbst-Ungenügsamen. 

285. 

Excelsior! — „Du wirst niemals mehr beten, 
niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Ver- 
trauen ausruhen — du versagst es dir, vor einer letzten 
Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben 
und deine Gedanken abzuschirren — du hast keinen 
fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben 
Einsamkeiten — - du lebst ohne den Ausblick auf ein 
Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluthen in 
seinem Herzen trägt — es giebt für dich keinen Ver- 
gelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr — es 
giebt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine 
Liebe in dem, was dir geschehen wird — deinem 
Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur 
zu finden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst 
dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst 
die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden: — 
Mensch der Entsagung, in Alledem willst du entsagen? 
Wer wird dir die Kraft dazu geben? Noch hatte Nie- 



 



— 205 - 

mand diese Kraft!" — Es giebt einen See, der es sich 
eines Tages versagte, abzufliessen, und einen Damm 
dort aufwarf, wo er bisher abfloss: seitdem steigt dieser 
See immer hoher. Vielleicht wird gerade jene Ent- 
sagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Ent- 
sagung selber ertragen werden kann; vielleicht wird 
der Mensch von da an immer höher steigen, wo er 
nicht mehr in einen Gott au sf Ii esst. 

286. 

Zwischenrede. — Hier sind Hoffnungen; was 
werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn ihr 
nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Gluth und 
Morgenröthen erlebt habt? Ich kann nur erinnern — 
mehr kann ich nicht! Steine bewegen, Thiere zu Menschen 
machen — wollt ihr das von mir? Ach, wenn ihr noch 
Steine und Thiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus. 

287. 

Lust an der Blindheit. — „Meine Gedanken, 
sagte der Wanderer zu seinem Schatten, sollen mir an- 
zeigen, wo ich stehe: aber sie sollen mir nicht ver- 
rathen, wohin ich gehe. Ich liebe die Unwissenheit 
um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem 
Vorwegkosten verheissener Dinge zu Grunde gehen." 

288. 

Hohe Stimmungen. — Mir scheint es, dass die 
meisten Menschen an hohe Stimmungen überhaupt nicht 
glauben, es sei denn für Augenblicke, höchstens Viertel- 
stunden, — jene Wenigen ausgenommen, welche eine 
längere Dauer des hohen Gefühls aus Erfahrung kennen. 



 



- 206 — 

Aber gar der Mensch Eines hohen Gefühls, die Ver- 
körperung einer einzigen grossen Stimmung sein — das 
ist bisher nur ein Traum und eine entzückende Möglich- 
keit gewesen: die Geschichte giebt uns noch kein sicheres 
Beispiel davon. Trotzdem könnte sie einmal auch solche 
Menschen gebären — dann, wenn eine Menge günstige 
Vorbedingungen geschaffen und festgestellt worden sind, 
die jetzt auch der glücklichste Zufall nicht zusammen- 
zuwürfeln vermag. Vielleicht wäre diesen zukünftigen 
Seelen eben Das der gewöhnliche Zustand, was bisher 
als die mit Schauder empfundene Ausnahme hier und 
da einmal in unseren Seelen eintrat: eine fortwährende 
Bewegung zwischen hoch und tief und das Gefühl von 
hoch und tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen 
und zugleich Wie-auf-Wolken-ruhen. 

289. 

Auf die Schiffe! — Erwägt man, wie auf jeden 
Einzelnen eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung 
seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt — nämlich 
gleich einer wärmenden, segnenden, befruchtenden, 
eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von 
Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an 
Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das 
Böse zum Guten umschafft, alle Kräfte zum Blühen 
und Reifwerden bringt und das kleine und grosse Un- 
kraut des Grams und der Verdriesslichkeit gar nicht 
aufkommen lässt: — so ruft man zuletzt verlangend aus: 
oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen 
würden! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch 
der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes 
Recht, seinen Sonnenschein haben! Nicht Mitleiden 



 



- 207 - 

mit ihnen thut noth! — diesen Einfall des Hochmuths 
müssen wir verlernen, so lange auch bisher die Mensch- 
heit gerade an ihm gelernt und geübt hat — keine 
Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben 
wir für sie aufzustellen! Sondern eine neue Gerechtig- 
keit thut noth! Und eine neue Losung! Und neue 
Philosophen! Auch die moralische Erde ist rund! Auch 
die moralische Erde hat ihre Antipoden! Auch die 
Antipoden haben ihr Recht des Daseins! Es giebt 
noch eine andere Welt zu entdecken — und mehr als 
eine! Auf die Schiffe, ihr Philosophen! 

290. 

Eins ist Noth. — Seinem Charakter „Stil geben" 

— eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher 
Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und 
Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen 
Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft 
erscheint und auch die Schwäche noch das Auge ent- 
zückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzu- 
getragen worden, dort ein Stück erster Natur abge- 
tragen: — beidemal mit langer Uebung und täglicher 
Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich 
nicht abtragen Hess, versteckt, dort ist es in's Erhabene 
umgedeutet. Vieles Vage, der Formung Widerstrebende 
ist für Fernsichten aufgespart und ausgenutzt worden: 

— es soll in das Weite und Unermessliche hinaus 
winken. Zuletzt, wenn das Werk vollendet ist, offen- 
bart sich, wie es der Zwang des selben Geschmacks 
war, der im Grossen und Kleinen herrschte und bildete: 
ob der Geschmack ein guter oder ein schlechter war, 
bedeutet weniger, als man denkt, — genug, dass es Ein 



- 208 - 



Geschmack ist! — Es werden die starken, herrsch- 
süchtigen Naturen sein, welche in einem solchen Zwange, 
in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter 
dem eigenen Gesetz ihre feinste Freude geniessen; die 
Leidenschaft ihres gewaltigen Wollens erleichtert sich 
beim Anblick aller stilisirten Natur, aller besiegten 
und dienenden Natur; auch wenn sie Paläste zu bauen 
und Gärten anzulegen haben, widerstrebt es ihnen, die 
Natur frei zu geben. — Umgekehrt sind es die schwachen, 
ihrer selber nicht mächtigen Charaktere, welche die 
Gebundenheit des Stils hassen: sie fühlen, dass, wenn 
ihnen dieser bitterböse Zwang auferlegt würde, sie unter 
ihm gemein werden müssten: — sie werden Sclaven, 
sobald sie dienen, sie hassen das Dienen. Solche Geister 
— es können Geister ersten Ranges sein — sind immer 
darauf aus, sich selber und ihre Umgebungen als freie 
Natur — wild, willkürlich, phantastisch, unordentlich, 
überraschend — zu gestalten oder auszudeuten: und 
sie thun wohl daran, weil sie nur so sich selber wohl- 
thun! Denn Eins ist Noth: dass der Mensch seine Zu- 
friedenheit mit sich erreiche — sei es nun durch diese 
oder jene Dichtung und Kunst: nur dann erst ist der 
Mensch überhaupt erträglich anzusehen! Wer mit sich 
unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu 
rächen: wir Anderen werden seine Opfer sein, und sei 
es auch nur darin, dass wir immer seinen hässlichen 
Anblick zu ertragen haben. Denn der Anblick des 
Hässlichen macht schlecht und düster. 

291. 

Genua. — Ich habe mir diese Stadt, ihre Land- 
häuser und Lustgärten und den weiten Umkreis ihrer 



 



— 209 - 

bewohnten Höhen und Hänge eine gute Weile an- 
gesehen; endlich muss ich sagen: ich sehe Gesichter 
aus vergangenen Geschlechtern, — diese Gegend ist 
mit den Abbildern kühner und selbstherrlicher Menschen 
übersäet. Sie haben gelebt und haben fortleben wollen 
— das sagen sie mir mit ihren Häusern, gebaut und 
geschmückt für Jahrhunderte und nicht für die flüchtige 
Stunde: sie waren dem Leben gut, so böse sie oft gegen 
sich gewesen sein mögen. Ich sehe immer den Bauen- 
den, wie er mit seinen Blicken auf allem fern und nah 
um ihn her Gebauten ruht und ebenso auf Stadt, Meer 
und Gebirgslinien, wie er mit diesem Blick Gewalt und 
Eroberung ausübt: Alles diess will er seinem Plane 
einfügen und zuletzt zu seinem Eigenthum machen, 
dadurch dass es ein Stück desselben wird. Diese ganze 
Gegend ist mit dieser prachtvollen unersättlichen Selbst- 
sucht der Besitz- und Beutelust überwachsen; und wie 
diese Menschen in der Ferne keine Grenze anerkannten 
und in ihrem Durste nach Neuem eine neue Welt neben 
die alte hinstellten, so empörte sich auch in der Heimat 
immer noch Jeder gegen Jeden und erfand eine Weise, 
seine Ueberlegenheit auszudrücken und zwischen sich 
und seinem Nachbar seine persönliche Unendlichkeit 
dazwischen zu legen. Jeder eroberte sich seine Heimat 
noch einmal für sich, indem er sie mit seinen architek- 
tonischen Gedanken überwältigte und gleichsam zur 
Augenweide seines Hauses umschuf. Im Norden im- 
ponirt das Gesetz und die allgemeine Lust an Gesetz- 
lichkeit und Gehorsam, wenn man die Bauweise der 
Städte ansieht: man erräth dabei jenes innerliche Sich- 
Gleichsetzen, Sich -Einordnen, welches die Seele aller 
Bauenden beherrscht haben muss. Hier aber findest 

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. 14 



 



- 210 — 

du, um jede Ecke biegend, einen Menschen für sich, 
der das Meer, das Abenteuer und den Orient kennt, 
einen Menschen, welcher dem Gesetze und dem Nach- 
bar wie einer Art von Langerweile abhold ist und der 
alles schon Begründete, Alte mit neidischen Blicken 
misst: er möchte, mit einer wundervollen Verschmitzt- 
heit der Phantasie, diess Alles mindestens im Gedanken 
noch einmal neu gründen, seine Hand darauf-, seinen 
Sinn hineinlegen — sei es auch nur für den Augen- 
blick eines sonnigen Nachmittags, wo seine unersätt- 
liche und melancholische Seele einmal Sattheit fühlt, 
und seinem Auge nur Eigenes und nichts Fremdes 
mehr sich zeigen darf. 

i 

292. 

An die Moral-Prediger. — Ich will keine Moral 
machen, aber Denen, welche es thun, gebe ich diesen 
Rath: wollt ihr die besten Dinge und Zustande zuletzt 
um alle Ehre und Werth bringen, so fahrt fort, sie in 
den Mund zu nehmen, wie bisher! Stellt sie an die 
Spitze eurer Moral und redet von früh bis Abend von 
dem Glück der Tugend, von der Ruhe der Seele, von 
der Gerechtigkeit und der immanenten Vergeltung: so 
wie ihr es treibt, bekommen alle diese guten Dinge 
dadurch endlich eine Popularität und ein Geschrei der 
Gasse für sich: aber dann wird auch alles Gold daran ab- 
gegriffen sein und mehr noch: alles Gold darin wird sich 
in Blei verwandelt habe*. Wahrlich, ihr versteht euch 
auf die umgekehrte Kunst der Alchymie, auf die Ent- 
wertung des Werthvollsten! Greift einmal zum Ver- 
suche nach einem andern Recepte, um nicht wie bisher 
das Gegentheil von dem, was ihr sucht, zu erreichen: 



 



- 211 — 

leugnet jene guten Dinge, entzieht ihnen den Pöbel- 
Beifall und den leichten Umlauf, macht sie wieder zu 
verborgenen Schamhaftigkeiten einsamer Seelen, sagt, 
Moral sei etwas Verbotenes! Vielleicht gewinnt 
ihr so die Art von Menschen für diese Dinge, auf 
welche einzig Etwas ankommt, ich meine die Hero- 
ischen. Aber dann muss Etwas zum Fürchten daran 
sein und nicht, wie bisher, zum Ekeln! Möchte man nicht 
heute in Hinsicht der Moral sagen, wie Meister Eckardt: 
„ich bitte Gott, dass er mich quitt mache Gottes!" 

293. 

Unsere Luft. — Wir wissen es wohl: wer nur 
wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach der 
Wissenschaft hin thut, nach Art der Frauen und leider 
auch vieler Künstler: für den hat die Strenge ihres 
Dienstes, diese Unerbittlichkeit im Kleinen wie im 
Grossen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urtheilen, Ver- 
urtheilen etwas Schwindel- und Furchteinflössendes. 
Namentlich erschreckt ihn, wie hier das Schwerste ge- 
fordert, das Beste gethan wird, ohne dass dafür Lob 
und Auszeichnungen da sind, vielmehr, wie unter Sol- 
daten, fast nur Tadel und scharfe Verweise laut wer- 
den, — denn das Gutmachen gilt als die Regel, das 
Verfehlte als die Ausnahme; die Regel aber hat hier 
wie überall einen schweigsamen Mund. Mit dieser 
„Strenge der Wissenschaft" steht es nun wie mit der 
Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft: — 
sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie 
gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben, als in dieser 
hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen Luft, 
in dieser männlichen Luft. Ueberall sonst ist es ihm 

»4* 



 



— 212 — 

nicht reinlich und luftig genug: er argwöhnt, dass dort 
seine beste Kunst Niemandem recht von Nutzen und 
ihm selber nicht zur Freude sein werde, dass unter 
Missverständnissen ihm sein halbes Leben durch die 
Finger schlüpfe, dass fortwährend viel Vorsicht, viel 
Verbergen und Ansichhalten noth thue, — lauter grosse 
und unnütze Einbussen an Kraft! In diesem strengen 
und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz: 
hier kann er fliegen! Wozu sollte er wieder hinab in 
jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten 
muss und seine Flügel missfarbig macht! — Nein! Da 
ist es zu schwer für uns, zu leben: was können wir da- 
für, dass wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, 
wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und dass wir am 
liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden 
und nicht von der Sonne weg, sondern zu der Sonne 
hin! Das aber können wir nicht: — so wollen wir 
denn thun, was wir einzig können: der Erde Licht 
bringen, „das Licht der Erde" sein! Und dazu haben 
wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, 
um dessenthalben sind wir männlich und selbst schreck- 
lich, gleich dem Feuer. Mögen Die uns fürchten, welche 
sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen! 

294. 

Gegen die Verleumder der Natur. — Das sind 
mir unangenehme Menschen, bei denen jeder natürliche 
Hang sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem 
oder gar Schmählichem, — diese haben uns zu der 
Meinung verführt, die Hänge und Triebe des Menschen 
seien böse; sie sind die Ursache unserer grossen Un- 
gerechtigkeit gegen unsere Natur, gegen alle Natur! 



 



- 213 — 

Es giebt genug Menschen, die sich ihren Trieben mit 
Anmuth und Sorglosigkeit überlassen dürfen: aber sie 
thun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten „bösen 
Wesen" der Natur! Daher ist es gekommen, dass so 

■ 

wenig Vornehmheit unter den Menschen zu finden ist: 
deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine 
Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu er- 
warten, ohne Bedenken zu fliegen, wohin es uns treibt — 
uns freigeborene Vögel! Wohin wir auch nur kommen, 
immer wird es frei und Sonnenlicht um uns sein. 

295- 

Kurze Gewohnheiten. — Ich liebe die kurzen 
Gewohnheiten und halte sie für das unschätzbare Mittel, 
viele Sachen und Zustände kennen zu lernen und hinab 
bis auf den Grund ihrer Süssen und Bitterkeiten; meine 
Natur ist ganz für kurze Gewohnheiten eingerichtet, 
selbst in den Bedürfnissen ihrer leiblichen Gesundheit 
und überhaupt soweit ich nur sehen kann: vom Nie- 
drigen bis zum Höchsten. Immer glaube ich, diess 
werde mich nun dauernd befriedigen — auch die kurze 
Gewohnheit hat jenen Glauben der Leidenschaft, den 
Glauben an die Ewigkeit — und ich sei zu beneiden, 
es gefunden und erkannt, zu haben: — und nun nährt 
es mich am Mittage und am Abende und verbreitet 
eine tiefe Genügsamkeit um sich und in mich hinein, 
sodass mich nach Anderem nicht verlangt, ohne dass 
ich zu vergleichen oder zu verachten oder zu hassen 
hätte. Und eines Tages hat es seine Zeit gehabt: die 
gute Sache scheidet von mir, nicht als Etwas, das mir 
nun Ekel einflösst — sondern friedlich und an mir ge- 
sättigt, wie ich an ihm, und wie als ob wir einander 



 



— 214 - 

dankbar sein müssten und uns so die Hände zum Ab- 
schied reichten. Und schon wartet das Neue an der 
Thüre und ebenso mein Glaube — der unverwüstliche 
Thor und Weise! — diess Neue werde das Rechte, 
das letzte Rechte sein. So geht es mir mit Speisen, 
Gedanken, Menschen, Städten, Gedichten, Musiken, 
Lehren, Tagesordnungen, Lebensweisen. — Dagegen 
hasse ich die dauernden Gewohnheiten und meine, 
dass ein Tyrann in meine Nähe kommt und dass meine 
Lebensluft sich verdickt, wo die Ereignisse sich so 
gestalten, dass dauernde Gewohnheiten daraus mit Not- 
wendigkeit zu wachsen scheinen: zum Beispiel durch ein 
Amt, durch ein beständiges Zusammensein mit den selben 
Menschen, durch einen festen Wohnsitz, durch eine ein- 
malige Art Gesundheit. Ja, ich bin allem meinem Elend 
und Kranksein, und was nur immer unvollkommen an 
mir ist, — im untersten Grunde meiner Seele erkennt- 
lich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hinterthüren 
lässt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten ent- 
rinnen kann. — Das Unerträglichste freilich, das eigent- 
lich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Ge- 
wohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Impro- 
visation verlangt: — diess wäre meine Verbannung und 
mein Sibirien. 

296. 

Der feste Ruf. — Der feste Ruf war ehedem 
eine Sache der äussersten Nützlichkeit; und wo nur 
immer die Gesellschaft noch vom Heerden-Instinct be- 
herrscht wird, ist es auch jetzt noch für jeden Einzelnen 
am zweckmässigsten, seinen Charakter und seine Be- 
schäftigung als unveränderlich zu geben, — selbst 
wenn sie es im Grunde nicht sind. „Man kann sich 



 



- 215 - 



auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich": — das ist in 
allen gefährlichen Lagen der Gesellschaft das Lob, 
welches am meisten zu bedeuten hat. Die Gesellschaft 
fühlt mit Genugthuung, ein zuverlässiges, jederzeit be- 
reites Werkzeug in der Tugend Dieses, in dem Ehr- 
geize Jenes, in dem Nachdenken und der Leidenschaft 
des Dritten zu haben, — sie ehrt diese Werkzeug- 
Natur, diess Sich-Treubleiben, diese Unwandelbarkeit 
in Ansichten, Bestrebungen, und selbst in Untugenden, 
mit ihren höchsten Ehren. Eine solche Schätzung, 

• 

welche überall zugleich mit der Sittlichkeit der Sitte 
blüht und geblüht hat, erzieht „Charaktere" und bringt 
alles Wechseln, Umlernen, Sich- Verwandeln in Verruf. 
Diess ist nun jedenfalls, mag sonst der Vortheil dieser 
Denkweise noch so gross sein, für die Erkenntniss 
die allerschädlichste Art des allgemeinen Urtheils: denn 
gerade der gute Wille des Erkennenden, unverzagt sich 
jederzeit gegen seine bisherige Meinung zu erklären 
und überhaupt in Bezug auf Alles, was in uns fest 
werden will, misstrauisch zu sein, — ist hier verurtheilt 
und in Verruf gebracht. Die Gesinnung des Erkennen- 
den als im Widerspruch mit dem „festen Rufe" gilt als 
unehrenhaft, während die Versteinerung der Ansichten 
alle Ehre für sich hat: — unter dem Banne solcher Gel- 
tung müssen wir heute noch leben! Wie schwer lebt es 
sich, wenn man das Urtheil vieler Jahrtausende gegen 
sich und um sich fühlt. Es ist wahrscheinlich, dass viele 
Jahrtausende die Erkenntniss mit dem schlechten Ge- 
wissen behaftet war, und dass viel Selbstverachtung 
und geheimes Elend in der Geschichte der grössten 
Geister gewesen sein muss. 



 



- 216 - 

297- 

Widersprechen können. — Jeder weiss jetzt, 
dass Widerspruch- Vertragen-können ein hohes Zeichen 
von Cultur ist. Einige wissen sogar, dass der höhere 
Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und her- 
vorruft, um einen Fingerzeig über seine ihm bisher un- 
bekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber das 
Widersprechen-Können, das erlangte gute Gewissen 
bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Ueberlieferte, 
Geheiligte, — das ist mehr als jenes Beides und das 
eigentlich Grosse, Neue, Erstaunliche unserer Cultur, 
der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes: wer 
weiss das? — 

298. 

Seufzer. — Ich erhaschte diese Einsicht unter- 
wegs und nahm rasch die nächsten schlechten Worte, 
sie festzumachen, damit sie mir nicht wieder davon- 
fliege. Und nun ist sie mir an diesen dürren Worten 
gestorben und hängt und schlottert in ihnen — und ich 
weiss kaum mehr, wenn ich sie ansehe, wie ich ein 
solches Glück haben konnte, als ich diesen Vogel fieng. 

299. 

Was man den Künstlern ablernen soll. — 
Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, an- 
ziehend, begehrenswerth zu machen, wenn sie es nicht 
sind? — und ich meine, sie sind es an sich niemals! 
Hier haben wir von den Aerzten Etwas zu lernen, wenn 
sie zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein und 
Zucker in den Mischkrug thun; aber noch mehr von 
den Künstlern, welche eigentlich fortwährend darauf 
aus sind, solche Erfindungen und Kunststücke zu 



•4 



 



machen. Sich von den Dingen entfernen, bis man 
Vieles von ihnen nicht mehr sieht und Vieles hinzu- 
sehen muss, um sie noch zu sehen — oder die Dinge 
um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen — 
oder sie so stellen, dass sie sich theilweise verstellen 
und nur perspectivische Durchblicke gestatten — oder 
sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abend- 
röthe anschauen — oder ihnen eine Oberfläche und 
Haut geben, welche keine volle Transparenz hat: das 
Alles sollen wir den Künstlern ablernen und im Uebri- 
gen weiser sein, als sie. Denn bei ihnen hört gewöhn- 
lich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört 
und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter 
unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäg- 
lichsten zuerst. 

300. 

Vorspiele der Wissenschaft. — Glaubt ihr denn, 
dass die Wissenschaften entstanden und gross geworden 
wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchymisten, Astro- 
logen und Hexen yorangelaufen wären als Die, welche 
mit ihren Verheissungen und Vorspiegelungen erst Durst, 
Hunger und Wohlgeschmack an verborgenen und 
verbotenen Mächten schaffen mussten? Ja, dass un- 
endlich mehr hat verheissen werden müssen, als je 
erfüllt werden kann, damit überhaupt Etwas im Reiche 
der Erkenntniss sich erfülle? — Vielleicht erscheint in 
gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vor- 
übungen der Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht 
als solche geübt und empfunden wurden, auch irgend 
einem fernen Zeitalter die gesammte Religion als 
Uebung und Vorspiel: vielleicht könnte sie das seltsame 
Mittel dazu gewesen sein, dass einmal einzelne Menschen 



— 218 — 

die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle 
seine Kraft der Selbsterlösung geniessen können: Ja! 
— darf man fragen — würde denn der Mensch über- 
haupt ohne jene religiöse Schule und Vorgeschichte es 
gelernt haben, nach sich Hunger und Durst zu spüren 
und aus sich Sattheit und Fülle zu nehmen? Musste 
Prometheus erst wähnen, das Licht gestohlen zu 
haben und dafür büssen, — um endlich zu entdecken, 
dass er das Licht geschaffen habe, indem er nach 
dem Lichte begehrte, und dass nicht nur der Mensch, 
sondern auch der Gott das Werk seiner Hände und 
Thon in seinen Händen gewesen sei? Alles nur Bilder 
des Bildners? — ebenso wie der Wahn, der Diebstahl, 
der Kaukasus, der Geier und die ganze tragische Pro- 
metheia aller Erkennenden? 

301. 

Wahn der Contemplativen. — Die hohen Men- 
schen unterscheiden sich von den niederen dadurch, 
dass sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend 
sehen und hören — und eben diess unterscheidet den 
Menschen vom Thiere und die oberen Thiere von den 
unteren. Die Welt wird für Den immer voller, welcher 
in die Höhe der Menschlichkeit hinauf wächst; es wer- 
den immer mehr Angelhaken des Interesses nach ihm 
ausgeworfen; die Menge seiner Reize ist beständig im 
Wachsen und ebenso die Menge seiner Arten von Lust 
und Unlust, — der höhere Mensch wird immer zugleich 
glücklicher und unglücklicher. Dabei aber bleibt ein 
Wahn sein beständiger Begleiter: er meint, als Zu- 
schauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Ton- 
spiel gestellt zu sein, welches das Leben ist: er nennt 



 



seine Natur eine contemplative und übersieht dabei, 
dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fort- 
dichter des Lebens ist, — dass er sich freilich vom 
Schauspieler dieses Drama's, dem sogenannten han- 
delnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr 
von einem blossen Betrachter und Festgaste vor der 
Bühne. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contem- 
plativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, 
aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem 
handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein 
und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Den- 
kend-Empfindenden, sind es, die wirklich und immerfort 
Etwas machen, das noch nicht da ist: die ganze ewig 
wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Accenten, 
Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Vernei- 
nungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fort- 
während von den sogenannten practischen Menschen 
(unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, 
in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. 
Was nur Werth hat in der jetzigen Welt, das hat ihn 
nicht an sich, seiner Natur nach, — die Natur ist immer 
werthlos: — sondern dem hat man einen Werth einmal 
gegeben, geschenkt, und wir waren diese Gebenden 
und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, die den 
Menschen Etwas angeht, geschaffen! — Gerade 
dieses Wissen aber fehlt uns, und wenn wir es einen 
Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im 
nächsten wieder vergessen: wir verkennen unsere beste 
Kraft und schätzen uns, die Contemplativen, um einen 
Grad zu gering, — wir sind weder so stolz, noch so 
glücklich, als wir sein könnten. 



— 220 — 



302. 

Gefahr des Glücklichsten. — Feine Sinne und 
einen feinen Geschmack haben; an das Ausgesuchte 
und Allerbeste des Geistes wie an die rechte und 
nächste Kost gewöhnt sein; einer starken, kühnen, 
verwegenen Seele geniessen; mit ruhigem Auge und 
festem Schritt durch das Leben gehen, immer zum 
Aeussersten bereit, wie zu einem Feste und voll des 
Verlangens nach unentdeckten Welten und Meeren, 
Menschen und Göttern; auf jede heitere Musik hin- 
horchen, als ob dort wohl tapfere Männer, Soldaten, 
Seefahrer sich eine kurze Rast und Lust machen, und 
im tiefsten Genüsse des Augenblicks überwältigt werden 
von Thränen und von der ganzen purpurnen Schwer- 
muth des Glücklichen: wer möchte nicht, dass das Alles 
gerade sein Besitz, sein Zustand wäre! Es war das 
Glück Homer 's! Der Zustand Dessen, der den Grie- 
chen ihre Götter, — nein, sich selber seine Götter 
erfunden hat! Aber man verberge es sich nicht: mit 
diesem Glücke Homers in der Seele ist man auch das 
leidensfahigste Geschöpf unter der Sonne! Und nur 
um diesen Preis kauft man die kostbarste Muschel, 
welche die Wellen des Daseins bisher an's Ufer ge- 
spült haben! Man wird als ihr Besitzer immer feiner 
im Schmerz und zuletzt zu fein: ein kleiner Missmuth 
und Ekel genügte am Ende, um Homer das Leben 
zu verleiden. Er hatte ein thörichtes Räthselchen, 
das ihm junge Fischer aufgaben, nicht zu rathen ver- 
mocht! Ja, die kleinen Räthsel sind die Gefahr der 
Glücklichsten! — 



 



— 221 — 



303- 

Zwei Glückliche. — Wahrlich, dieser Mensch, 
trotz seiner Jugend, versteht sich auf die Improvi- 
sation des Lebens und setzt auch den feinsten Beob- 
achter in Erstaunen: — es scheint nämlich, dass er 
keinen Fehlgriff thut, ob er schon fortwährend das ge- 
wagteste Spiel spielt. Man wird an jene improvisirenden 
Meister der Tonkunst erinnert, denen auch der Zuhörer 
eine göttliche Unfehlbarkeit der Hand zuschreiben 
möchte, trotzdem, dass sie sich hier und da vergreifen, 
wie jeder Sterbliche sich vergreift. Aber sie sind geübt 
und erfinderisch , und im Augenblicke immer bereit, den 
zufälligsten Ton, wohin ein Wurf des Fingers, eine 
Laune sie treibt, sofort in das thematische Gefüge ein- 
zuordnen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine 
Seele einzuhauchen. — Hier ist ein ganz anderer Mensch . 
dem missräth im Grunde Alles, was er will und plant. 
Das, woran er gelegentlich sein Herz gehängt hat, 
brachte ihn schon einige Male an den Abgrund und in 
die nächste Nähe des Unterganges; und wenn er dem 
noch entwischte, so doch gewiss nicht nur „mit einem 
blauen Auge". Glaubt ihr, dass er darüber unglücklich 
ist? Er hat längst bei sich beschlossen, eigene Wünsche 
und Pläne nicht so wichtig zu nehmen. „Gelingt mir 
Diess nicht, so redet er sich zu, dann gelingt mir viel- 
leicht Jenes; und im Ganzen weiss ich nicht, ob ich 
nicht meinem Misslingen mehr zu Danke verpflichtet 
bin, als irgend welchem Gelingen. Bin ich dazu ge- 
macht, eigensinnig zu sein und die Hörner des Stieres 
zu tragen? Das, was mir Werth und Ergebniss des 
Lebens ausmacht, liegt wo anders; mein Stolz und 
ebenso mein Elend liegt wo anders. Ich weiss mehr 



 



— 222 - 



vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren: 
und eben darum habe ich mehr vom Leben, als ihr 
Alle!" 

304. 

Indem wir thun, lassen wir. — Im Grunde sind 
mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen: „Thue 
diess nicht! Entsage! Ueberwinde dich!" — ich bin da- 
gegen jenen Moralen gut, welche mich antreiben, Etwas 
zu thun und wieder zu thun und von früh bis Abend, 
und Nachts davon zu träumen, und an gar Nichts zu 
denken als: diess gut zu thun, so gut als es eben mir 
allein möglich ist! Wer so lebt, von dem fallt fort- 
während Eins um das Andere ab, was nicht zu einem 
solchen Leben gehört: ohne Hass und Widerwillen sieht 
er heute Diess und morgen Jenes von sich Abschied 
nehmen, den vergilbten Blättern gleich, welche jedes 
bewegtere Lüftchen dem Baume entfuhrt: oder er sieht 
gar nicht, dass es Abschied nimmt, so streng blickt 
sein Auge nach seinem Ziele und überhaupt vorwärts, 
nicht seitwärts, rückwärts, abwärts. Unser Thun soll 
bestimmen, was wir lassen: indem wir thun, lassen wir 
— so gefällt es mir, so lautet mein placitum. Aber 
ich will nicht mit offenen Augen meine Verarmung an- 
streben, ich mag alle negativen Tugenden nicht, — 
Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen 
selber ist. 

305. 

Selbstbeherrschung. — Jene Morallehrer, welche 
zuerst und zuoberst dem Menschen anbefehlen, sich in 
seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine eigen- 
thümliche Krankheit über ihn: nämlich eine beständige 
Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Nei- 



 



— 223 — 

gungen und gleichsam eine Art Juckens. Was auch 
fürderhin ihn stossen, ziehen, anlocken, antreiben mag, 
von innen oder von aussen her — immer scheint es 
diesem Reizbaren, als ob jetzt seine Selbstbeherrschung 
in Gefahr gerathe: er darf sich keinem Instincte, keinem 
freien Flügelschlage mehr anvertrauen, sondern steht 
beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen 
sich selber, scharfen und misstrauischen Auges, der 
ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht 
hat. Ja, er kann gross damit sein! Aber wie unaus- 
stehlich ist er nun für Andere geworden, wie schwer 
für sich selber, wie verarmt und abgeschnitten von den 
schönsten Zufälligkeiten der Seele! Ja auch von aller 
weiteren Belehrung! Denn man muss sich auf Zeiten 
verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht 
selber sind, Etwas ablernen will, 

306. 

Stoiker und Epikureer. — Der Epikureer sucht 
sich die Lage, die Personen und selbst die Ereignisse 
aus, welche zu seiner äusserst reizbaren intellectuellen 
Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das Uebrige 
— das heisst das Allermeiste — , weil es eine zu starke 
und schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker da- 
gegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und 
Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; 
sein Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles wer- 
den, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet: — er 
erinnert an jene arabische Secte der Assaua, die man 
in Algier kennen lernt; und gleich diesen Unempfind- 
lichen hat auch er gerne ein eingeladenes Publicum bei 
der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen ge- 



 



- 224 - 

rade der Epikureer gerne enträth: — der hat ja seinen 
„Garten"! Für Menschen, mit denen das Schicksal im- 
provisirt, für solche, die in gewaltsamen Zeiten und 
abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen 
leben, mag der Stoicismus sehr rathsam sein. Wer aber 
einigermaassen absieht, dass das Schicksal ihm einen 
langen Faden zu spinnen erlaubt, thut wohl, sich 
epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen 
Arbeit haben es bisher gethan! Ihnen wäre es nämlich 
der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit ein- 
zubüssen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln 
dagegen geschenkt zu bekommen. 

307. 

Zu Gunsten der Kritik. — Jetzt erscheint dir 
Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit 
oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von 
dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen 
Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum 
damals, als du noch ein Anderer warst — du bist immer 
ein Anderer — , dir ebenso nothwendig wie alle deine 
jetzigen „Wahrheiten", gleichsam als eine Haut, die dir 
Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen 
durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich 
getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht 
mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und 
die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's 
Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Will- 
kürliches und Unpersönliches, — es ist, wenigstens sehr 
oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte 
in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir ver- 
neinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben 



 



- 225 - 

und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch 
nicht kennen, noch nicht sehen! — Diess zu Gunsten 
der Kritik. 

308. 

Die Geschichte jedes Tages. — Was macht 
bei dir die Geschichte jedes Tages? Siehe deine Ge- 
wohnheiten an, aus denen sie besteht: sind sie das Er- 
zeugniss zahlloser kleiner Feigheiten und Faulheiten 
oder das deiner Tapferkeit und erfinderischen Vernunft? 
So verschieden beide Fälle sind, es wäre möglich, dass 
die Menschen dir das gleiche Lob spendeten und dass 
du ihnen auch wirklich so wie so den gleichen Nutzen 
brächtest. Aber Lob und Nutzen und Respectabilität 
mögen genug für Den sein, der nur ein gutes Gewissen 
haben will, - nicht aber für dich Nierenprüfer, der du 
ein Wissen um das Gewissen hast! 

309. 

Aus der siebenten Einsamkeit. — Eines Tages 
warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb 
stehen und weinte. Dann sagte er: „Dieser Hang und 
Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren , Ge- 
wissen! Wie bin ich ihm böse! Warum folgt mir gerade 
dieser düstere und leidenschaftliche Treiber! Ich möchte 
ausruhen, aber er lässt es nicht zu. Wie Vieles ver- 
führt mich nicht, zu verweilen! Es giebt überall Gärten 
Armidens für mich : und daher immer neue Losreissungen 
und neue Bitternisse des Herzens! Ich muss den Fuss 
weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss: und 
weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das 
mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, 
— weil es mich nicht halten konnte!" 

Nie tuchr, Die fröhliche Wii»en»chaft. 15 



 



- 226 — 



3io. 

Wille und Welle. — Wie gierig kommt diese 
Welle heran, als ob es Etwas zu erreichen gälte! Wie 
kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten 
Winkel des felsigen Geklüftes hinein! Es scheint, sie 
will Jemandem zuvorkommen; es scheint, dass dort 
Etwas versteckt ist, das Werth, hohen Werth hat. — 
Und nun kommt sie zurück, etwas langsamer, immer 
noch ganz weiss vor Erregung, — ist sie enttäuscht? Hat 
sie gefunden, was sie suchte? Stellt sie sich enttäuscht? — 
Aber schon naht eine andere Welle, gieriger und wilder 
noch als die erste, und auch ihre Seele scheint voll 
von Geheimnissen und dem Gelüste der Schatzgräberei 
zu sein. So leben die Wellen, — so leben wir, die 
Wollenden! — mehr sage ich nicht. — So? Ihr miss- 
traut mir? Ihr zürnt auf mich, ihr schönen Unthiere? 
Fürchtet ihr, dass ich euer Geheimniss ganz verrathe? 
Nun! Zürnt mir nur, hebt eure grünen gefahrlichen 
Leiber so hoch ihr könnt, macht eine Mauer zwischen 
mir und der Sonne — so wie jetzt! W T ahrlich, schon 
ist Nichts mehr von der Welt übrig, als grüne Dämme- 
rung und grüne Blitze. Treibt es wie ihr wollt, ihr 
Uebermüthigen, brüllt vor Lust und Bosheit — oder 
taucht wieder hinunter, schüttet eure Smaragden hinab 
in die tiefste Tiefe,, werft euer unendliches weisses Ge- 
zottel von Schaum und Gischt darüber weg — es ist 
mir Alles recht, denn Alles steht euch so gut, und ich 
bin euch für Alles so gut: wie werde ich euch ver- 
rathen! Denn — hört es wohl! — ich kenne euch und 
euer Geheimniss, ich kenne euer Geschlecht! Ihr und 
ich, wir sind ja aus Einem Geschlecht! — Ihr und ich, 
wir haben ja Ein Geheimniss! 



 



227 



3 1 1 - 

Gebrochenes Licht. — Man ist nicht immer 
tapfer, und wenn man müde wird, dann jammert unser 
Einer auch wohl einmal in dieser Weise. „Es ist so 
schwer, den Menschen wehe zu thun — oh, dass es 
nöthig ist! Was nützt es uns, verborgen zu leben, 
wenn wir nicht Das für uns behalten wollen, was Aerger- 
niss giebt? Wäre es nicht räthlicher, im Gewühle zu 
leben und an den Einzelnen gutzumachen, was an Allen 
gesündigt werden soll und muss? Thöricht mit dem 
Thoren, eitel mit dem Eitelen, schwärmerisch mit dem 
Schwärmer zu sein? Wäre es nicht billig, bei einem 
solchen übermüthigen Grade der Abweichung im Ganzen? 
Wenn ich von den Bosheiten Anderer gegen mich höre, 

— ist nicht mein erstes Gefühl das einer Genugthuung? 
So ist es recht! — scheine ich mir zu ihnen zu sagen 

— ich stimme so wenig zu euch und habe so viel Wahr- 
heit auf meiner Seite: macht euch immerhin einen guten 
Tag auf meine Kosten, so oft ihr könnt! Hier sind meine 
Mängel und Fehlgriffe, hier ist mein Wahn, mein Un- 
geschmack, meine Verwirrung, meine Thränen, meine 
Eitelkeit, meine Eulen -Verborgenheit, meine Wider- 
sprüche! Hier habt ihr zu lachen! So lacht denn auch 
und freut euch! Ich bin nicht böse auf Gesetz und 
Natur der Dinge, welche wollen, dass Mängel und Fehl- 
griffe Freude machen! — Freilich, es gab einmal 
„schönere«« Zeiten, wo man sich noch mit jedem einiger- 
maassen neuen Gedanken so unentbehrlich fühlen 
konnte, um mit ihm auf die Strasse zu treten und Jeder- 
mann zuzurufen: „Siehe! Das Himmelreich ist nahe 
herbeigekommen!" — Ich würde mich nicht vermissen, 
wenn ich fehlte. Entbehrlich sind wir Alle!" — Aber, 

«5* 



 



- 228 - 



wie gesagt, so denken wir nicht, wenn wir tapfer sind; 
wir denken nicht daran. 

312. 

Mein Hund. — Ich habe meinem Schmerze einen 
Namen gegeben und rufe ihn „Hund", — er ist ebenso 
treu, ebenso zudringlich und schamlos, ebenso unter- 
haltend, ebenso klug, wie jeder andere Hund — und 
ich kann ihn anherrschen und meine bösen Launen an 
ihm auslassen: wie es Andere mit ihren Hunden, Die- 
nern und Frauen machen. 

313. 

Kein Marterbild. — Ich will es machen wie 
Raffael und kein Marterbild mehr malen. Es giebt der 
erhabenen Dinge genug, als dass man die Erhabenheit 
dort aufzusuchen hätte, wo sie mit der Grausamkeit in 
Schwesterschaft lebt; und mein Ehrgeiz würde zudem 
kein Genügen daran finden, wenn ich mich zum sublimen 
Folterknecht machen wollte. 

314. 

Neue Hausthier e. — Ich will meinen Löwen und 
meinen Adler um mich haben, damit ich allezeit Winke 
und Vorbedeutungen habe, zu wissen, wie gross oder 
wie gering meine Stärke ist. Muss ich heute zu ihnen 
hinabblicken und mich vor ihnen fürchten? Und wird 
die Stunde wiederkommen, wo sie zu mir hinaufblicken 
und in Furcht? — 

315. 

Vom letzten Stündlein. — Stürme sind meine 
Gefahr: werde ich meinen Sturm haben, an dem ich zu 



 



- 229 — 

Grunde gehe, wie Oliver Cromwell an seinem Sturme zu 
Grunde gieng? Oder werde ich verlöschen wie ein Licht, 
das nicht erst der Wind ausbläst, sondern das seiner 
selber müde und satt wurde, — ein ausgebranntes Licht? 
Oder endlich: werde ich mich ausblasen, um nicht aus- 
zubrennen? — 

316. 

Prophetische Menschen. — Ihr habt kein Ge- 
fühl dafür, dass prophetische Menschen sehr leidende 
Menschen sind: ihr meint nur, es sei ihnen eine schöne 
„Gabe" gegeben, und möchtet diese wohl gern selber 
haben, — doch ich will mich durch ein Gleichniss aus- 
drücken. Wie viel mögen die Thiere durch die Luft- 
und Wolken-Electricität leiden! Wir sehen, dass einige 
Arten von ihnen ein prophetisches Vermögen hinsieht* 
lieh des Wetters haben, zum Beispiel die Affen (wie 
man selbst noch in Europa gut beobachten kann, und 
nicht nur in Menagerien, nämlich auf Gibraltar). Aber 
wir denken nicht daran, dass ihre Schmerzen — für 
sie die Propheten sind! Wenn eine starke positive 
Electricität plötzlich unter dem Einflüsse einer heran- 
ziehenden, noch lange nicht sichtbaren Wolke in nega- 
tive Electricität umschlägt und eine Veränderung des 
Wetters sich vorbereitet, da benehmen sich diese Thiere 
so, als ob ein Feind herannahe, und richten sich zur 
Abwehr oder zur Flucht ein; meistens verkriechen sie 
sich, — sie verstehen das schlechte Wetter nicht als 
Wetter, sondern als Feind, dessen Hand sie schon fühlen! 

Rückblick. — Wir werden uns des eigentlichen 
Pathos jeder Lebensperiode selten als eines solchen be- 



 



- 230 - 

> 

wusst, so lange wir in ihr stehen, sondern meinen immer, 
es sei der einzig uns nunmehr mögliche und vernünftige 
Zustand und durchaus Ethos, nicht Pathos — mit den 
Griechen zu reden und zu trennen. Ein paar Töne von 
Musik riefen mir heute einen Winter und ein Haus und 
ein höchst einsiedlerisches Leben in's Gedächtniss zu- 
rück und zugleich das Gefühl, in dem ich damals lebte: 
— ich meinte ewig so fortleben zu können. Aber jetzt 
begreife ich, dass es ganz und gar Pathos und Leiden- 
schaft war, ein Ding, vergleichbar dieser schmerzhaft- 
muthigen und trostsichern Musik, — dergleichen darf 
man nicht auf Jahre oder gar auf Ewigkeiten haben: 
man würde für diesen Planeten damit zu „überirdisch". 

Weisheit im Schmerz. — Im Schmerz ist soviel 
Weisheit wie in der Lust: er gehört gleich dieser zu 
den arterhaltenden Kräften ersten Ranges. Wäre er 
diess nicht, so würde er längst zu Grunde gegangen 
sein; dass er weh thut, ist kein Argument gegen ihn, 
es ist sein Wesen. Ich höre im Schmerze den Com- 
mandoruf des Schiffscapitains: „zieht die Segel ein!" 
Auf tausend Arten die Segel zu stellen, muss der kühne 
Schifffahrer „Mensch" sich eingeübt haben, sonst wäre 
es gar zu schnell mit ihm vorbei, und der Ozean schlürfte 
ihn zu bald hinunter. Wir müssen auch mit vermin- 
derter Energie zu leben wissen: sobald der Schmerz 
sein Sicherheitssignal giebt, ist es an der Zeit, sie zu 
vermindern, — irgend eine grosse Gefahr, ein Sturm 
ist im Anzüge, und wir thun gut, uns so wenig als 
möglich „aufzubauschen". — Es ist wahr, dass es Men- 
schen giebt, welche beim Herannahen des grossen 



 



- 231 - 

Schmerzes gerade den entgegengesetzten Commandoruf 
hören, und welche nie stolzer, kriegerischer und glück- 
licher dreinschauen, als wenn der Sturm heraufzieht; 
ja, der Schmerz selber giebt ihnen ihre grössten Augen- 
blicke! Das sind die heroischen Menschen, die grossen 
Schmerzbringer der Menschheit: jene Wenigen oder 
Seltenen, die eben die selbe Apologie nöthig haben, wie 
der Schmerz überhaupt, — und wahrlich! man soll sie 
ihnen nicht versagen! Es sind arterhaltende, artför- 
dernde Kräfte ersten Ranges: und wäre es auch nur 
dadurch, dass sie der Behaglichkeit widerstreben und 
vor dieser Art Glück ihren Ekel nicht verbergen. 

3iQ- 

Als Interpreten unserer Erlebnisse. — Eine 
Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und 
Ihresgleichen fremd gewesen: — sie haben nie sich aus 
ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss 
gemacht. „Was habe ich eigentlich erlebt? Was gieng 
damals in mir und um mich vor? War meine Ver- 
nunft hell genug? War mein Wille gegen alle Betrü- 
gereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Ab- 
wehr des Phantastischen?" — so hat Keiner von ihnen 
gefragt, so fragen alle die lieben Religiösen auch jetzt 
noch nicht: sie haben vielmehr einen Durst nach Dingen, 
welche wider die Vernunft sind, und wollen es sich 
nicht zu schwer machen, ihn zu befriedigen, — so er- 
leben sie denn „Wunder" und „Wiedergeburten" und 
hören die Stimmen der Englein! Aber wir, wir An- 
deren, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen 
so streng in's Auge sehen, wie einem wissenschaft- 
lichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag! 



 



- 232 - 



Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs- 
Thiere sein. 

320. 

Beim Wiedersehen. — A.: Verstehe ich dich 
noch ganz? Du suchst? Wo ist inmitten der jetzt wirk- 
lichen Welt dein Winkel und Stern? Wo kannst du 
dich in die Sonne legen, sodass auch dir ein Ueberschuss 
von Wohl kommt und dein Dasein sich rechtfertigt? 
Möge das Jeder für sich selber thun — scheinst du mir 
zu sagen — und das Reden in's Allgemeine , das Sorgen 
für den Anderen und die Gesellschaft sich aus dem Sinne 
schlagen! — B.: Ich will mehr, ich bin kein Suchender. 
Ich will für mich eine eigene Sonne schaffen. 

321. 

Neue Vorsicht. — Lasst uns nicht mehr so viel 
an Strafen, Tadeln und Bessern denken! Einen Ein- 
zelnen werden wir selten verändern; und wenn es uns 
gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas 
mitgelungen: wir sind durch ihn verändert worden! 
Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss auf 
alles Kommende seinen Einfluss aufwiegt und über- 
wiegt! Ringen wir nicht im directen Kampfe! — und 
das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessern wollen. 
Sondern erheben wir uns selber um so höher! Geben 
wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben! Ver- 
dunkeln wir den Andern durch unser Licht! Nein! Wir 
wollen nicht um seinetwillen selber dunkler werden, 
gleich allen Strafenden und Unzufriedenen! Gehen wir 
lieber bei Seite! Sehen wir weg! 



 



- 233 - 



322. 

Gleichnis s. — Jene Denker, in denen alle Sterne 
sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die 
tiefsten; wer in sich wie in einen ungeheuren Welt- 
raum hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der 
weiss auch, wie unregelmässig alle Milchstrassen sind; 
sie führen bis in's Chaos und Labyrinth des Daseins 
hinein. 

323. 

Glück im Schicksal. — Die grösste Auszeich- 
nung erweist uns das Schicksal, wenn es uns eine Zeit 
lang auf der Seite unserer Gegner hat kämpfen lassen. 
Damit sind wir vorherbestimmt zu einem grossen 
Siege. 

324- 

In media vita. — Xein! Das Leben hat mich 
nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es viel- 
mehr wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, 
— von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über 
mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experi- 
ment des Erkennenden sein dürfe — und nicht eine 
Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei! — 
Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas 
Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg 
zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein 
Müssiggang, — für mich ist sie eine Welt der Ge- 
fahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle 
ihre Tanz- und Tummelplätze haben. „Das Leben 
ein Mittel der Erkenntniss 44 — mit diesem Grund- 
satze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern 
sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer 



 



- 234 - 



verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der 
sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde? 

325. 

Was zur Grösse gehört. — Wer wird etwas 
Grosses erreichen, wenn er nicht die Kraft und den 
Willen in sich fühlt, grosse Schmerzen zuzufügen? 
Das Leidenkönnen ist das Wenigste: darin bringen es 
schwache Frauen und selbst Sclaven oft zur Meister- 
schaft. Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit 
zu Grunde gehn, wenn man grosses Leid zufügt und 
den Schrei dieses Leides hört — das ist gross, das 
gehört zur Grösse. 

326. 

Die Seelen-Aerzte und der Schmerz. — Alle 
Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine 
gemeinsame Unart: alle suchen den Menschen aufzu- 
reden, sie befanden sich sehr schlecht und es thue eine 
harte letzte radicale Cur noth. Und weil die Menschen 
insgesammt jenen Lehren ihr Ohr zu eifrig und ganze 
Jahrhunderte lang hingehalten haben, ist zuletzt wirk- 
lich Etwas von jenem Aberglauben, dass es ihnen sehr 
schlecht gehe, auf sie übergegangen: sodass sie jetzt 
gar zu gerne einmal bereit sind, zu seufzen und Nichts 
mehr am Leben zu finden und miteinander betrübte 
Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer 
auszuhalten sei. In Wahrheit sind sie unbändig ihres 
Lebens sicher und in dasselbe verliebt und voller un- 
säglicher Listen und Feinheiten, um das Unangenehme 
zu brechen und dem Schmerze und Unglücke seinen 
Dorn auszuziehen. Es will mir scheinen, dass vom 
Schmerze und Unglücke immer übertrieben geredet 



 



- 235 - 



werde, wie als ob es eine Sache der guten Lebensart 
sei, hier zu übertreiben: man schweigt dagegen ge- 
flissentlich davon, dass es gegen den Schmerz eine Un- 
zahl Linderungsmittel giebt, wie Betäubungen, oder die 
fieberhafte Hast der Gedanken, oder eine ruhige Lage, 
oder gute und schlimme Erinnerungen, Absichten, Hoff- 
nungen, und viele Arten von Stolz und Mitgefühl, die 
beinahe die Wirkung von Anästheticis haben: während 
bei den höchsten Graden des Schmerzes schon von 
selber Ohnmächten eintreten. Wir verstehen uns ganz 
gut darauf, Süssigkeiten auf unsere Bitternisse zu träu- 
feln, namentlich auf die Bitternisse der Seele; wir haben 
Hülfsmittel in unserer Tapferkeit und Erhabenheit, sowie 
in den edleren Delirien der Unterwerfung und der Re- 
signation. Ein Verlust ist kaum eine Stunde ein Ver- 
lust: irgendwie ist uns damit auch ein Geschenk vom 
Himmel gefallen — eine neue Kraft zum Beispiel: und 
sei es auch nur eine neue Gelegenheit zur Kraft! Was 
haben die Moralprediger vom inneren „Elend" der bösen 
Menschen phantasirt! Was haben sie gar vom Unglücke 
der leidenschaftlichen Menschen uns vorgelogen! — 
ja, lügen ist hier das rechte Wort: sie haben um das 
überreiche Glück dieser Art von Menschen recht wohl 
gewusst, aber es todtgeschwiegen, weil es eine Wider- 
legung ihrer Theorie war, nach der alles Glück erst 
mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem Schwei- 
gen des Willens entsteht! Und was zuletzt das Recept 
aller dieser Seelen-Aerzte betrifft und ihre Anpreisung 
einer harten radicalen Cur: so ist es erlaubt, zu fragen: 
ist dieses unser Leben wirklich schmerzhaft und lästig 
genug, um mit Vortheil eine stoische Lebensweise und 
Versteinerung dagegen einzutauschen? Wir befinden 



 



— 236 - 



uns nicht schlecht genug, um uns auf stoische Art 
schlecht befinden zu müssen! 

327. 

Ernst nehmen. — Der Intellect ist bei den Aller- 
meisten eine schwerfallige, finstere und knarrende Ma- 
schine, welche übel in Gang zu bringen ist: sie nennen 
es „die Sache ernst nehmen", wenn sie mit dieser 
Maschine arbeiten und gut denken wollen — oh wie 
lästig muss ihnen das Gut-Denken sein! Die liebliche 
Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die 
gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird „ernst"! Und 
„wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken 
Nichts": — so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie 
gegen alle „fröhliche Wissenschaft". — Wohlan ! Zeigen 
wir, dass es ein Vorurtheil ist! 

328. 

Der Dummheit Schaden thun. — Gewiss hat 
der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von 
der Verwerflichkeit des Egoismus im Ganzen dem Egois- 
mus Schaden gethan (zu Gunsten, wie ich hundertmal 
wiederholen werde, der Heerden-Instincte!), nament- 
lich dadurch, dass er ihm das gute Gewissen nahm und 
in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen 
hiess. „Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens" 
— so klang die Predigt Jahrtausende lang: es that, wie 
gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel 
Geist, viel Heiterkeit, viel Erfindsamkeit, viel Schön- 
heit, es verdummte und verhässlichte und vergiftete 
die Selbstsucht! — Das philosophische Alterthum lehrte 
dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils: von So- 



 



- 237 - 



krates an wurden die Denker nicht müde, zu predigen: 
„eure Gedankenlosigkeit und Dummheit, euer Dahin- 
leben nach der Regel, eure Unterordnung unter die 
Meinung des Nachbars ist der Grund, wesshalb ihr es 
so selten zum Glück bringt, — wir Denker sind als 
Denker die Glücklichsten." Entscheiden wir hier nicht, 
ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe 
für sich hatte, als jene Predigt gegen die Selbstsucht; 
gewiss aber ist das, dass sie der Dummheit das gute 
Gewissen nahm: — diese Philosophen haben der Dumm- 
heit Schaden gethan. 

329. 

Müsse und Müssiggang. — Es ist eine indianer- 
hafte, dem Indianer -Blute eigenthümliche Wildheit in 
der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten: und 
ihre athemlose Hast der Arbeit — das eigentliche Laster 
der neuen Welt — beginnt bereits durch Ansteckung 
das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunder- 
liche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt 
sich jetzt schon der Ruhe; das lange Nachsinnen macht 
beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in 
der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das 
Börsenblatt gerichtet, — man lebt, wie Einer, der fort- 
während Etwas „versäumen könnte". „Lieber irgend 
Etwas thun, als Nichts" — auch dieser Grundsatz ist 
eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Ge- 
schmack den Garaus zu machen. Und so wie sicht- 
lich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zu 
Grunde gehen: so geht auch das Gefühl für die Form 
selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Be- 
wegungen zu Grunde. Der Beweis dafür liegt in der 



 



— 238 - 

jetzt überall geforderten plumpen Deutlichkeit, in 
allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit 
Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, 
Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und 
Fürsten, — man hat keine Zeit und keine Kraft mehr 
für die Ceremonien, für die Verbindlichkeit mit Um- 
wegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt 
für alles Otium. Denn das Leben auf der Jagd nach 
Gewinn zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur 
Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich- Verstellen 
oder Ueberlisten oder Zuvorkommen: die eigentliche 
Tugend ist jetzt, Etwas in weniger Zeit zu thun, als ein 
Anderer. Und so giebt es nur selten Stunden der er- 
laubten Redlichkeit: in diesen aber ist man müde und 
möchte sich nicht nur „gehen lassen", sondern lang und 
breit und plump sich hinstrecken. Gemäss diesem 
Hange schreibt man jetzt seine Briefe; deren Stil und 
Geist immer das eigentliche „Zeichen der Zeit" sein wer- 
den. Giebt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und 
an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müde- 
gearbeitete Sclaven sich zurecht machen. Oh über diese 
Genügsamkeit der „Freude" bei unsern Gebildeten und 
Ungebildeten! Oh über diese zunehmende Verdäch- 
tigung aller Freude! Die Arbeit bekommt immer 
mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite: der Hang zur 
Freude nennt sich bereits „Bedürfniss der Erholung" 
und fangt an, sich vor sich selber zu schämen. „Man 
ist es seiner Gesundheit schuldig" — so redet man, 
wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es 
könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange 
zur vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen 
mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung 



 



— 239 — 

und schlechtes Gewissen nachgäbe. — Nun! Ehedem 
war es umgekehrt: die Arbeit hatte das schlechte Ge- 
wissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft ver- 
barg seine Arbeit, wenn die Noth ihn zum Arbeiten 
zwang. Der Sclave arbeitete unter dem Druck des 
Gefühls, dass er etwas Verächtliches thue : — das „Thun" 
selber war etwas Verächtliches. „Die Vornehmheit und 
die Ehre sind allein bei otium und bellum": so klang 
die Stimme des antiken Vorurtheils! 

33o. 

Beifall. — Der Denker bedarf des Beifalls und 
des Händeklatschens nicht, vorausgesetzt, dass er seines 
eigenen Händeklatschens sicher ist: diess aber kann er 
nicht entbehren. Giebt es Menschen, welche auch dessen 
und überhaupt jeder Gattung von Beifall entrathen 
könnten? Ich zweifle: und selbst in Betreff der Wei- 
sesten sagt Tacitus, der kein Verleumder der Weisen 
ist, quando etiam sapientibus gloriae cupido novissima 
exuitur — das heisst bei ihm: niemals. 

331- 

Lieber taub, als betäubt. — Ehemals wollte man 
sich einen Ruf machen: das genügt jetzt nicht mehr, 
da der Markt zu gross geworden ist, — es muss ein 
Geschrei sein. Die Folge ist, dass auch gute Kehlen 
sich überschreien, und die besten Waaren von heiseren 
Stimmen ausgeboten werden; ohne Marktschreierei und 
Heiserkeit giebt es jetzt kein Genie mehr. — Das ist 
nun freilich ein böses Zeitalter für den Denker: er muss 
lernen, zwischen zwei Lärmen noch seine Stille zu fin- 
den, und sich so lange taub stellen, bis er es ist. So 



 



— 240 - 



lange er diess noch nicht gelernt hat, ist er freilich in 
Gefahr, vor Ungeduld und Kopfschmerzen zu Grunde 
zu gehen. 

332. 

Die böse Stunde. — Es hat wohl für jeden Philo- 
sophen eine böse Stunde gegeben, wo er dachte: was 
liegt an mir, wenn man mir nicht auch meine schlechten 
Argumente glaubt! — Und dann flog irgend ein schaden- 
frohes Vögelchen an ihm vorüber und zwitscherte: 
„Was liegt an dir? Was liegt an dir?" 

333- 

Was heisst erkennen. — Non ridere, non lugere, 
neque detestari, sed intelligere! sagt Spinoza, so schlicht 
und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen: was ist 
diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als die Form, 
in der uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden? 
Ein Resultat aus den verschiedenen und sich wider- 
strebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen-, Ver- 
wünschen -wollens? Bevor ein Erkennen möglich ist, 
muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht 
über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben; 
hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und 
aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein 
Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtig- 
keit und Vertrag: denn, vermöge der Gerechtigkeit und 
des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein 
behaupten und mit einander Recht behalten. Wir, 
denen nur die letzten Versöhnungsscenen und Schluss- 
Abrechnungen dieses langen Processes zum Bew r usstsein 
kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Ver- 
söhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den 



 



- 241 - 

derf Trieben Entgegengesetztes; während es nur ein 
gewisses Verhalten der Triebe zu einander ist. 
Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Den- 
ken als das Denken überhaupt betrachtet: jetzt erst 
dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste 
Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, un- 
gefühlt verläuft; ich meine aber, diese Triebe, die hier 
mit einander kämpfen, werden recht wohl verstehen, 
sich einander dabei fühlbar zu machen und wehe zu 
thun — : jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von 
der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren 
Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlacht- 
felde). Ja, vielleicht giebt es in unserm kämpfenden 
Innern manches verborgene Heroenthum, aber gewiss 
nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza 
meinte. Das bewusste Denken, und namentlich das 
des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch 
die verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des 
Denkens: und so kann gerade der Philosoph am leich- 
testen über die Natur des Erkennens irre geführt werden. 

334- 

Man muss lieben lernen. — So geht es uns in 
der Musik: erst muss man eine Figur und Weise über- 
haupt hören lernen, heraushören, unterscheiden, als 
ein Leben für sich isoliren und abgrenzen; dann braucht 
es Mühe und guten Willen, sie zu ertragen, trotz ihrer 
Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, 
Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben: — 
endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer gewohnt 
sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns 
fehlen würde, wenn sie fehlte; und nun wirkt sie ihren 

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. 16 



 



- 242 — 

Zwang und Zauber fort und fort und endet nicht eher, 
als bis wir ihre demüthigen und entzückten Liebhaber 
geworden sind, die nichts Besseres von der Welt mehr 
wollen, als sie und wieder sie. — So geht es uns aber 
nicht nur mit der Musik: gerade so haben wir alle Dinge, 
die wir jetzt lieben, lieben gelernt. Wir werden 
schliesslich immer für unseren guten Willen, unsere Ge- 
duld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde be- 
lohnt, indem das Fremde langsam seinen Schleier ab- 
wirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt: 
— es ist sein Dank für unsere Gastfreundschaft. Auch 
wer sich selber liebt, wird es auf diesem Wege gelernt 
haben: es giebt keinen anderen Weg. Auch die Liebe 
muss man lernen. 

335- 

Hoch die Physik! — Wie viel Menschen ver- 
stehen denn zu beobachten! Und unter den wenigen, 
die es verstehen, — wie viele beobachten sich selber! 
„Jeder ist sich selber der Fernste" — das wissen alle 
Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen; und der Spruch 
„erkenne dich selbst!" ist, im Munde eines Gottes und 
zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit. Dass es 
aber so verzweifelt mit der Selbstbeobachtung steht, 
dafür zeugt Nichts mehr, als die Art, wie über das 
Wesen einer moralischen Handlung fast von Jeder- 
mann gesprochen wird, diese schnelle, bereitwillige, 
überzeugte, redselige Art, mit ihrem Blick, ihrem 
Lächeln, ihrem gefalligen Eifer! Man scheint dir sagen 
zu wollen: „Aber, mein Lieber, das gerade ist meine 
Sache! Du wendest dich mit deiner Frage an Den, 
der antworten darf: ich bin zufällig in Nichts so weise, 



 



- 243 - 

wie hierin. Also: wenn der Mensch urtheilt „so ist es 
recht", wenn er darauf schliesst „darum muss es ge- 
schehen !" und nun thut, was er dergestalt als recht 
erkannt und als nothwendig bezeichnet hat, — so ist 
das Wesen seiner Handlung moralisch!" Aber, mein 
Freund, du sprichst mir da von drei Handlungen statt 
von einer: auch dein Urtheilen zum Beispiel „so ist es 
recht" ist eine Handlung, — könnte nicht schon auf 
eine moralische und auf eine unmoralische Weise ge- 
urtheilt werden? Warum hältst du diess und gerade 
diess für recht? — „Weil mein Gewissen es mir sagt; 
das Gewissen redet nie unmoralisch, es bestimmt ja erst, 
was moralisch sein soll!" — Aber warum hörst du auf 
die Sprache deines Gewissens? Und inwiefern hast du 
ein Recht, ein solches Urtheil als wahr und untrüglich 
anzusehen? Für diesen Glauben — giebt es da kein Ge- 
wissen mehr? Weisst du Nichts von einem intellectuellen 
Gewissen? Einem Gewissen hinter deinem „Gewissen"? 
Dein Urtheil „so ist es recht" hat eine Vorgeschichte in 
deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen 
und Nicht-Erfahrungen; „wie ist es da entstanden?" 
musst du fragen, und hinterher noch: „was treibt mich 
eigentlich, ihm Gehör zu schenken?" Du kannst seinem 
Befehle Gehör schenken, wie ein braver Soldat, der den 
Befehl seines Offiziers vernimmt. Oder wie ein Weib, das 
Den liebt, der befiehlt. Oder wie ein Schmeichler und 
Feigling, der sich vor dem Befehlenden furchtet. Oder 
wie ein Dummkopf, welcher folgt, weil er Nichts da- 
gegen zu sagen hat. Kurz, auf hundert Arten kannst du 
deinem Gewissen Gehör geben. Dass du aber diess und 
jenes Urtheil als Sprache des Gewissens hörst, also, dass 
du Etwas als recht empfindest, kann seine Ursache darin 

16* 



 



— 244 — 

haben, dass du nie über dich nachgedacht hast und 
blindlings annahmst, was dir als recht von Kindheit 
an bezeichnet worden ist: oder darin, dass dir Brod 
und Ehren bisher mit dem zu Theil wurde, was du 
deine Pflicht nennst, — es gilt dir als „recht", weil es 
dir deine „Existenz-Bedingung" scheint (dass du aber 
ein Recht auf Existenz habest, dünkt dich unwider- 
leglich!). Die Festigkeit deines moralischen Urtheils 
könnte immer noch ein Beweis gerade von persönlicher 
Erbärmlichkeit, von Unpersönlichkeit sein, deine „mo- 
ralische Kraft" könnte ihre Quelle in deinem Eigensinn 
haben — oder in deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu 
schauen! Und, kurz gesagt: wenn du feiner gedacht, 
besser beobachtet und mehr gelernt hättest, würdest 
du diese deine „Pflicht" und diess dein „Gewissen" unter 
allen Umständen nicht mehr Pflicht und Gewissen be- 
nennen: die Einsicht darüber, wie überhaupt jemals 
moralische Urtheile entstanden sind, würde dir 
diese pathetischen Worte verleiden, — so wie dir schon 
andere pathetische Worte, zum Beispiel „Sünde", „Seelen- 
heil", „Erlösung" verleidet sind. — Und nun rede mir 
nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund! — 
diess Wort kitzelt mein Ohr, und ich muss lachen, trotz 
deiner so ernsthaften Gegenwart: ich gedenke dabei 
des alten Kant, der, zur Strafe dafür, dass er „das 
Ding an sich" — auch eine sehr lächerliche Sache! — 
sich erschlichen hatte, vom „kategorischen Imperativ" 
beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder 
zu „Gott", „Seele", „Freiheit" und „Unsterblichkeit" 
zurückverirrte, einem Fuchse gleich, der sich in 
seinen Käfig zurückverirrt: — und seine Kraft und 
Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig er- 



 



- 245 - 



b rochen hatte! — Wie? Du bewunderst den kate- 
gorischen Imperativ in dir? Diese „Festigkeit" deines 
sogenannten moralischen Urtheils? Diese „Unbedingt- 
heit" des Gefühls „so wie ich, müssen hierin Alle ur- 
theilen"? Bewundere vielmehr deine Selbstsucht 
darin! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchs- 
losigkeit deiner Selbstsucht! Selbstsucht nämlich ist 
es, sein Urtheil als Allgemeingesetz zu empfinden; und 
eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht 
hinwiederum, weil sie verräth, dass du dich selber noch 
nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes 
Ideal geschaffen hast: — diess nämlich könnte niemals 
das eines Anderen sein, geschweige denn Aller, Aller! 

— — Wer noch urtheilt „so müsste in diesem Falle 
Jeder handeln", ist noch nicht fünf Schritt weit in der 
Selbsterkenntniss gegangen : sonst würde er wissen, dass 
es weder gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, 

— dass jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine 
ganz einzige und unwiederbringliche Art gethan wurde, 
und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung 
stehen wird, — dass alle Vorschriften des Handelns 
sich nur auf die gröbliche Aussenseite beziehen (und 
selbst die innerlichsten und feinsten Vorschriften aller 
bisherigen Moralen), — dass mit ihnen wohl ein Schein 
der Gleichheit, aber eben nur ein Schein erreicht 
werden kann, — dass jede Handlung, beim Hinblick 
oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache 
ist und bleibt, — dass unsere Meinungen von „gut", 
„edel", „gross" durch unsere Handlungen nie bewiesen 
werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist, — 
dass sicherlich unsere Meinungen, Werthschätzungen 
und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räder- 



 



- 246 — 



werk unserer Handlungen gehören , dass aber für jeden 
einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar 
ist. Beschränken wir uns also auf die Reinigung un- 
serer Meinungen und Werthschätzungen und auf die 
Schöpfung neuer eigener Gütertafeln: — über den 
„moralischen Werth unserer Handlungen" aber wollen 
wir nicht mehr grübeln! Ja, meine Freunde! In Hinsicht 
auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über 
die Andern ist der Ekel an der Zeit! Moralisch zu 
Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen! 
Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Ge- 
schmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, 
als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter 
durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals 
Gegenwart sind, — den Vielen also, den Allermeisten! 
Wir aber wollen Die werden, die wir sind, — die 
Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich- 
selber- Gesetzgebenden, die Sich -selber -Schaffenden! 
Und dazu müssen wir die besten Lerner und Entdecker 
alles Gesetzlichen und Notwendigen in der Welt 
werden: wir müssen Physiker sein, um, in jenem Sinne, 
Schöpfer sein zu können, — während bisher alle Werth- 
schätzungen und Ideale auf Unkenntniss der Physik 
oder im Widerspruch mit ihr aufgebaut waren. Und 
darum: Hoch die Physik! Und höher noch das, was 
uns zu ihr zwingt, — unsre Redlichkeit! 

336. 

Geizder Natur. — Warum ist die Natur so kärglich 
gegen den Menschen gewesen, dass sie ihn nicht leuchten 
liess, Diesen mehr, Jenen weniger, je nach seiner innern 
Lichtfülle? Warum haben grosse Menschen nicht eine 



 



- 247 - 



so schöne Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Nieder- 
gange, wie die Sonne? Wie viel unzweideutiger wäre 
alles Leben unter Menschen! 

337- 

Die zukünftige „Menschlichkeit". — Wenn 
ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem 
hinsehe, so weiss ich an dem gegenwärtigen Menschen 
nichts Merkwürdigeres zu finden, als seine eigentüm- 
liche Tugend und Krankheit, genannt „der historische 
Sinn". Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und 
Fremdem in der Geschichte: gebe man diesem Keime 
einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am 
Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so 
wundervollen Gerüche werden, um dessentwillen unsere 
alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. 
Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines 
zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied 
um Glied, — wir wissen kaum, was wir thun. Fast 
scheint es uns, als ob es sich nicht um ein neues Ge- 
fühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle 
handele: — der historische Sinn ist noch etwas so 
Armes und Kaltes, und Viele werden von ihm wie von 
einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und 
kälter gemacht. Anderen erscheint er als das Anzei- 
chen des heranschleichenden Alters, und unser Planet 
gilt ihnen als ein schwermüthiger Kranker, der, um 
seine Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugend- 
geschichte aufschreibt. In der That: diess ist Eine 
Farbe dieses neuen Gefühls: wer die Geschichte der 
Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen 
weiss, der empfindet in einer ungeheuren Verallgemei- 



 



- 248 - 

nerung allen jenen Gram des Kranken, der an die Ge- 
sundheit, des Greises, der an den Jugendtraum denkt, 
des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird, des 
Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht, des Helden 
am Abend der Schlacht, welche Nichts entschieden hat 
und doch ihm Wunden und den Verlust des Freundes 
brachte — ; aber diese ungeheure Summe von Gram 
aller Art tragen, tragen können und nun doch noch 
der Held sein, der beim Anbruch eines zweiten Schlacht- 
tages die Morgenröthe und sein Glück begrüsst, als 
der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor 
sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit 
alles vergangenen Geistes und der verpflichtete Erbe, 
als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der 
Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine 
Zeit sah und träumte : diess Alles auf seine Seele nehmen, 
Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoffnungen, Eroberungen, 
Siege der Menschheit: diess Alles endlich in Einer 
Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen: — 
diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der 
Mensch noch nicht kannte, — eines Gottes Glück voller 
Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens, 
ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fort- 
während aus seinem unerschöpflichen Reichthume weg- 
schenkt und in's Meer schüttet und, wie sie, sich erst 
dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer 
noch mit goldenem Ruder rudert! Dieses göttliche Ge- 
fühl hiesse dann — Menschlichkeit! 

338. 

Der Wille zum Leiden und die Mitleidigen. — 
Ist es euch selber zuträglich, vor Allem mitleidige Men- 



 



- 249 - 

sehen zu sein? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn 
ihr es seid? Doch lassen wir die erste Frage für einen 
Augenblick ohne Antwort. — Das, woran wir am tief- 
sten und persönlichsten leiden, ist fast allen Anderen 
unverständlich und unzugänglich: darin sind wir dem 
Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus Einem 
Topfe isst. Ueberall aber, wo wir als Leidende be- 
merkt werden, wird unser Leiden flach ausgelegt; es 
gehört zum Wesen der mitleidigen Affection, dass sie 
das fremde Leid des eigentlich Persönlichen entkleidet: 

— unsre „ Wohlthäter" sind mehr als unsre Feinde die 
Verkleinerer unsres Werthes und Willens. Bei den 
meisten Wohlthaten, die Unglücklichen erwiesen werden, 
liegt etwas Empörendes in der intellectuellen Leicht- 
fertigkeit, mit der da der Mitleidige das Schicksal 
spielt: er weiss Nichts von der ganzen inneren Folge 
und Verflechtung, welche Unglück für mich oder für 
dich heisst! Die gesammte Oekonomie meiner Seele 
und deren Ausgleichung durch das „Unglück", das Auf- 
brechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das Zuwachsen 
alter Wunden, das Abstossen ganzer Vergangenheiten 

— das Alles, was mit dem Unglück verbunden sein 
kann, kümmert den lieben Mitleidigen nicht: er will 
helfen und denkt nicht daran, dass es eine persönliche 
Noth wendigkeit des Unglücks giebt, dass mir und dir 
Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte, 
Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nöthig sind, wie 
ihr Gegentheil, ja dass, um mich mystisch auszudrücken, 
der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust 
der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiss er Nichts: 
die „Religion des Mitleidens" (oder „das Herz") gebietet, 
zu helfen, und man glaubt am besten geholfen zu haben, 



 



- 250 - 



wenn man am schnellsten geholfen hat! Wenn ihr An- 
hänger dieser Religion die selbe Gesinnung, die ihr gegen 
die Mitmenschen habt, auch wirklich gegen euch selber 
habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde 
auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem mög- 
lichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn 
ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswerth, 
vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfindet: 
nun, dann habt ihr, ausser eurer Religion des Mit- 
leidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, 
und diese ist vielleicht die Mutter von jener: — die 
Religion der Behaglichkeit. Ach, wie wenig wisst 
ihr vom Glücke des Menschen, ihr Behaglichen und 
Gutmüthigen! — denn das Glück und das Unglück sind 
zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross 
wachsen oder, wie bei euch, mit einander — klein 
bleiben! Aber nun zur ersten Frage zurück. — Wie 
ist es nur möglich, auf seinem Wege zu bleiben! 
Fortwährend ruft uns irgend ein Geschrei seitwärts; 
unser Auge sieht da selten Etwas, wobei es nicht nöthig 
wird, augenblicklich unsre eigne Sache zu lassen und 
zuzuspringen. Ich weiss es: es giebt hundert anständige 
und rühmliche Arten, um mich von meinem Wege 
zu verlieren, und wahrlich höchst „moralische" Arten! 
Ja, die Ansicht der jetzigen Mitleid-Moralprediger geht 
sogar dahin, das eben Diess und nur Diess allein mo- 
ralisch sei: — sich dergestalt von seinem Wege zu 
verlieren und dem Nächsten beizuspringen. Ich weiss 
es ebenso gewiss: ich brauche mich nur dem Anblicke 
einer wirklichen Noth auszuliefern, so bin ich auch ver- 
loren! Und wenn ein leidender Freund zu mir sagte: 
„Siehe, ich werde bald sterben; versprich mir doch, 



 



- 251 — 



mit mir zu sterben" — ich verspräche es, ebenso wie 
mich der Anblick jenes für seine Freiheit kämpfenden 
Bergvölkchens dazu bringen würde, ihm meine Hand und 
mein Leben anzubieten: — um einmal aus guten Gründen 
schlechte Beispiele zu wählen. Ja, es giebt eine heimliche 
Verführung sogar in alle diesem Mitleid -Erweckenden 
und Hülfe -Rufenden: eben unser „eigener Weg" ist 
eine zu harte und anspruchsvolle Sache und zu ferne 
von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, — wir 
entlaufen ihm gar nicht ungerne, ihm und unserm eigen- 
sten Gewissen, und flüchten uns unter das Gewissen 
der Anderen und hinein in den lieblichen Tempel der 
„Religion des Mitleidens". Sobald jetzt irgend ein Krieg 
ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den 
Edelsten eines Volkes eine freilich geheim gehaltene 
Lust aus: sie werfen sich mit Entzücken der neuen Ge- 
fahr des Todes entgegen, weil sie in der Aufopferung 
für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaub- 
niss zu haben glauben — die Erlaubniss, ihrem Ziele 
auszuweichen: — der Krieg ist für sie ein Umweg 
zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen. 
Und, um hier Einiges zu verschweigen: so will ich doch 
meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt: 
Lebe im Verborgenen, damit du dir leben kannst! 
Lebe unwissend über Das, was deinem Zeitalter das 
Wichtigste dünkt! Lege zwischen dich und heute 
wenigstens die Haut von drei Jahrhunderten! Und das 
Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und Revo- 
lutionen, soll dir ein Gemurmel sein! Du wirst auch 
helfen wollen: aber nur Denen, deren Noth du ganz 
verstehst, weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoff- 
nung haben — deinen Freunden: und nur auf die 



 



— 252 - 

Weise, wie du dir selber hilfst: — ich will sie muthiger, 
aushaltender, einfacher, fröhlicher machen! Ich will 
sie Das lehren, was jetzt so Wenige verstehen und jene 
Prediger des Mitleidens am wenigsten: — die Mit- 
freude! 

339- 

Vita femin a. — Die letzten Schönheiten eines 
Werkes zu sehen — dazu reicht alles Wissen und aller 
guter Wille nicht aus; es bedarf der seltensten glück- 
lichen Zufalle, damit einmal der Wolkenschleier von 
diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen 
glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten 
Stelle stehen, diess zu sehen: es muss gerade unsere 
Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen 
haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses 
bedürftig sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer 
selber mächtig zu bleiben. Diess Alles aber kommt so 
selten gleichzeitig zusammen, dass ich glauben möchte, 
die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, That, 
Mensch, Natur, seien bisher für die Meisten und selbst 
für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes ge- 
wesen: — was sich aber uns enthüllt, das enthüllt 
sich uns Ein Mal! — Die Griechen beteten wohl: 
„Zwei und drei Mal alles Schöne!" Ach, sie hatten 
da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die un- 
göttliche Wirklichkeit giebt uns das Schöne gar nicht 
oder Ein Mal! Ich will sagen, dass die Welt übervoll 
von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm 
an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser 
Dinge. Aber vielleicht ist diess der stärkste Zauber des 
Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von 
schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, wider- 



 



- 253 - 

strebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. 
Ja, das Leben ist ein Weib! 

340. 

Der sterbende Sokrates. — Ich bewundere die 
Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was 
er that, sagte — und nicht sagte. Dieser spöttische 
und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der 
die übermüthigsten Jünglinge zittern und schluchzen 
machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es 
gegeben hat: er war ebenso gross im Schweigen. Ich 
wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens 
schweigsam gewesen, — vielleicht gehörte er dann in 
eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun 
der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die 
Bosheit — irgend Etwas löste ihm in jenem Augen- 
blick die Zunge und er sagte: „Oh Kriton, ich bin 
dem Asklepios einen Hahn schuldig". Dieses lächer- 
liche und furchtbare „letzte Wort" heisst für Den, der 
Ohren hat: „Oh Kriton, das Leben ist eine Krank- 
heit!" Ist es möglich! Ein Mann, wie er, der heiter 
und vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat, — war 
Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum 
Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein 
innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am 
Leben gelitten! Und er hat noch seine Rache dafür 
genommen — mit jenem verhüllten, schauerlichen, 
frommen und blasphemischen Worte! Musste ein So- 
krates sich auch noch rächen? War ein Gran Gross- 
muth zu wenig in seiner überreichen Tugend? — Ach 
Freunde! Wir müssen auch die Griechen überwinden! 



 



- 254 



341- 

Das grösste Schwergewicht. — Wie, wenn dir 
eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste 
Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, 
wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch 
einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es 
wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz 
und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles 
unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir 
wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge 
— und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht 
zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und 
ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer 
wieder umgedreht — und du mit ihr, Stäubchen vom 
Staube!" — Würdest du dich nicht niederwerfen und 
mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, 
der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren 
Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ,,du 
bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!" Wenn 
jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde 
dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen; 
die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch 
einmal und noch unzählige Male?" würde als das grösste 
Schwergewicht auf deinem Handeln liegen! Oder wie 
müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um 
nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser 
letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung? — 

342. 

Incipit tragoedia. — Als Zarathustra dreissig 
Jahr alt war, verliess er seine Heimath und den See 
Urmi und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines 



 



— 255 — 

Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn 
Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein 
Herz, — und eines Morgens stand er mit der Morgen- 
röthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr 
also: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn 
du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre 
kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest 
deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, 
ohne mich, meinen Adler und meine Schlange; aber 
wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir 
deinen Ueberfluss ab und segneten dich dafür. Siehe! 
Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, 
die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der 
Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken 
und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen 
wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder 
einmal ihres Reichthums froh geworden sind. Dazu muss 
ich in die Tiefe steigen: wie du des Abends thust, wenn 
du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht 
bringst, du überreiches Gestirn! — ich muss, gleich 
dir, untergehen, wie die Menschen es nennen, zu 
denen ich hinab will. So segne mich denn, du ruhiges 
Auge, das ohne Neid auch ein allzugrosses Glück sehen 
kann! Segne den Becher, welcher überfliessen will, 
dass das Wasser golden aus ihm fliesse und überallhin 
den Abglanz deiner Wonne trage ! Siehe ! Dieser Becher 
will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder 
Mensch werden." — Also begann Zarathustra's Unter- 
gang. 

* * 
* 



 



Fünftes Buch. 



Wir Furchtlosen. 



Carcasse, tu trembles? Tu 
tremblerais bieu davantage, st 
tu savais, oü je te mcne. 

Turenne. 



343- 

Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat. 
— Das grösste neuere Ereigniss, — dass „Gott todt ist", 
dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig 
geworden ist — beginnt bereits seine ersten Schatten 
über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, 
deren Augen, deren Argwohn in den Augen stark und 
fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend 
eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Ver- 
trauen in Zweifel umgedreht: ihnen muss unsre alte 
Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder, „älter" 
scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen: das 
Ereigniss selbst ist viel zu gross, zu fern, zu abseits 
vom Fassungsvermögen Vieler, als dass auch nur seine 
Kunde schon angelangt heissen dürfte; geschweige 
denn, dass Viele bereits wüssten, was eigentlich sich 
damit begeben hat — und was Alles, nachdem dieser 
Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es 
auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen 
war: zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese 
lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Unter- 
gang, Umsturz, die nun bevorsteht: wer erriethe heute 
schon genug davon, um den Lehrer und Vorausver- 
künder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben 
zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnen- 
finsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht 
auf Erden gegeben hat? . . Selbst wir geborenen Räthscl- 

17" 



 



- 260 — 

rather, die wir gleichsam auf den Bergen warten, zwischen 
Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch 
zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erst- 
linge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, 
denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald 
einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen 
sein sollten: woran liegt es doch, dass selbst wir ohne 
rechte Theilnahme für diese Verdüsterung, vor Allem 
ohne Sorge und Furcht für uns ihrem Heraufkommen 
entgegensehn? Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter 
den nächsten Folgen dieses Ereignisses — und diese 
nächsten Folgen, seine Folgen für uns sind, umgekehrt 
als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht trau- 
rig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu 
beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Er- 
heiterung, Ermuthigung, Morgenröthe ... In der That, 
wir Philosophen und „freien Geister" fühlen uns bei der 
Nachricht, dass der „alte Gott todt" ist, wie von einer neuen 
Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über 
von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, — 
endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt 
selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe 
wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes 
Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, 
unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch 
niemals ein so „offnes Meer". — 

344- 

Inwiefern auch wir noch fromm sind. — In 
der Wissenschaft haben die Ueberzeugungen kein Bürger- 
recht, so sagt man mit gutem Grunde: erst wenn sie 
sich entschliessen , zur Bescheidenheit einer Hypothese, 
eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regula- 



 



— 261 — 



tiven Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und 
sogar ein gewisser Werth innerhalb des Reichs der Er- 
kenntniss zugestanden werden, — immerhin mit der Be- 
schränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu blei- 
ben, unter die Polizei des Misstrauens. — Heisst das aber 
nicht, genauer besehen: erst, wenn die Ueberzeugung 
aufhört, Ueberzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die 
Wissenschaft erlangen? Fienge nicht die Zucht des wissen- 
schaftlichen Geistes damit an, sich keine Ueberzeugungen 
mehr zu gestatten? ... So steht es wahrscheinlich: nur 
bleibt übrig zu fragen, ob nicht, damit diese Zucht an- 
fangen könne, schon eine Ueberzeugung da sein müsse* 
und zwar eine so gebieterische und bedingungslose, dass 
sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt. 
Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glau- 
ben, es giebt gar keine „voraussetzungslose" Wissen- 
schaft. Die Frage, ob Wahrheit noth thue, muss nicht 
nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht 
sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin 
zum Ausdruck kommt, „es thut nichts mehr noth als 
Wahrheit, und im Verhältniss zu ihr hat alles Uebrige 
nur einen Werth zweiten Rangs". — Dieser unbedingte 
Wille zur Wahrheit: was ist er? Ist es der Wille, sich 
nicht täuschen zu lassen? Ist es der Wille, nicht 
zu täuschen? Nämlich auch auf diese letzte Weise 
könnte der Wille zur Wahrheit interpretirt werden: 
vorausgesetzt, dass man unter der Verallgemeinerung 
„ich will nicht täuschen" auch den einzelnen Fall „ich 
will mich nicht täuschen" einbegreift. Aber warum nicht 
täuschen? Aber warum nicht sich täuschen lassen? — 
Man bemerke, dass die Gründe für das Erstere auf einem 
ganz anderen Bereiche liegen als die für das Zweite: 



 



— 202 



man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme, 
class es schädlich, gefährlich, verhängnissvoll ist, getäuscht 
zu werden, — in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine 
lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen 
die man aber billigerweise einwenden dürfte: wie? ist 
wirklich das Sich -nicht -täuschen -lassen -wollen weniger 
schädlich, weniger gefährlich, weniger verhängnissvoll? 
Was wisst ihr von vornherein vom Charakter des Da- 
seins, um entscheiden zu können, ob der grössere Vor- 
theil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des 
Unbedingt-Zutraulichen ist? Falls aber Beides nöthig 
*?in sollte, viel Zutrauen und viel Misstrauen: woher 
dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, 
ihre Ueberzeugung nehmen, auf dem sie ruht, dass Wahr- 
heit wichtiger sei als irgend ein andres Ding, auch als 
jede andre Ueberzeugung? Eben diese Ueberzeugung 
könnte nicht entstanden sein, wenn Wahrheit und Un- 
wahrheit sich beide fortwährend als nützlich bezeigten 
wie es der Fall ist. Also — kann der (Haube an die 
Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, nicht 
aus einem solchen Nützlichkeits-Calcul seinen Ursprung 
genommen haben, sondern vielmehr trotzdem, dass ihm 
die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des „Willens zur 
Wahrheit", der „W T ahrheit um jeden Preis 44 fortwährend 
bewiesen wird. „Um jeden Preis 44 : oh wir verstehen das 
gut genug, wenn wir erst einen Glauben nach dem an- 
dern auf diesem Altare dargebracht und abgeschlachtet 
haben! — Folglich bedeutet „Wille zur Wahrheit 4 * nicht 
„ich will mich nicht täuschen lassen 44 , sondern — es bleibt 
keine Wahl — „ich will nicht täuschen, auch mich selbst 
nicht 44 : — und hiermit sind wir auf dem Boden der 
Moral. Denn man frage sich nur gründlich: „warum 



 



— 263 - 



willst du nicht täuschen?" namentlich wenn es den An- 
schein haben sollte, — und es hat den Anschein! — als 
wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, 
Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung ange- 
legt wäre, und wenn andrerseits thatsächlich die grosse 
Form des Lebens sich immer auf der Seite der unbe- 
denklichsten nokvTQonot gezeigt hat. # Es könnte ein sol- 
cher Vorsatz vielleicht, mild ausgelegt, eine Don Quixo- 
terie, ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er könnte 
aber auch noch etwas Schlimmeres sein, nämlich ein 
lebensfeindüches zerstörerisches Princip . . . „Wille zur 
Wahrheit" — das könnte ein versteckter Wille zum Tode 
sein. — Dergestalt führt die Frage: warum Wissenschaft? 
zurück auf das moralische Problem: wozu überhaupt 
Moral, wenn Leben, Natur, Geschichte '.unmoralisch" 
sind? Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem 
verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an 
die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre 
Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte ; 
und' insofern er diese „andre Welt" bejaht, wie? muss er 
nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt 
— verneinen? . . . Doch man wird es begriffen haben, 
worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein 
metaphysischer Glaube ist, auf dem unser Glaube 
an die Wissenschaft ruht, — dass auch wir Erkennenden 
von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch 
unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein 
Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen- 
Glaube, der auch der Glaube Plato's war, dass Gott die 
Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist . . . Aber 
wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, 
wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn 



 



— 264 — 



der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, — wenn Gott selbst 
sich als unsre längste Lüge erweist? — 

345- 

Moral als Problem. — Der Mangel an Person 
rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, 
sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit 
taugt zu keinem guten Dinge mehr, — sie taugt am 
wenigsten zur Philosophie. Die „Selbstlosigkeit" hat 
keinen Werth im Himmel und auf Erden; die grossen 
Probleme verlangen alle die grosse Liebe, und dieser 
sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die 
fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten 
Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen per- 
sönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine 
Noth und auch sein bestes Glück hat, oder aber „un- 
persönlich": nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des 
kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen 
versteht. Im letzteren Falle kommt nichts dabei heraus, 
so viel lässt sich versprechen: denn die grossen Pro- 
bleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen, lassen 
sich von Fröschen und Schwächlingen nicht halten, 
das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit, — ein Geschmack 
übrigens, den sie mit allen wackern Weiblein theilen. — 
Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet 
bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in dieser 
Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem 
und dies Problem als seine persönliche Noth, Qual, 
Wollust, Leidenschaft kennte? Ersichtlich war bisher die 
Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin 
man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit 
einander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, 



 



— 265 — 

wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufath- 
meten, auflebten. Ich sehe Niemanden, der eine Kri- 
tik der moralischen Werthurtheile gewagt hätte; ich 
vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaft- 
lichen Neugierde, der verwöhnten versucherischen Psy- 
chologen- und Historiker-Einbildungskraft, welche leicht 
ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne 
recht zu wissen, was da erhascht ist Kaum dass ich 
einige spärliche Ansätze ausfindig gemacht habe, es zu 
einer Entstehungsgeschichte dieser Gefühle und 
Werthschätzungen zu bringen (was etwas Anderes ist 
als eine Kritik derselben und noch einmal etwas Anderes 
als die Geschichte der ethischen Systeme): in einem ein- 
zelnen Falle habe ich Alles gethan, um eine Neigung 
und Begabung für diese Art Historie zu ermuthigen — 
umsonst, wie mir heute scheinen will Mit diesen Moral- 
Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf 
sich: sie stehen gewöhnlich selbst noch arglos unter dem 
Kommando einer bestimmten Moral und geben, ohne es 
zu wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit 
jenem noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks- 
Aberglauben des christlichen Europa, dass das Charak- 
teristicum der moralischen Handlung im Selbstlosen, 
Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mit- 
gefühle, im Mitleiden belegen sei. Ihr gewöhnlicher 
Fehler in der Voraussetzung ist, dass sie irgend einen 
consensus der Völker, mindestens der zahmen Völker 
über gewisse Sätze der Moral behaupten und daraus 
deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und mich, 
schliessen; oder dass sie umgekehrt, nachdem ihnen die 
Wahrheit aufgegangen ist, dass bei verschiedenen Völkern 
die moralischen Schätzungen nothwendig verschieden 



 



— 266 — 

sind, einen Schluss auf Unverbindlichkeit aller Moral 
machen: was Beides gleich grosse Kindereien sind. Der 
Fehler der Feineren unter ihnen ist, dass sie die viel- 
leicht thörichten Meinungen eines Volkes über seine 
Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral 
aufdecken und kritisiren, also über deren Herkunft, reli- 
giöse Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und 
dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst 
kritisirt zu haben. Aber der Werth einer Vorschrift „du 
sollst" ist noch gründlich verschieden und unabhängig 
von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem 
Unkraut des Irrthums, mit dem sie vielleicht überwachsen 
ist: so gewiss der Werth eines Medikaments für den 
Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob 
der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib 
über Medizin denkt Eine Moral könnte selbst aus 
einem Irrthum gewachsen sein: auch mit dieser Einsicht 
wäre das Problem ihres Werth es noch nicht einmal be- 
rührt. — Niemand also hat bisher den Werth jener 
berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft: 
wozu zuallererst gehört, dass man ihn einmal — in 
Frage stellt. Wohlan! Dies eben ist unser Werk. — 

346. 

Unser Fragezeichen. — Aber ihr versteht das 
nicht? In der That, man wird Mühe haben, uns zu ver- 
stehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht 
auch nach Ohren. Wer sind wir doch? Wollten wir 
uns einfach mit einem älteren Ausdruck Gottlose oder 
Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden 
uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben: wir sind 
alles Dreies in einem zu späten Stadium, als dass man 



 



267 — 



begriffe, als dass ihr begreifen könntet, meine Herren Neu- 
gierigen, wie es Einem dabei zu Muthe ist. Nein! nicht 
mehr mit der Bitterkeit und Leidenschaft des Los- 
gerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch einen 
Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht 
machen muss! Wir sind abgesotten in der Einsicht und 
in ihr kalt und hart geworden, dass es in der Welt 
durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach 
menschlichem Maasse vernünftig, barmherzig oder ge- 
recht: wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist un- 
göttlich, unmoralisch, „unmenschlich", — wir haben sie 
uns allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch 
und Willen unsrer Verehrung, das heisst nach einem 
Bedürfnisse ausgelegt. Denn der Mensch ist ein ver- 
ehrendes Thier! Aber er ist auch ein misstrauisches: 
und dass die Welt nicht das werth ist, was wir ge- 
glaubt haben, das ist ungefähr das Sicherste, dessen 
unser Misstrauen endlich habhaft geworden ist So viel 
Misstrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns wohl zu 
sagen, dass sie weniger werth ist: es erscheint uns heute 
selbst zum Lachen, wenn der Mensch in Anspruch 
nehmen wollte, Werthe zu erfinden, welche den Werth 
der wirklichen Welt überragen sollten, — gerade da- 
von sind wir zurückgekommen als von einer ausschwei- 
fenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und Un- 
vernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. 
Sie hat ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimis- 
mus gehabt, einen älteren, stärkeren in der Lehre des 
Buddha; aber auch das Christenthum enthält sie, zweifel- 
hafter freilich und zweideutiger, aber darum nicht weni- 
ger verführerisch. Die ganze Attitüde „Mensch gegen 
Welt", der Mensch als „Welt- verneinendes" Princip, der 



 



— 268 - 

Mensch als Werthmaass der Dinge, als Welten-Richter, 
der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und 
zu leicht befindet — die ungeheuerliche Abgeschmackt- 
heit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein 
gekommen und verleidet, — wir lachen schon, wenn wir 
„Mensch und Welt" nebeneinander gestellt finden, ge- 
trennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens 
„und"! Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als 
Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung 
des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimis- 
mus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? 
Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegen- 
satzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir 
bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren — um 
deren willen wir vielleicht zu leben aus hielten — , und 
einer andren Welt, die wir selber sind: einem uner- 
bittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns 
selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer 
in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Ge- 
schlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen 
könnte: „entweder schafft eure Verehrungen ab oder 
— euch selbst!" Das Letztere wäre der Nihilismus; 
aber wäre nicht auch das Erstere — der Nihilismus? — 
Dies ist unser Fragezeichen. 

347- 

Die Gläubigen und ihr Bedürfniss nach Glau- 
ben. — Wie viel einer Glauben nöthig hat, um zu ge- 
deihen, wie viel „Festes", an dem er nicht gerüttelt haben 
will, weil er sich daran hält, — ist ein Gradmesser seiner 
Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christen- 
thum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute 



 



— 269 — 



noch die Meisten nöthig: deshalb findet es auch immer 
noch Glauben. Denn so ist der Mensch: ein Glaubens- 
satz könnte ihm tausendfach widerlegt sein, — gesetzt, 
er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch immer wieder 
für „wahr" halten, — gemäss jenem berühmten „Beweise 
der Kraft", von dem die Bibel redet. Metaphysik haben 
Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme Ver- 
langen nach Gewissheit, welches sich heute in breiten 
Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Ver- 
langen, durchaus etwas fest haben zu wollen (während 
man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der Be- 
gründung der Sicherheit leichter und lässlicher nimmt): 
auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, 
jener Instinkt derSchwäche, welcher Religionen, Meta- 
physiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schafft, 
aber — conservirt. In der That dampft um alle diese 
positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessi- 
mistischen Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalis- 
mus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung — 
oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, 
Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome 
oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt Selbst die 
Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen 
in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel 
in die Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frank- 
reich chauvinisme, in Deutschland „deutsch" nennt) oder in 
ästhetische Winkel -Bekenntnisse nach Art des Pariser 
naturalisme (der von der Natur nur denTheil hervorzieht 
und entblösst, welcher Ekel zugleich und Erstaunen 
macht — man heisst diesen Theil heute gern la verite 
vraie — ) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster 
(das heisst in den Glauben an den Unglauben, bis 



 



— 270 — 



zum Martyrium dafür) zeigt immer vorerst das Bedürf- 
niss nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt . . . Der 
Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dring- 
lichsten nöthig, wo es an Willen fehlt: denn der Wille 
ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen 
der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger 
Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er 
nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem 
Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei- 
Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die 
beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christen- 
thum ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um-sich- 
greifen zumal, in einer ungeheuren Erkrankung des 
Willens gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahr- 
heit gewesen : beide Religionen fanden ein durch Willens- 
Erkrankung in's Unsinnige aufgethürmtes, bis zur Ver- 
zweiflung gehendes Verlangen nach einem „du sollst" vor, 
beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in 
Zeiten der Willens -Erschlaffung und boten damit Un- 
zähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen, 
einen Genuss am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich 
die einzige „Willensstärke", zu der auch die Schwachen 
und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art 
Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems 
zu Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) 
eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nun- 
mehr dominirt — der Christ heisst ihn seinen Glauben. 
Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass 
ihm befohlen werden muss, wird er „gläubig"; umge- 
kehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, 
eine Freiheit des Willens denkbar, bei der ein Geist 
jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Ab- 



 



— 271 — 



schied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und 
Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Ab- 
gründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der 
freie Geist par excellence. 

348. 

Von der Herkunft der Gelehrten. — Der Ge- 
lehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und gesell- 
schaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines 
spezifischen Erdreichs bedarf: darum gehört er, wesent- 
lich und unfreiwillig, zu den Trägern des demokratischen 
Gedankens. Aber diese Herkunft verräth sich. Hat man 
seinen Blick etwas dafür eingeschult, an einem gelehrten 
Buche, einer wissenschaftlichen Abhandlung die intellek- 
tuelle Idiosynkrasie des Gelehrten — jeder Gelehrte 
hat eine solche — herauszuerkennen und auf der That 
zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr die 
„Vorgeschichte" des Gelehrten, seine Familie, in Son- 
derheit deren Berufsarten und Handwerke zu Gesicht 
bekommen. Wo das Gefühl zum Ausdruck kommt „das 
ist nunmehr bewiesen, hiermit bin ich fertig 4 ', da ist es 
gemeinhin der Vorfahr im Blute und Instinkte des Ge- 
lehrten, welcher von seinem Gesichtswinkel aus die „ge- 
machte Arbeit" gutheisst, — der Glaube an den Beweis 
ist nur ein Symptom davon, was in einem arbeitsamen 
Geschlechte von Alters her als „gute Arbeit" angesehn 
worden ist. Ein Beispiel: die Söhne von Registratoren 
und Büreauschreibcrn jeder Art, deren Hauptaufgabe 
immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schub- 
fächer zu vertheilen, überhaupt zu schematisiren, zeigen, 
falls sie Gelehrte werden, eine Vorneigung dafür, ein 
Problem beinahe damit für gelöst zu halten, dass sie es 



 



— 272 — 

schematisirt haben. Es giebt Philosophen, welche im 
Grunde nur schematische Köpfe sind — ihnen ist das 
Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte gewor- 
den. Das Talent zu Classificationen, zu Kategorientafeln 
verräth Etwas; man ist nicht ungestraft das Kind seiner 
Eltern. Der Sohn eines Advokaten wird auch als For- 
scher ein Advokat sein müssen: er will mit seiner Sache 
in erster Rücksicht Recht behalten, in zweiter, vielleicht, 
Recht haben. Die Söhne von protestantischen Geist- 
lichen und Schullehrern erkennt man an der naiven 
Sicherheit, mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als 
bewiesen nehmen, wenn sie von ihnen eben erst nur 
herzhaft und mit Wärme vorgebracht worden ist: sie 
sind eben gründlich daran gewöhnt, dass man ihnen 
glaubt, — das gehörte bei ihren Vätern zum „Hand- 
werk"! Ein Jude umgekehrt ist, gemäss dem Geschäfts- 
kreis und der Vergangenheit seines Volks, gerade daran 
— dass man ihm glaubt — am wenigsten gewöhnt: man 
sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an, — sie Alle 
halten grosse Stücke auf die Logik, das heisst auf das 
Erzwingen der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, 
dass sie mit ihr siegen müssen, selbst wo Rassen- und 

* 

Classen -Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man 
ihnen ungern glaubt Nichts nämlich ist demokratischer 
als die Logik: sie kennt kein Ansehn der Person und 
nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei 
bemerkt: Europa ist gerade in Hinsicht auf Logisirung, 
auf reinlichere Kopf- Gewohnheiten den Juden nicht 
wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine be- 
klagenswerth deraisonnable Rasse, der man auch heute 
immer noch zuerst „den Kopf zu waschen" hat Ueber- 
au, wo Juden zu Einfluss gekommen sind, haben sie 



 



— 273 — 



feiner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und sau- 
berer zu schreiben gelehrt: ihre Aufgabe war es immer, 
ein Volk „zur Raison" zu bringen.) 

349- 

Noch einmal die Herkunft der Gelehrten. — 
Sich selbst erhalten wollen ist der Ausdruck einer Noth- 
lage, einer Einschränkung des eigentlichen Lebens-Grund- 
triebes, der auf Machterweiterung hinausgeht und in 
diesem Willen oft genug die Selbsterhaltung in Frage 
stellt und opfert. Man nehme es als symptomatisch, wenn 
einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige 
Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungstrieb 
das Entscheidende sahen, sehen mussten: — es waren eben 
Menschen in Nothlagen. Dass unsre modernen Natur- 
wissenschaften sich dermaassen mit dem Spinozistischen 
Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und am gröbsten 
im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre 
vom „Kampf ura's Dasein" — ), das liegt wahrscheinlich 
an der Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören 
in dieser Hinsicht zum „Volk", ihre Vorfahren waren arme 
und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durch- 
zubringen, allzusehr aus der Nähe kannten. Um den 
ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas wie 
englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute- 
Geruch von Noth und Enge. Aber man sollte, als Natur- 
forscher, aus seinem menschlichen Winkel herauskommen : 
und in der Natur herrscht nicht die Nothlage, sondern 
der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Un- 
sinnige. Der Kampf um 's Dasein ist nur eine Ausnahme, 
eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse 
und kleine Kampf dreht sich allenthalben um's Ueber- 

18 



 



— 274 — 

gewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, 
gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des 
Lebens ist. 

350. 

Zu Ehren der homines religiosi. — Der Kampf 
gegen die Kirche ist ganz gewiss unter Anderem — denn 
er bedeutet Vielerlei — auch der Kampf der gemeineren 
vergnügteren vertraulicheren oberflächlicheren Naturen 
gegen die Herrschaft der schwereren tieferen beschau- 
licheren, das heisst böseren und argwöhnischeren Menschen, 
welche mit einem langen Verdachte über den Werth des 
Daseins, auch über den eignen Werth brüteten: — der 
gemeine Instinkt des Volkes, seine Sinnen - Lustigkeit, 
sein „gutes Herz" empörte sich gegen sie. Die ganze 
römische Kirche ruht auf einem südländischen Argwohne 
über die Natur des Menschen, der vom Norden aus immer 
falsch verstanden wird: in welchem Argwohne der euro- 
päische Süden die Erbschaft des tiefen Orients, des ur- 
alten geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation 
gemacht hat. Schon der Protestantismus Ist ein Volks- 
aufstand zu Gunsten der Biederen, Treuherzigen, Ober- 
flächlichen (der Norden war immer gutmüthiger und 
flacher als der Süden); aber erst die französische Revolu- 
tion hat dem „guten Menschen" das Scepter vollends 
und feierlich in die Hand gegeben (dem Schaf, dem Esel, 
der Gans und Allem, was unheilbar flach und Schreihals 
und reif für das Narrenhaus der „modernen Ideen" ist). 

35i- 

Zu Ehren der priesterlichen Naturen. — Ich 
denke, von dem, was das Volk unter Weisheit versteht 
(und wer ist heute nicht „Volk"? — ), von jener klugen 
kuhmässigen Gemüthsstille, Frömmigkeit und Landpfarrer- 



 



— 275 — 

Sanftmuth, welche auf der Wiese liegt und dem Leben 
ernst und wiederkäuend zuschaut, — davon haben gerade 
die Philosophen sich immer am fernsten gefühlt, wahr- 
scheinlich weil sie dazu nicht „Volk" genug, nicht Land- 
pfarrer genug waren. Auch werden wohl sie gerade am 
spätesten daran glauben lernen, dass das Volk Etwas von 
dem verstehn dürfte, was ihm am fernsten liegt, von 
der grossen Leidenschaft des Erkennenden, der be- 
ständig in der Gewitterwolke der höchsten Probleme und 
der schwersten Verantwortlichkeiten lebt, leben muss 
(also ganz und gar nicht zuschauend, ausserhalb, gleich- 
gültig, sicher, objektiv . . .). Das Volk verehrt eine ganz 
andere Art Mensch, wenn es seinerseits sich ein Ideal des 
„Weisen" macht, und hat tausendfach Recht dazu, gerade 
dieser Art Mensch mit den besten Worten und Ehren 
zu huldigen: das sind die milden, ernst -einfältigen und 
keuschen Priester-Naturen und was ihnen verwandt ist, — 
denen gilt das Lob in jener Volks-Ehrfurcht vor der Weis- 
heit. Und wem hätte das Volk auch Grund, dankbarer 
sich zu erweisen als diesen Männern, die zu ihm gehören 
und aus ihm kommen, aber wie Geweihte, Ausgelesene, 
seinem Wohl Geopferte — sie selber glauben sich Gott 
geopfert — , vor denen es ungestraft sein Herz ausschütten, 
an die es seine Heimlichkeiten, seine Sorgen und Schlim- 
meres loswerden kann ( — denn der Mensch, der „sich 
mittheilt", wird sich selber los; und wer „bekannt" hat, 
vergisst). Hier gebietet eine grosse Nothdurft: es be- 
darf nämlich auch für den seelischen Unrath der Abzugs- 
gräben und der reinlichen reinigenden Gewässer drin, es 
bedarf rascher Ströme der Liebe und starker demüthiger 
reiner Herzen, die zu einem solchen Dienste der nicht- 
öffentlichen Gesundheitspflege sich bereit machen und opfern 

18- 



 



— 276 — 

— denn es ist eine Opferung, ein Priester ist und bleibt 
ein Menschenopfer . . . Das Volk empfindet solche ge- 
opferte stillgewordne ernste Menschen des „Glaubens" 
als weise, das heisst als Wissend-Gewordene, als „Sichere" 
im Verhältniss zur eigenen Unsicherheit: wer würde ihm 
das Wort und diese Ehrfurcht nehmen mögen ? — Aber, 
wie es umgekehrt billig ist, unter Philosophen gilt auch 
ein Priester immer noch als „Volk" und nicht als Wissen- 
der, vor Allem, weil sie selbst nicht an „Wissende" glau- 
ben und eben in diesem Glauben und Aberglauben schon 
„Volk" riechen. Die Bescheidenheit war es, welche 
in Griechenland das Wort „Philosoph" erfunden hat und 
den prachtvollen Uebermuth, sich weise zu nennen, den 
Schauspielern des Geistes überliess, — die Bescheidenheit 
solcher Ungethüme von Stolz und Selbstherrlichkeit, wie 
Pythagoras, wie Plato — . 

■ 

35*. 

Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist — Der 
nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher An- 
blick — ich rede von uns Europäern (und nicht einmal 
von den Europäerinnen !) Angenommen, die froheste Tisch- 
gesellschaft sähe sich plötzlich durch die Tücke eines 
Zauberers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, dass 
nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit 
entmuthigt wäre, — es scheint, wir Europäer können jener 
Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst. 
Sollte aber die Verkleidung der „moralischen Menschen", 
ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstands- 
begriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unserer 
Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemein- 
sinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine eben 



 



— 277 — 

so guten Gründe haben ? Nicht dass ich vermeinte, hier- 
bei sollte etwa die menschliche Bosheit und Niederträch- 
tigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns vermummt 
werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade 
als zahme Thiere ein schändlicher Anblick sind und 
die Moral -Verkleidung brauchen, — dass der „inwendige 
Mensch" in Europa eben lange nicht schlimm genug ist, 
um sich damit „sehen lassen" zu können (um damit 
schön zu sein — ). Der Europäer verkleidet sich in die 
Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes 
Thier geworden ist, das gute Gründe hat, „zahm" zu sein, 
weil er beinahe eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches, 
Linkisches ist ... . Nicht die Furchtbarkeit des Raub- 
thiers findet eine moralische Verkleidung nöthig, sondern 
das Heerdenthier mit seiner tiefen Mittelmässigkeit, Angst 
und Langenweile an sich selbst. Moral putzt den Eu- 
ropäer auf — gestehen wir es ein! — in's Vornehmere, 
Bedeutendere, Ansehnlichere, in's „Göttliche" — 

353- 

Vom Ursprung der Religionen. — Die eigent- 
liche Erfindung der Religionsstifter ist einmal: eine be- 
stimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, 
welche als diseiplina voluntatis wirkt und zugleich die 
Langeweile wegschafft; sodann: gerade diesem Leben 
eine Interpretation zu geben, vermöge deren es vom 
höchsten Werthe umleuchtet scheint, so dass es nunmehr 
zu einem Gute wird, für das man kämpft und, unter Um- 
ständen, sein Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei 
Erfindungen die zweite die wesentlichere: die erste, die 
Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren 
Lebensarten und ohne Bewusstsein davon, was für ein 



 



— 278 — 



Werth ihr innewohne. Die Bedeutung, die Originalität 
des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, 
dass er sie sieht, dass er sie auswählt, dass er zum 
ersten Male errät h, wozu sie gebraucht, wie sie inter- 
pretirt werden kann. Jesus (oder Paulus) zum Beispiel 
fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Pro- 
vinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: 
er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth 
hinein — und damit den Muth, jede andre Art Leben zu 
verachten, den stillen Herrenhuter-Fanatismus, das heim- 
liche unterirdische Selbstvertrauen, welches wächst und 
wächst und endlich bereit ist, „die Welt zu überwinden" 
(das heisst Rom und die höheren Stände im ganzen Reiche). 
Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und 
zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche 
Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig 
(vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, ab- 
stinent, beinahe bedürfhisslos leben: er verstand, wie eine 
solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der 
ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, 
der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heisst der 
Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht, 
— dies „Verstehen" war sein Genie. Zum Religionsstifter 
gehört psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um eine 
bestimmte Durchschnitts -Art von Seelen, die sich noch 
nicht als zusammengehörig erkannt haben. Er ist es, 
der sie zusammenbringt; die Gründung einer Religion 
wird insofern immer zu einem langen Erkennungs-Feste. — 

354- 

Vom „Genius der Gattung". — Das Problem des 
Bewusstseins (richtiger: des Sich-Bewusst- Werdens) tritt 



 



— 279 — 



erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen, 
inwiefern wir seiner entrathen könnten: und an diesen 
Anfang des Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und 
Thiergeschichte (welche also zwei Jahrhunderte nöthig ge- 
habt haben, um den vorausfliegenden Argwohn Leib- 
nitzens einzuholen). Wir könnten nämlich denken, fühlen, 
wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls „handeln" in 
jedem Sinne des Wortes: und trotzdem brauchte das Alles 
nicht uns „in 's Bewusstsein zu treten" (wie man im Bilde 
sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich 
gleichsam im Spiegel sähe: wie ja thatsächlich auch jetzt 
noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses 
Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt — , und zwar 
auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so 
beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag. 
Wozu überhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache 
überflüssig ist? — Nun scheint mir, wenn man meiner 
Antwort auf diese Frage und ihrer vielleicht ausschweifen- 
den Vermuthung Gehör geben will, die Feinheit und 
Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur Mit- 
theilungs-Fähigkeit eines Menschen (oder Thiers) zu 
stchn, die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhält- 
niss zur Mittheilungs -Bedürftigkeit: letzteres nicht 
so verstanden, als ob gerade der einzelne Mensch selbst, 
welcher gerade Meister in der Mittheilung und Verständ- 
lichmachung seiner Bedürfhisse ist, zugleich auch mit 
seinen Bedürfnissen am meisten auf die Andern angewiesen 
sein müsste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf 
ganze Rassen und Geschlechter-Ketten zu stehn: wo das 
Bedürfhiss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, 
sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu ver- 
stehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und 



 



— 280 — 



Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermögen, das 
sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet, 
der es verschwenderisch ausgiebt ( — die sogenannten 
Künstler sind diese Erben, insgleichen die Redner, Pre- 
diger, Schriftsteller, Alles Menschen, welche immer am 
Ende einer langen Kette kommen, „Spätgeborne" jedes 
Mal, im besten Verstände des Wortes, und, wie gesagt, 
ihrem Wesen nach Verschwender). Gesetzt, diese Be- 
obachtung Ist richtig, so darf ich zu der Vermuthung 
weitergehn, dass Bewusstsein überhaupt sich nur 
unter dem Druck des Mittheilungs-Bedürfnisses 
entwickelt hat, — dass es von vornherein nur zwischen 
Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchen- 
den in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch 
nur im Verhältniss zum Grade dieser Nützlichkeit sich ent- 
wickelt hat. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbin- 
dungsnetz zwischen Mensch und Mensch, — nur als solches 
hat es sich entwickeln müssen: der einsiedlerische und 
raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass 
uns unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen 
selbst in's Bewusstsein kommen — wenigstens ein Theil 
derselben — , das ist die Folge eines furchtbaren langen 
über dem Menschen waltenden „Muss": er brauchte, als 
das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines- 
Gleichen, er musste seine Noth auszudrücken, sich ver- 
ständlich zu machen wissen — und zu dem Allen hatte 
er zuerst „Bewusstsein" nöthig, also selbst zu „wissen" 
was ihm fehlt, zu „wissen", wie es ihm zu Muthe ist, zu 
„wissen", was er denkt. Denn nochmals gesagt : der 
Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, 
aber weiss es nicht; das bewusst werdende Denken ist 
nur der kleinste Theil davon, sagen wir: der oberfläch- 



 



— 281 — 



lichste, der schlechteste Theil: — denn allein dieses be- 
wusste Denken geschieht in Worten, das heisst in 
Mittheilungszeichen, womit sich die Herkunft desBe- 
wusstseins selber aufdeckt Kurz gesagt, die Entwick- 
lung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins 
(nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst- 
werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme 
hinzu, dass nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen 
Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick, der 
Druck, die Gebärde; das Bewusstwerden unserer Sinnes- 
eindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixiren zu können 
und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse 
zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie Andern durch 
Zeichen zu übermitteln. Der Zeichen-erfindende Mensch 
ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste 
Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner 
selbst bewusst werden, — er thut es noch, er thut es 
immer mehr. — Mein Gedanke ist, wie man sieht: dass 
das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz 
des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Ge- 
meinschafts- und Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus 
folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden- 
Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder 
von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell 
wie möglich zu verstehen, „sich selbst zu kennen", 
doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich 
zum Bewusstsein bringen wird, sein „Durchschnittliches", 
— dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den 
Charakter des Bewusstseins — durch den in ihm ge- 
bietenden „Genius der Gattung 44 — gleichsam majorisirt 
und in die Heerden-Perspektive zurück-übersetzt wird. 
Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine 



 



— 282 — 



unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt - 
individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in's 
Bewusstsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr . . . 
Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspekti- 
vismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des thierischen 
Bewusstseins bringt es mit sich, dass die Welt, deren 
wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und 
Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte 
Welt, — dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, 
dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen 
wird, dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründ- 
liche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und 
Generalisation verbunden ist Zuletzt ist das wachsende 
Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten 
Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit ist 
Es ist, wie man crräth, nicht der Gegensatz von Subjekt 
und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung 
überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den 
Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen 
geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von 
„Ding an sich" und Erscheinung: denn wir „erkennen" bei 
weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. 
Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für 
die „Wahrheit": wir „wissen" (oder glauben oder bilden 
uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen- 
Heerde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst was 
hier „Nützlichkeit" genannt wird, ist zuletzt auch nur ein 
Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene ver- 
hängnissvollste Dummheit an der wir einst zu Grunde gehn. 

355- 

Der Ursprung unsres Begriffs „Erkcnntniss". 
— Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte 



 



283 — 



Jemanden aus dem Volke sagen „er hat mich erkannt" — : 
dabei fragte ich mich: was versteht eigentlich das Volk 
unter Erkenntniss? was will es, wenn es „Erkenntniss" 
will? Nichts weiter als dies: etwas Fremdes soll auf 
etwas Bekanntes zurückgeführt werden. Und wir Philo- 
sophen — haben wir unter Erkenntniss eigentlich mehr 
verstanden? Das Bekannte, das heisst: das woran wir 
gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wun- 
dern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, 
Alles und Jedes, in dem wir uns zu Hause wissen: — 
wie? ist unser Bedürfhiss nach Erkennen nicht eben dies 
Bedürfhiss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Frem- 
den, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, 
das uns nicht mehr beunruhigt? Sollte es nicht der In- 
stinkt der Furcht sein, der uns erkennen heisst? Sollte 
das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Froh- 
locken des wieder erlangten Sicherheitsgefuhls sein? . . . 
Dieser Philosoph wähnte die Welt „erkannt", als er sie 
auf die „Idee" zurückgeführt hatte: ach, war es nicht des- 
halb, weil ihm die „Idee" so bekannt, so gewohnt war? 
weil er sich so wenig mehr vor der „Idee" fürchtete? — 
Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden ! man sehe 
sich doch ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf 
an ! Wenn sie Etwas an den Dingen, unter den Dingen, 
hinter den Dingen wiederfinden, das uns leider sehr be- 
kannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik 
oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie 
sofort! Denn „was bekannt ist, ist erkannt": darin stimmen 
sie übercin. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, 
zum Mindesten sei das Bekannte leichter erkennbar 
als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, 
von der „inneren Welt", von den „Thatsachen des Be- 



 



— 284 — 

wusstseins" auszugehen, weil sie die uns bekanntere 
Welt sei! Irrthum der Irrthümer! Das Bekannte ist das 
Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu „er- 
kennen", das heisst als Problem zu sehen, das heisst als 
fremd, als fern, als „ausser uns" zu sehn . . . Die grosse 
Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss 
zur Psychologie und Kritik der Bcwusstseins-Elemente — 
unnatürlichen Wissenschaften, wie man beinahe sagen 
dürfte — ruht gerade darauf, dass sie das Fremde als 
Objekt nehmen: während es fast etwas Widerspruchs- 
volles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt 
als Objekt nehmen zu wollen .. . 

356. 

Inwiefern es in Europa immer „künstlerischer** 
zugehn wird. — Die Lebens-Fürsorge zwingt auch heute 
noch — in unsrer Uebergangszeit, wo so Vieles aufhört 
zu zwingen — fast allen männlichen Europäern eine be- 
stimmte Rolle auf, ihren sogenannten Beruf; Einigen 
bleibt dabei die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese 
Rolle selbst zu wählen, den Meisten wird sie gewählt 
Das Ergebniss ist seltsam genug: fast alle Europäer ver- 
wechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer 
Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres „guten Spiels", sie 
selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür 
damals über sie verfügt haben, als sich ihr „Beruf 44 ent- 
schied — und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten 
spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer 
angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, 
aus der Kunst Natur. Es gab Zeitalter, in denen man 
mit steifer Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit an seine 
Vorherbestimmung für gerade dies Geschäft, gerade diesen 



 



— 285 — 



Broderwerb glaubte und den Zufall darin, die Rolle, das Will- 
kürliche schlechterdings nicht anerkennen wollte: Stande, 
Zünfte, erbliche Gewerbs -Vorrechte haben mit Hülfe dieses 
Glaubens es zu Stande gebracht, jene Ungeheuer von 
breiten Gesellschafts -Thürmen aufzurichten, welche das 
Mittelalter auszeichnen und denen jedenfalls Eins nachzu- 
rühmen bleibt: Dauerfähigkeit (— und Dauer ist auf 
Erden ein Werth ersten Ranges!). Aber es giebt umge- 
kehrte Zeitalter, die eigentlich demokratischen, wo man 
diesen Glauben mehr und mehr verlernt und ein gewisser 
kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in den 
Vordergrund tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche 
des Perikles zuerst bemerkt wird, jener Amerikaner-Glaube 
von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden 
will: wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr Alles zu 
können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo 
Jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit 
Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird . . . 
Die Griechen, erst in diesen Rollen-Glauben — einen 
Artisten-Glauben, wenn man will — eingetreten, machten, 
wie bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht 
in jedem Betracht nachahmenswerthe Verwandlung durch : 
sie wurden wirklich Schauspieler; als solche be- 
zauberten sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt 
selbst die „Weltüberwinderin" (denn der Graeculus histrio 
hat Rom besiegt, und nicht, wie die Unschuldigen zu 
sagen pflegen, die griechische Cultur . . .). Aber was ich 
fürchte, was man heute schon mit Händen greift, falls 
man Lust hätte, darnach zu greifen, wir modernen Menschen 
sind ganz schon auf dem gleichen Wege; und jedes Mal, 
wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine 
Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein kann, 



 



- 286 - 

wird er Schauspieler . . . Damit kommt dann eine neue 
Flora und Fauna von Menschen herauf, die in festeren, 
beschränkteren Zeitaltern nicht wachsen können — oder 
„unten" gelassen werden, unter dem Banne und Verdachte 
der Ehrlosigkeit — , es kommen damit jedes Mal die inter- 
essantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, 
in denen die „Schauspieler", alle Arten Schauspieler, die 
eigentlichen Herren sind. Eben dadurch wird eine andre 
Gattung Mensch immer tiefer benachtheiligt, endlich un- 
möglich gemacht, vor Allem die grossen „Baumeister"; 
jetzt erlahmt die bauende Kraft ; der Muth, auf lange Fernen 
hin Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen 
Genies fangen an zu fehlen: — wer wagt es nunmehr 
noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man 
auf Jahrtausende rechnen müsste? Es stirbt eben jener 
Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rech- 
nen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, 
seinem Plane zum Opfer bringen kann, dass nämlich der 
Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er ein Stein 
in einem grossen Baue ist: wozu er zuallererst fest 
sein muss, „Stein" sein muss . . . Vor Allem nicht — 
Schauspieler! Kurz gesagt — ach, es wird lang genug 
noch verschwiegen werden! — was von nun an nicht 
mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden kann, das 
ist — eine Gesellschaft im alten Verstände des Wortes; 
um diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material. 
Wir Alle sind kein Material mehr für eine Gesell- 
schaft: das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist! Es 
dünkt mich gleichgültig, dass einstweilen noch die kurz- 
sichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art 
Mensch, die es heute giebt, unsre Herrn Sociallsten, un- 
gefähr das Gegentheil glaubt, hofft, träumt, vor Allem 



 



— 287 — 

schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort „freie 
Gesellschaft 4 ' bereits auf allen Tischen und Wänden. 
Freie Gesellschaft? Ja! Ja! Aber ihr wisst doch, ihr 
Herren, woraus man die baut? Aus hölzernem Eisen ! Aus 
dem berühmten hölzernen Eisen! Und noch nicht einmal 
aus hölzernem . . . 

357- 

Zum alten Probleme: „was ist deutsch?" — 
Man rechne bei sich die eigentlichen Errungenschaften des 
philosophischen Gedankens nach, welche deutschen Köpfen 
verdankt werden: sind sie in irgend einem erlaubten Sinne 
auch noch der ganzen Rasse zu Gute zu rechnen? Dürfen 
wir sagen: sie sind zugleich das Werk der „deutschen 
Seele", mindestens deren Symptom, in dem Sinne, in 
welchem wir etwa Plato's Ideomanie, seinen fast religiösen 
Formen -Wahnsinn zugleich als ein Ereigniss und Zeug- 
niss der „griechischen Seele" zu nehmen gewohnt sind? 
Oder wäre das Umgekehrte wahr? wären sie gerade so 
individuell, so sehr Ausnahme vom Geiste der Rasse, 
wie es zum Beispiel Goethe's Heidenthum mit gutem 
Gewissen war? Oder wie es Bismarck's Macchiavellismus 
mit gutem Gewissen, seine sogenannte „Realpolitik", unter 
Deutschen ist? Widersprächen unsre Philosophen viel- 
leicht sogar dem Bedürfnisse der „deutschen Seele"? 
Kurz, waren die deutschen Philosophen wirklich — philo- 
sophische Deutsche? — Ich erinnere an drei Fälle. 
Zuerst an Leibnitzens unvergleichliche Einsicht, mit 
der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen Alles, 
.was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht bekam, — dass 
die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, 
nicht deren nothwendiges und wesentliches Attribut, 



 



— 288 — 



dass also das, was wir Bewusstsein nennen, nur einen 
Zustand unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht 
(vielleicht einen krankhaften Zustand) und bei weitem 
nicht sie selbst: — ist an diesem Gedanken, dessen 
Tiefe auch heute noch nicht ausgeschöpft ist, etwas 
Deutsches? Giebt es einen Grund zu muthmaassen, dass 
nicht leicht ein I-ateiner auf diese Umdrehung des Augen- 
scheins verfallen sein würde? — denn es ist eine Um- 
drehung. Erinnern wir uns zweitens an Kant 's un- 
geheures Fragezeichen, welches er an den Begriff „Cau- 
salität" schrieb, — nicht dass er wie Hume dessen Recht 
überhaupt bezweifelt hätte : er begann vielmehr vorsichtig 
das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen dieser Begriff 
überhaupt Sinn hat (man ist auch jetzt noch nicht mit 
dieser Grenzabsteckung fertig geworden). Nehmen wir 
drittens den erstaunlichen Griff Hege Ts, der damit durch 
alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen durch- 
griff, als er zu lehren wagte, dass die Artbegriffe sich 
aus einander entwickeln: mit welchem Satze die Geister 
in Europa zur letzten grossen wissenschaftlichen Beweg- 
ung präformirt wurden, zum Darwinismus — denn ohne 
Hegel kein Darwin. Ist an dieser Hegeischen Neuerung, 
die erst den entscheidenden Begriff „Entwicklung 44 in die 
Wissenschaft gebracht hat, etwas Deutsches? — Ja, ohne 
allen Zweifel: in allen drei Fällen fühlen wir Etwas von 
uns selbst „aufgedeckt 44 und errathen und sind dankbar 
dafür und überrascht zugleich, jeder dieser drei Sätze ist 
ein nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntniss, 
Selbsterfahrung, Selbsterfassung. „Unsre innre Welt ist 
viel reicher, umfänglicher, verborgener 44 , so empfinden wir, 
mit Leibnitz; als Deutsche zweifeln wir mit Kant an der 
Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und 



 



— 289 — 

überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen lässt: 
das Erkennbare scheint uns als solches schon geringe- 
ren Werth es. Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn 
es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegen- 
satz zu allen I^teinern) dem Werden, der Entwicklung 
instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth zu- 
messen als dem, was „ist" — wir glauben kaum an die 
Berechtigung des Begriffs „Sein" — ; ebenfalls insofern 
wir unsrer menschlichen Logik nicht geneigt sind einzu- 
räumen, dass sie die Logik an sich, die einzige Art Logik 
sei (wir möchten vielmehr uns überreden, dass sie nur 
ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten 
und dümmsten — ). Eine vierte Frage wäre, ob auch 
Schopenhauer mit seinem Pessimismus, das heisst dem 
Problem vom Werth des Daseins, gerade ein Deut- 
scher gewesen sein müsste. Ich glaube nicht Das Er- 
eigniss, nach welchem dies Problem mit Sicherheit zu 
erwarten stand, so dass ein Astronom der Seele Tag 
und Stunde dafür hätte ausrechnen können, der Nieder- 
gang des Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg 
des wissenschaftlichen Atheismus, ist ein gesammt-euro- 
päisches Ereigniss, an dem alle Rassen ihren Antheil 
von Verdienst und Ehre haben sollen. Umgekehrt wäre 
gerade den Deutschen zuzurechnen — jenen Deutschen, 
mit welchen Schopenhauer gleichzeitig lebte — , diesen 
Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten ver- 
zögert zu haben; Hegel namentlich war sein Verzögerer 
par excellence, gemäss dem grandiosen Versuche, den 
er machte, uns zur Göttlichkeit des Daseins zu allerletzt 
noch mit Hülfe unsres sechsten Sinnes, des „historischen 
Sinnes" zu überreden. Schopenhauer war als Philosoph 
der erste eingeständliche und unbeugsame Atheist, 

19 



 



- 290 - 



den wir Deutschen gehabt haben: seine Feindschaft 
gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund. Die Un- 
göttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, 
Greifliches, Undiskutirbares; er verlor jedes Mal seine 
Philosophen- Besonnenheit und gerieth in Entrüstung, 
wenn er Jemanden hier zögern und Umschweife machen 
sah. An dieser Stelle Hegt seine ganze Rechtschaffen- 
heit: der unbedingte redliche Atheismus ist eben die 
Voraussetzung seiner Problemstellung, als ein endlich 
und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, 
als der folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen 
Zucht zur Wahrheit, welche am Schlüsse sich die Lüge 
im Glauben an Gott verbietet . . . Man sieht, was eigent- 
lich über den christlichen Gott gesiegt hat: die christ- 
liche Moralität selbst, der immer strenger genommene 
Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des 
christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissen- 
schaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um 
jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis 
für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte 
interpretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als 
beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und 
sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse aus- 
legen, wie sie fromme Menschen lange genug ausge- 
legt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, 
Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und ge- 
schickt sei: das ist nunmehr vorbei, das hat das Gewissen 
gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unan- 
ständig, unehrlich, als Lügnerei, Femininismus, Schwach- 
heit, Feigheit, — mit dieser Strenge, wenn irgend wo- 
mit, sind wir eben gute Europäer und Erben von Eu- 
ropa's längster und tapferster Selbstüberwindung. Indem 



 



— 291 — 

wir die christliche Interpretation dergestalt von uns 
stossen und ihren „Sinn" wie eine Falschmünzerei ver- 
urthcilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise 
die Schopenhauerische Frage zu uns: hat denn das 
Dasein überhaupt einen Sinn? — jene Frage, die ein 
paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur voll- 
ständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden. 
Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet 
hat, war — man vergebe es mir — etwas Voreiliges, 
Jugendliches, nur eine Abfindung, ein Stehen- und Stecken- 
bleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspek- 
tiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube 
gekündigt war . . . Aber er hat die Frage gestellt 
— als ein guter Europäer, wie gesagt, und nicht als 
Deutscher. — Oder hätten etwa die Deutschen, wenig- 
stens mit der Art, in welcher sie sich der Schopen- 
hauerischen Frage bemächtigten, ihre innere Zugehörig- 
keit und Verwandtschaft, ihre Vorbereitung, ihr Be- 
dürfniss nach seinem Problem bewiesen? Dass nach 
Schopenhauer auch in Deutschland — übrigens spät 
genug! — über das von ihm aufgestellte Problem ge- 
dacht und gedruckt worden ist, reicht gewiss nicht aus, 
zu Gunsten dieser engeren Zugehörigkeit zu entscheiden; 
man könnte selbst die cigenthümliche Ungeschickt- 
heit dieses Nach-Schopenhauerischen Pessimismus da- 
gegen geltend machen, — die Deutschen benahmen sich 
ersichtlich nicht dabei wie in ihrem Elemente. Hiermit 
spiele ich ganz und gar nicht auf Eduard von Hartmann 
an; im Gegentheil, mein alter Verdacht ist auch heute 
noch nicht gehoben, dass er für uns zu geschickt ist, 
ich will sagen, dass er als arger Schalk von Anbeginn 
sich vielleicht nicht nur über den deutschen Pessimismus 



 



- 292 - 



lustig gemacht hat, — dass er am Ende etwa gar es den 
Deutschen testamentarisch „vermachen" könnte, wie weit 
man sie selbst, im Zeitalter der Gründungen, hat zum 
Narren haben können. Aber ich frage: soll man viel- 
leicht den alten Brummkreisel Bahnsen den Deutschen 
zu Ehren rechnen, der sich mit Wollust sein Leben lang 
um sein realdialektisches Elend und „persönliches Pech" 
gedreht hat, — wäre etwa das gerade deutsch? (ich em- 
pfehle anbei seine Schriften, wozu ich sie selbst gebraucht 
habe, als antipessimistische Kost, namentlich um seiner 
elegantiae psychologicae willen, mit denen, wie mich 
dünkt, auch dem verstopftesten Leibe und Gemüthe bei- 
zukommen ist). Oder dürfte man solche Dilettanten und 
alte Jungfern, wie den süsslichen Virginitäts- Apostel 
Mainländer unter die rechten Deutschen zählen? Zuletzt 
wird es ein Jude gewesen sein ( — alle Juden werden 
süsslich, wenn sie moralisiren). Weder Bahnsen, noch 
Mainländer, noch gar Eduard von Hartmann geben eine 
sichere Handhabe für die Frage ab, ob der Pessimismus 
Schopenhauers, sein entsetzter Blick in eine entgöttlichte, 
dumm, blind, verrückt und fragwürdig gewordene Welt, 
sein ehrliches Entsetzen . . . nicht nur ein Ausnahme- 
Fall unter Deutschen, sondern ein deutsches Ereigniss 
gewesen ist: während Alles, was sonst im Vordergrunde 
steht, unsre tapfre Politik, unsre fröhliche Vaterländerei, 
welche entschlossen genug alle Dinge auf ein wenig 
philosophisches Princip hin („Deutschland, Deutschland 
über Alles") betrachtet, also sub specie speciei, nämlich 
der deutschen species, mit grosser Deutlichkeit das Gegen- 

• 

theil bezeugt Nein! die Deutschen von heute sind keine 
Pessimisten! Und Schopenhauer war Pessimist, nochmals 
gesagt, als guter Europäer und nicht als Deutscher. — 



 



— 293 — 



358. 

Der Bauernaufstand des Geistes. — Wir Euro- 
päer befinden uns im Anblick einer ungeheuren Trümmer- 
welt, wo Einiges noch hoch ragt, wo Vieles morsch und 
unheimlich dasteht, das Meiste aber schon am Boden 
liegt, malerisch genug — wo gab es je schönere Ruinen? 
— und überwachsen mit grossem und kleinem Unkraute. 
Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs: wir sehen 
die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die 
untersten Fundamente erschüttert, — der Glaube an Gott 
ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-asketische 
Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein sol- 
ches lang und gründlich gebautes Werk wie das Christen- 
thum — es war der letzte Römerbau! — konnte freilich 
nicht mit Einem Male zerstört werden; alle Art Erd- 
beben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, 
nagt, feuchtet, hat da helfen müssen. Aber was das 
Wunderlichste ist: Die, welche sich am meisten darum 
bemüht haben, das Christenthum zu halten, zu erhalten, 
sind gerade seine besten Zerstörer geworden, — die 
Deutschen. Es scheint, die Deutschen verstehen das 
Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig 
genug? nicht misstrauisch genug? Der Bau der Kirche 
ruht jedenfalls auf einer südländischen Freiheit und 
Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem süd- 
ländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, — 
er ruht auf einer ganz andren Kenntniss des Menschen, 
Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat 
Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite 
die Entrüstung der Einfalt gegen etwas „Vielfältiges", 
um vorsichtig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, 



 



— 294 — 



an dem Viel zu verzeihen ist, — man begriff den Aus- 
druck einer siegreichen Kirche nicht und sahnurCor- 
ruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen 
Luxus von Skepsis und Toleranz, welchen sich jede 
siegreiche selbstgewisse Macht gestattet . . . Man über- 
sieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen 
Fragen der Macht verhängnissvoll kurz, oberflächlich, 
unvorsichtig angelegt war, vor Allem als Mann aus dem 
Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, 
aller Instinkt für Macht abgieng: so dass sein Werk, sein 
Wille zur Wiederherstellung jenes Römer -Werks, ohne 
dass er es wollte und wusste, nur der Anfang eines Zer- 
störungswerks wurde. Er dröselte auf, er riss zusammen, 
mit ehrlichem Ingrimme, wo die alte Spinne am sorg- 
samsten und längsten gewoben hatte. Er lieferte die 
heiligen Bücher an Jedermann aus, — damit geriethen 
sie endlich in die Hände der Philologen, das heisst der 
Vernichter jeden Glaubens, der auf Büchern ruht Er 
zerstörte den Begriff „Kirche", indem er den Glauben an 
die Inspiration der Concilien wegwarf: denn nur unter 
der Voraussetzung, dass der inspirirendc Geist, der die 
Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch 
fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff „Kirche" 
Kraft. Er gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit 
dem Weibe zurück: aber drei Viertel der Ehrfurcht, 
deren das Volk, vor Allem das Weib aus dem Volke 
fähig ist, ruht auf dem Glauben, dass ein Ausnahme- 
Mensch in diesem Punkte auch in andren Punkten eine 
Ausnahme sein wird, — hier gerade hat der Volksglaube 
an etwas Uebermenschliches im Menschen, an das Wun- 
der, an den erlösenden Gott im Menschen, seinen feinsten 
und verfänglichsten Anwalt. Luther musstc dem Priester, 



 



— 295 — 



nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte 
nehmen, das war psychologisch richtig: aber damit war 
im Grunde der christliche Priester selbst abgeschafft, 
dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein 
heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für 
Geheimnisse zu sein. „Jedermann sein eigner Priester 44 
— hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Ver- 
schlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche 
Hass auf den „höheren Menschen 44 und die Herrschaft 
des „höheren Menschen 4 ', wie ihn die Kirche concipirt 
hatte : — er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen 
wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu be- 
kämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsächlich stiess 
er, der unmögliche Mönch, die Herrschaft der homines 
religiosi von sich; er machte also gerade Das selber 
innerhalb der kirchlichen Gesellschafts-Ordnung, was er 
in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam 
bekämpfte, — einen „Bauernaufstand 44 . — Was hinter- 
drein Alles aus seiner Reformation gewachsen ist, Gutes 
und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet werden 
kann, — wer wäre wohl naiv genug, Luthern um dieser 
Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln? Er ist 
an Allem unschuldig, er wusste nicht was er that. Die 
Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im 
Norden, seine Vergutmüthigung, wenn man's lieber 
mit einem moralischen Worte bezeichnet hört, that mit 
der Lutherischen Reformation einen tüchtigen Schritt 
vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch 
sie die Beweglichkeit und Unruhe des Geistes, sein Durst 
nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein Recht auf Frei- 
heit, seine „Natürlichkeit 44 . Will man ihr in letzterer Hin- 
sicht den Werth zugestehn, Das vorbereitet und begünstigt 



 



— 296 — ' 

zu haben, was wir heute als „moderne Wissenschaft" 
verehren, so muss man freilich hinzufugen, dass sie auch 
an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig 
ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, 
an der ganzen naiven Treuherzigkeit und Biedermännerei 
in Dingen der Erkenntniss, kurz an jenem Plebejis- 
mus des Geistes, der den letzten beiden Jahrhun- 
derten eigentümlich ist und von dem uns auch der bis- 
herige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat, — auch 
die „modernen Ideen" gehören noch zu diesem Bauern- 
aufstand des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, 
mißtrauischeren Geist des Südens, der sich in der christ- 
lichen Kirche sein grösstes Denkmal gebaut hat Ver- 
gessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und 
zwar im Gegensatz zu jedem „Staate": eine Kirche ist 
vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den geistigeren 
Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht 
der Geistigkeit soweit glaubt, um sich alle gröberen 
Gewaltmittel zu verbieten, — damit allein ist die Kirche 
unter allen Umständen eine vornehmere Institution als 
der Staat. — 

359- 

Die Rache am Geist und andere Hintergründe 
der Moral. — Die Moral — wo glaubt ihr wohl, dass 
sie ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat?... 
Da ist ein missrathener Mensch, der nicht genug Geist 
besitzt, um sich dessen freuen zu können, und gerade 
Bildung genug, um das zu wissen; gelangweilt, über- 
drüssig, ein Selbstverächter; durch etwas ererbtes Ver- 
mögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den 
„Segen der Arbeit", die Selbstvergessenheit im „Tage- 
werk"; ein Solcher, der sich seines Daseins im Grunde 



 



— 297 — 



schämt — vielleicht herbergt er dazu ein paar kleine 
Laster — und andrerseits nicht umhin kann, durch Bücher, 
auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft 
als er verdauen kann, sich immer schlimmer zu ver- 
wöhnen und eitel-reizbar zu machen: ein solcher durch 
und durch vergifteter Mensch — denn Geist wird Gift, 
Bildung wird Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift 
bei dergestalt Missrathenen — geräth schliesslich in 
einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur 
Rache .... was glaubt ihr wohl, dass er nöthig, un- 
bedingt nöthig hat, um sich bei sich selbst den Anschein 
von Ueberlegenheit über geistigere Menschen, um sich 
die Lust der vollzogenen Rache, wenigstens für seine 
Einbildung, zu schaffen? Immer die Moralität, darauf 
darf man wetten, immer die grossen Moral -Worte, immer 
das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, 
Tugend, immer den Stoicismus der Gebärde (— wie gut 
versteckt der Stoicismus was Einer nicht hat!..), immer 
den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, 
der Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel heissen, 
unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die 
unheilbar Eiteln, herum gehn. Man verstehe mich nicht 
falsch: aus solchen geborenen Feinden des Geistes 
entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschthum, das 
vom Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen 
verehrt wird; aus solchen Menschen kommen jene Un- 
thiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte 
machen, — der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die 
Furcht vor dem Geist, die Rache am Geist — oh 
wie oft wurden diese triebkräftigen Laster schon zur 
Wurzel von Tugenden! Ja zur Tugend! — Und, unter 
uns gefragt, selbst jener Philosophen- Anspruch auf Weis - 



 



— 298 — 

heit, der hier und da einmal auf Erden gemacht worden 
ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche, — 
war er nicht immer bisher, in Indien, wie in Griechen- 
land, vor Allem ein Versteck? Mitunter vielleicht 
im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen 
heiligt, als zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, 
auf Jünger, welche oft durch den Glauben an die Person 
(durch einen Irrthum) gegen sich selbst vertheidigt werden 
müssen ... In den häufigeren Fällen aber ein Versteck 
des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, 
Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom 
nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere 
vor dem Tode haben, — sie gehen bei Seite, werden 
still, wählen die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, 
werden weise . . . Wie? Weisheit ein Versteck des 
Philosophen vor — dem Geiste? — 

360. 

Zwei Arten Ursache, die man verwechselt. — 
Das erscheint mir als einer meiner wesentlichsten Schritte 
und Fortschritte: ich lernte die Ursache des Handelns 
unterscheiden von der Ursache des So- und So-Handelns, 
des In -dieser Richtung, Auf-dieses Ziel hin- Handelns. 
Die erste Art Ursache ist ein Quantum von aufgestauter 
Kraft, welches darauf wartet, irgend wie, irgend wozu 
verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen Etwas 
an dieser Kraft gemessen ganz Unbedeutendes, ein kleiner 
Zufall zumeist, gemäss dem jenes Quantum sich nunmehr 
auf Eine und bestimmte Weise „auslöst": das Streich- 
holz im Verhältniss zur Pulvertonne. Unter diese kleinen 
Zufälle und Streichhölzer rechne ich alle sogenannten 
„Zwecke", ebenso die noch viel sogenannteren „Lebens- 



 



— 299 — 

berufe": sie sind relativ beliebig, willkürlich, feist gleich- 
gültig- im Vcrhältniss zu dem ungeheuren Quantum Kraft, 
welches darnach drängt, wie gesagt, irgendwie aufgebraucht 
zu werden. Man sieht es gemeinhin anders an: man ist 
gewohnt, gerade in dem Ziele (Zwecke, Berufe u. s. w.) die 
treibende Kraft zu sehn, gemäss einem uralten Irr- 
thume, — aber er ist nur die dirigirende Kraft, man 
hat dabei den Steuermann und den Dampf verwechselt 
Und noch nicht einmal immer den Steuermann, die diri- 
girende Kraft ... Ist das „Ziel", der „Zweck" nicht oft 
genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nachträg- 
liche Selbstverblendung der Eitelkeit, die es nicht Wort 
haben will, dass das Schiff der Strömung folgt, in die 
es zufällig gerathen ist? Dass es dorthin „will", weil 
es dorthin — muss? Dass es wohl eine Richtung hat, 
aber ganz und gar — keinen Steuermann? — Man be- 
darf noch einer Kritik des Begriffs „Zweck". 

361. 

Vom Probleme des Schauspielers. — Das Pro- 
blem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; 
ich war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter 
jetzt noch), ob man nicht erst von da aus dem gefähr- 
lichen Begriff „Künstler" — einem mit unverzeihlicher 
Gutmüthigkeit bisher behandelten Begriff — beikommen 
wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an 
der Verstellung als Macht herausbrechend, den soge- 
genannten „Charakter" bei Seite schiebend, überfluthend, 
mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle 
und Maske, in einen Schein hinein; ein Ueberschuss 
von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht 
mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu be- 



 



— 300 — 



friedigen wissen: Alles das ist vielleicht nicht nur der 
Schauspieler an sich? . . Ein solcher Instinkt wird sich 
am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausge- 
bildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, 
in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, 
welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, 
auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder 
anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmäh- 
lich, den Mantel nach jedem Winde zu hängen und da- 
durch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einver- 
leibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstecken- 
Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt: bis zum 
Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht auf- 
gespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig 
wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und 
den Schauspieler, den „Künstler" erzeugt (den Possen- 
rcisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, 
auch den klassischen Bedienten, den Gil Blas: denn in sol- 
chen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers 
und oft genug sogar des „Genies"). Auch in höheren 
gesellschaftlichen Bedingungen erwächst unter ähnlichem 
Drucke eine ähnliche Art Mensch: nur wird dann meistens 
der schauspielerische Instinkt durch einen andren Instinkt 
gerade noch im Zaume gehalten, zum Beispiel bei dem 
„Diplomaten", — ich würde übrigens glauben, dass es 
einem guten Diplomaten jeder Zeit noch freistünde, auch 
einen guten Bühnen-Schauspieler abzugeben, gesetzt, dass 
es ihm eben „freistünde". Was aber die Juden betrifft, 
jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte 
man in ihnen, diesem Gedankengange nach, von vorn- 
herein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur 
Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche Schau- 



 



— 301 — 

spieler-Brutstätte; und in der That ist die Frage reichlich 
an der Zeit: welcher gute Schauspieler ist heute nicht 
— Jude? Auch der Jude als geborener Litterat, als der 
tatsächliche Beherrscher der europäischen Presse übt 
diese seine Macht auf Grund seiner schauspielerischen 
Fähigkeit aus: denn der Litterat ist wesentlich Schau- 
spieler, — er spielt nämlich den „Sachkundigen", den 
„Fachmann". — Endlich die Frauen: man denke Über 
die ganze Geschichte der Frauen nach, — müssen sie 
nicht zu allererst und -oberst Schauspielerinnen sein? 
Man höre die Aerzte, welche Frauenzimmer hypnotisirt 
haben; zuletzt, man liebe sie, — man lasse sich von ihnen 
„hypnotisiren"! Was kommt immer dabei heraus ? Dass 
sie „sich geben", selbst noch, wenn sie — sich geben .... 
Das Weib ist so artistisch . . . 

362. 

Unser Glaube an eine Vermännlichung Eu- 
ropa' s. — Napoleon verdankt man's (und ganz und gar 
nicht der französischen Revolution, welche auf „Brüder- 
lichkeit" von Volk zu Volk und allgemeinen blumichten 
Herzens-Austausch ausgewesen ist), dass sich jetzt ein 
paar kriegerische Jahrhunderte auf einander folgen dürfen, 
die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben, kurz 
dass wir in's klassische Zeitalter des Kriegs ge- 
treten sind, des gelehrten und zugleich volkstümlichen 
Kriegs im grössten Maassstabe (der Mittel, der Be- 
gabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden Jahr- 
tausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und 
Ehrfurcht zurückblicken werden: — denn die nationale 
Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, 
ist nur der Gegen-choc gegen Napoleon und wäre ohne 



 



— 302 - 

Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man einmal 
es zurechnen dürfen, dass der Mann in Europa wieder 
Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist; 
vielleicht sogar über „das Weib", das durch das Christen- 
thum und den schwärmerischen Geist des achtzehnten 
Jahrhunderts, noch mehr durch die „modernen Ideen", 
verhätschelt worden ist. Napoleon, der in den modernen 
Ideen und geradewegs in der Civilisation Etwas wie eine 
persönliche Feindin sah, hat mit dieser Feindschaft sich 
als einer der grössten Fortsetzer der Renaissance bewährt: 
er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das entscheidende 
vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht. Und 
wer weiss, ob nicht dies Stück antiken Wesens auch 
endlich wieder über die nationale Bewegung Herr werden 
wird und sich im bejahenden Sinne zum Erben und 
Fortsetzer Napoleon's machen muss: — der das Eine 
Europa wollte, wie man weiss, und dies als Herrin 
der Erde. — 

363. 

Wie jedes Geschlecht über die Liebe sein 
Vorurtheil hat. — Bei allem Zugeständnisse, welches 
ich dem monogamischen Vorurtheile zu machen Willens 
bin, werde ich doch niemals zulassen, dass man bei Mann 
und Weib von gleichen Rechten in der Liebe rede: 
diese giebt es nicht. Das macht, Mann und Weib ver- 
stehen unter Liebe Jeder etwas Anderes, — und es ge- 
hört mit unter die Bedingungen der Liebe bei beiden 
Geschlechtern, dass das eine Geschlecht beim andren 
Geschlechte nicht das gleiche Gefühl, den gleichen Be- 
griff „Liebe" voraussetzt. Was das Weib unter Liebe 
versteht, ist klar genug: vollkommene Hingabe (nicht nur 
Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, 



 



— 303 - 

jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor 
dem Gedanken einer verklausulirten, an Bedingungen ge- 
knüpften Hingabe. In dieser Abwesenheit von Beding- 
ungen ist eben seine Liebe ein Glaube: das Weib hat 
keinen anderen. — Der Mann, wenn er ein Weib liebt, 
will von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine 
Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung 
der weiblichen Liebe; gesetzt aber, dass es auch Männer 
geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach voll- 
kommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so sind das 
eben — keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein 
Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie 
ein Weib, wird damit ein vollkommeneres Weib . . . 
Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten Ver- 
zichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraus- 
setzung, dass auf der andren Seite nicht ein gleiches 
Pathos, ein gleiches Verzichtleisten -Wollen besteht: denn 
wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so 
entstünde daraus — nun, ich weiss nicht was, vielleicht 
ein leerer Raum? — Das Weib will genommen, ange- 
nommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff 
„Besitz", „besessen"; folglich will es Einen, der nimmt, 
der sich nicht selbst giebt und weggiebt, der umgekehrt 
vielmehr gerade reicher an „sich" gemacht werden soll 
— durch den Zuwachs an Kraft, Glück, Glaube, als 
welchen ihm das Weib sich selbst giebt. Das Weib 
giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu — ich denke, 
über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine so- 
cialen Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen 
zur Gerechtigkeit hinwegkommen: so wünschenswerth es 
sein mag, dass man das Harte, Schreckliche, Räthsel- 
hafte, Unmoralische dieses Antagonismus sich nicht 



 



— 304 — 

beständig vor Augen stellt. Denn die Liebe, ganz, gross, 
voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle Ewigkeit 
etwas „Unmoralisches". — Die Treue ist demgemass in 
die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt aus deren 
Definition; bei dem Manne kann sie leicht im Gefolge 
seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit oder als Idio- 
synkrasie des Geschmacks und sogenannte Wahlver- 
wandtschaft, aber sie gehört nicht in's Wesen seiner 
Liebe, — und zwar so wenig, dass man beinahe mit 
einigem Recht von einem natürlichen Widerspiel zwischen 
Liebe und Treue beim Mann reden dürfte: welche Liebe 
eben ein Haben -Wollen ist und nicht ein Verzichtleisten 
und Weggeben; das Haben -Wollen geht aber jedes Mal 
mit dem Haben zu Ende . . . Thatsächlich ist es der 
feinere und argwöhnischere Besitzdurst des Mannes, der 
dies „Haben" sich selten und spät eingesteht, was seine 
Liebe fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, 
dass sie noch nach der Hingebung wächst, — er giebt 
nicht leicht zu, dass ein Weib für ihn Nichts mehr „hin- 
zugeben" hätte. — 

364. 

Der Einsiedler redet. — Die Kunst, mit Menschen 
umzugehn, beruht wesentlich auf der Geschicklichkeit 
(die eine lange Uebung voraussetzt), eine Mahlzeit an- 
zunehmen, einzunehmen, zu deren Küche man kein Ver- 
trauen hat. Gesetzt, dass man mit einem Wolfshunger 
zu Tisch kommt, geht Alles leicht („die schlechteste Ge- 
sellschaft lässt sich fühlen — ", wie Mephistopheles sagt); 
aber man hat ihn nicht, diesen Wolfshunger, wenn man 
ihn braucht! Ah, wie schwer sind die Mitmenschen zu 
verdauen! Erstes Princip: wie bei einem Unglücke seinen 



 



— 305 — 

Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei be- 
wundern, seinen Widerwillen zwischen die Zähne nehmen, 
seinen Ekel hinunter stopfen. Zweites Princip: seinen 
Mitmenschen „verbessern", zum Beispiel durch ein Lob, 
so dass er sein Glück über sich selbst auszuschwitzen 
beginnt; oder einen Zipfel von seinen guten oder „inter- 
essanten" Eigenschaften fassen und daran ziehn, bis man 
die ganze Tugend heraus hat und den Mitmenschen in 
deren Falten unterstecken kann. Drittes Princip: Selbst- 
hypnotisirung. Sein Verkehrs-Objekt wie einen gläsernen 
Knopf fixiren, bis man aufhört, Lust und Unlust dabei 
zu empfinden, und unbemerkt einschläft, starr wird, Hal- 
tung bekommt : ein Hausmittel aus der Ehe und Freund- 
schaft, reichlich erprobt, als unentbehrlich gepriesen, aber 
wissenschaftlich noch nicht formulirt. Sein populärer 
Name ist — Geduld — 

305- 

Der Einsiedler spricht noch einmal. — Auch 
wir gohn mit „Menschen" um, auch wir ziehn bescheiden 
das Kleid an, in dem (als das) man uns kennt, achtet, 
sucht, und begeben uns damit in Gesellschaft, das heisst 
unter Verkleidete, die es nicht heissen wollen; auch wir 
machen es wie alle klugen Masken und setzen jeder Neu- 
gierde, die nicht unser „Kleid" betrifft, auf eine höfliche 
Weise den Stuhl vor die Thüre. Es giebt aber auch 
andre Arten und Kunststücke, um unter Menschen, mit 
Menschen „umzugehn": zum Beispiel als Gespenst, — was 
sehr rathsam ist, wenn man sie bald los sein und furchten 
machen will. Probe: man greift nach uns und bekommt 
uns nicht zu fassen. Das erschreckt Oder: wir kommen 
durch eine geschlossne Thür. Oder: wenn alle Lichter 



 



— 306 — 

ausgelöscht sind. Oder: nachdem wir bereits gestorben 
sind. Letzteres ist das Kunststück der posthumen 
Menschen par excellence. („Was denkt ihr auch?" sagte 
ein Solcher einmal ungeduldig, „würden wir diese Fremde, 
Kälte, Grabesstille um uns auszuhalten Lust haben, diese 
ganze unterirdische verborgne stumme unentdeckte Ein- 
samkeit, die bei uns Leben heisst und ebensogut Tod 
heissen könnte, wenn wir nicht wüssten, was aus uns 
wird, — und dass wir nach dem Tode erst zu unserm 
Leben kommen und lebendig werden, ah! sehr lebendig! 
wir posthumen Menschen!" — ) 

366. 

Angesichts eines gelehrten Buches. — Wir 
gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf 
den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen — 
unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, 
springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen 
Bergen oder dicht am Meere, da, wo selbst die Wege 
nachdenklich werden. Unsre ersten Werthfragen, in Be- 
zug auf Buch, Mensch und Musik, lauten: „kann er 
gehen? mehr noch, kann er tanzen? . . . Wir lesen selten, 
wir lesen darum nicht schlechter — oh wie rasch er- 
rathen wir's, wie Einer auf seine Gedanken gekommen 
ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrück- 
tem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt: oh wie 
rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig! Das ge- 
klemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, 
ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge 
verräth. — Das waren meine Gefühle, als ich eben ein 
rechtschaffnes gelehrtes Buch zuschlug, dankbar, sehr 
dankbar, aber auch erleichtert . . . An dem Buche eines 



 



— 307 — 

Gelehrten ist fast immer auch etwas Drückendes, Ge- 
drücktes: der „Specialist" kommt irgendwo zum Vor- 
schein, sein Eifer, sein Ernst, sein Ingrimm, seine Ueber- 
schätzung des Winkels, in dem er sitzt und spinnt, sein 
Buckel, — jeder Specialist hat seinen Buckel. Ein Ge- 
lehrten-Buch spiegelt immer auch eine krummgezogene 
Seele: jedes Handwerk zieht krumm. Man sehe seine 
Freunde wieder, mit denen man jung war, nachdem sie 
Besitz von ihrer Wissenschaft ergriffen haben: ach, wie 
auch immer das Umgekehrte geschehn ist! Ach, wie 
sie selbst auf immer nunmehr von ihr besetzt und be- 
sessen sind! In ihre Ecke eingewachsen, verdrückt bis 
zur Unkenntlichkeit, unfrei, um ihr Gleichgewicht gebracht, 
abgemagert und eckig überall, nur an Einer Stelle aus- 
bündig rund, — man ist bewegt und schweigt, wenn 
man sie so wiederfindet. Jedes Handwerk, gesetzt selbst, 
dass es einen goldenen Boden hat, hat über sich auch 
eine bleierne Decke, die auf die Seele drückt und drückt, 
bis sie wunderlich und krumm gedrückt ist. Daran ist 
Nichts zu ändern. Man glaube ja nicht, dass es mög- 
lich sei, um diese Verunstaltung durch irgend welche 
Künste der Erziehung herumzukommen. Jede Art 
Meisterschaft zahlt sich theuer auf Erden, wo viel- 
leicht Alles sich zu theuer zahlt; man ist Mann seines 
Fachs um den Preis, auch das Opfer seines Fachs zu 
sein. Aber ihr wollt es anders haben — „billiger", vor 
Allem bequemer — nicht wahr, meine Herren Zeit- 
genossen? Nun wohlan! Aber da bekommt ihr sofort 
auch etwas Anderes, nämlich statt des Handwerkers 
und Meisters den Litteraten, den gewandten „vielgewen- 
deten" Litteraten, dem freilich der Buckel fehlt — jenen 
abgerechnet, den er vor euch macht, als der Ladendiener 



 



— 308 — 



des Geistes und „Träger 4 ' der Bildung — , den Litteraten, 
der eigentlich Nichts ist, aber fast Alles „repräsentirt", 
der den Sachkenner spielt und „vertritt", der es auch in 
aller Bescheidenheit auf sich nimmt, sich an dessen Stelle 
bezahlt, geehrt, gefeiert zu machen. — Nein, meine ge- 
lehrten Freunde! Ich segne euch auch noch um eures 
Buckels willen! Und dafür, dass ihr gleich mir die 
Litteraten und Bildungs-Schmarotzer verachtet! Und 
dass ihr nicht mit dem Geiste Handel zu treiben wisst! 
Und lauter Meinungen habt, die nicht in Geldeswerth 
auszudrücken sind! Und dass ihr Nichts vertretet, was 
ihr nicht seid! Dass euer einziger Wille ist, Meister 
eures Handwerks zu werden, in Ehrfurcht vor jeder Art 
Meisterschaft und Tüchtigkeit und mit rücksichtslosester 
Ablehnung alles Scheinbaren, Halbächten, Aufgeputzten, 
Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen in 
litteris et artibus — alles dessen, was in Hinsicht auf 
unbedingte Probität von Zucht und Vorschulung sich 
nicht vor euch ausweisen kann! (Selbst Genie hilft über 
einen solchen Mangel nicht hinweg, so sehr es auch 
über ihn hinwegzutäuschen versteht: das begreift man, 
wenn man einmal unsern begabtesten Malern und Musikern 
aus der Nähe zugesehn hat, — als welche Alle, fast aus- 
nahmslos, sich durch eine listige Erfindsamkeit von Ma- 
nieren, von Nothbehelfen, selbst von Principien künstlich 
und nachträglich den Anschein jener Probität, jener 
Solidität von Schulung und Cultur anzueignen wissen, frei- 
lich ohne damit sich selbst zu betrügen, ohne damit ihr 
eignes schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen. 
Denn, ihr wisst es doch? alle grossen modernen Künstler 
leiden am schlechten Gewissen . . .) 



 



— 309 — 

Wie man zuerst bei Kunstwerken zu unter- 
scheiden hat. — Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt, 
componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört ent- 
weder zur monologischen Kunst oder zur Kunst vor 
Zeugen. Unter letztere ist auch noch jene scheinbare 
Monolog-Kunst einzurechnen, welche den Glauben an 
Gott in sich schliesst, die ganze Lyrik des Gebets: denn 
für einen Frommen giebt es noch keine Einsamkeit, — 
diese Erfindung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. 
Ich kenne keinen tieferen Unterschied der gesammten 
Optik eines Künstlers als diesen: ob er vom Auge des 
Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach 
„sich" — ) hinblickt oder aber „die Welt vergessen hat": 
wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, 
— sie ruht auf dem Vergessen, sie ist die Musik dos 
Vergessens. 

368. 

Der Cyniker redet. — Meine Einwände gegen die 
Musik Wagner's sind physiologische Einwände: wozu 
dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden? 
Meine „Thatsache" ist, dass ich nicht mehr leicht athme, 
wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein 
Fuss gegen sie böse wird und revoltirt — er hat das 
Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch, er verlangt von der 
Musik vorerst die Entzückungen, welche in gutem Gehen, 
Schreiten, Springen, Tanzen liegen — . Protestirt aber nicht 
auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? mein Ein- 
geweide? Werde ich nicht unvermerkt heiser dabei? — 
Und so frage ich mich: was will eigentlich mein ganzer 
Leib von der Musik überhaupt? Ich glaube, seine Er- 
leichterung: wie als ob alle animalischen Funktionen 



 



— 310 — 



durch leichte kühne ausgelassne selbstgewisse Rhythmen 
beschleunigt werden sollten; wie als ob das eherne, das 
bleierne Leben durch goldene gute zärtliche Harmonien 
vergoldet werden sollte. Meine Schwermuth will in den 
Verstecken und Abgründen der Vollkommenheit aus- 
ruhn: dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama 
an! Was die Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an 
denen das „Volk" seine Genugthuung hat! Was der ganze 
Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers! . . . Man erräth, 
ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, — aber Wagner 
war umgekehrt wesentlich Theatermensch und Schau- 
spieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, 
auch noch als Musiker! . . Und, beiläufig gesagt: wenn 
es Wagner's Theorie gewesen ist „das Drama ist der 
Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel", — seine 
Praxis dagegen war, von Anfang bis zu Ende, „die 
Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist 
immer nur ihr Mittel". Die Musik als Mittel zur Ver- 
deutlichung, Verstärkung, Verinnerlich ung der dramatischen 
Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wag- 
nerische Drama nur eine Gelegenheit zu vielen drama- 
tischen Attitüden! Er hatte, neben allen anderen In- 
stinkten, die kommandirenden Instinkte eines grossen 
Schauspielers, in Allem und Jedem: und, wie gesagt, 
auch als Musiker. — Dies machte ich einstmals einem 
rechtschaffenen Wagnerianer klar, mit einiger Mühe; und 
ich hatte Gründe, noch hinzuzufügen „seien Sie doch ein 
wenig ehrlicher gegen sich selbst: wir sind ja nicht im 
Theater! Im Theater ist man nur als Masse ehrlich; als 
Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt sich 
selbst zu Hause, wenn man in's Theater geht, man ver- 
zichtet auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf 



 



— 311 — 

seinen Geschmack, selbst auf seine Tapferkeit, wie man 
sie zwischen den eignen vier Wänden gegen Gott und 
Mensch hat und übt. In das Theater bringt Niemand 
die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler 
nicht, der für das Theater arbeitet: da ist man Volk, 
Publikum, Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Demo- 
krat, Nächster, Mitmensch, da unterliegt noch das per- 
sönlichste Gewissen dem nivellirenden Zauber der „grössten 
Zahl", da wirkt die Dummheit als Lüsternheit und Con- 
tagion, da regiert der „Nachbar", da wird man Nach- 
bar . . (Ich vergass zu erzählen, was mir mein auf- 
geklärter Wagnerianer auf die physiologischen Einwände 
entgegnete: „Sie sind also eigentlich nur nicht gesund 
genug für unsere Musik?" — ) 

369. 

Unser Nebeneinander. — Müssen wir es uns nicht 
eingestehn, wir Künstler, dass es eine unheimliche Ver- 
schiedenheit in uns giebt, dass unser Geschmack und 
andrerseits unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche 
Weise für sich stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachs- 
thum für sich haben, — ich will sagen ganz verschiedne 
Grade und tempi von Alt, Jung, Reif, Mürbe, Faul? So 
dass zum Beispiel ein Musiker zeitlebens Dinge schaffen 
könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr, Zu- 
hörer-Herz schätzt, schmeckt, vorzieht, widersprechen: 
— er brauchte noch nicht einmal um diesen Widerspruch 
zu wissen ! Man kann, wie eine fast peinlich-regelmässige 
Erfahrung zeigt, leicht mit seinem Geschmack über den 
Geschmack seiner Kraft hinauswachsen, selbst ohne dass 
letztere dadurch gelähmt und am Hervorbringen gehindert 
würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes geschehn, 



 



— 312 — 

— und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit 
der Künstler lenken möchte. Ein Beständig-Schaffender, 
eine „Mutter" von Mensch, im grossen Sinne des Wortes, 
ein Solcher, der von Nichts als von Schwangerschaften 
und Kindsbetten seines Geistes mehr weiss und hört, 
der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, 
zu vergleichen, der auch nicht mehr Willens ist, seinen Ge- 
schmack noch zu üben, und ihn einfach vergisst, nämlich 
stehn, liegen oder fallen lässt, — vielleicht bringt ein 
Solcher endlich Werke hervor, denen er mit seinem 
Urtheile längst nicht mehr gewachsen ist: so dass 
er über sie und sich Dummheiten sagt, — sagt und denkt 
Dies scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das 
normale Verhältniss, — Niemand kennt ein Kind schlechter 
als seine Eltern — und es gilt sogar, um ein ungeheueres 
Beispiel zu nehmen, in Bezug auf die ganze griechische 
Dichter- und Künstler -Welt: sie hat niemals „gewusst", 
was sie gethan hat . . . 

37o. 

Was ist Romantik? — Man erinnert sich viel- 
leicht, zum Mindesten unter meinen Freunden, dass ich 
Anfangs mit einigen dicken Irrthümern und Ueber- 
schätzungen und jedenfalls als Hoffender auf diese mo- 
derne Welt losgegangen bin. Ich verstand — wer weiss, 
auf welche persönlichen Erfahrungen hin? — den philo- 
sophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, 
wie als ob er das Symptom von höherer Kraft des Ge- 
dankens, von verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer 
Fülle des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahr- 
hundert, dem Zeitalter Hume's, Kant's, Condillac's und der 
Sensualisten, zu eigen gewesen sind: so dass mir die 



 



— 313 — 



tragische Erkenntniss wie der eigentliche Luxus unsrer 
Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefähr- 
lichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund 
ihres Ueberreichthums, als ihr erlaubter Luxus. Des- 
gleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum 
Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen 
Seele: in ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit 
dem eine von Alters her aufgestaute Urkraft sich end- 
lich Luft macht — gleichgültig dagegen, ob Alles, was 
sonst Cultur heisst, dabei in 's Zittern geräth. Man sieht, 
ich verkannte damals, sowohl am philosophischen Pessi- 
mismus, wie an der deutschen Musik, das was ihren 
eigentlichen Charakter ausmacht — ihre Romantik. 
Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf 
als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, 
kämpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer 
Leiden und Leidende voraus. Aber es giebt zweierlei 
Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens 
Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und 
ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, 
— und sodann die an der Verarmung des Lebens 
Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von 
sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber 
den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. 
Dem Doppel-Bedürfnisse der Letzteren entspricht alle 
Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach 
(und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wag- 
ner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Roman- 
tiker zu nennen, welche damals von mir missverstanden 
wurden — übrigens nicht zu ihrem Nachtheile, wie man 
mir in aller Billigkeit zugestehn darf. Der Reichste an 
Lebcnsfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich 



 



— 314 — 



nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Frag- 
würdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That 
und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; 
bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche 
gleichsam erlaubt, in Folge eines Ueberschusses von 
zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder 
Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im Stande 
ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am 
meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben, im 
Denken und im Handeln, womöglich einen Gott, der 
ganz eigentlich ein Gott für Kranke, ein „Heiland" wäre; 
ebenso auch die Logik, die begriffliche Verständlichkeit 
des Daseins — denn die Logik beruhigt, giebt Vertrauen 
— , kurz eine gewisse warme furchtabwehrende Enge und 
EinschJiessung in optimistische Horizonte. Dergestalt 
lernte ich allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz 
eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den „Christen", 
der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich 
jenem, wesentlich Romantiker ist, — und mein Blick 
schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und ver- 
fänglichste Form des Rückschlusses, in der die meisten 
Fehler gemacht werden — des Rückschlusses vom Werk 
auf den Urheber, von der That auf den Thäter, vom 
Ideal auf Den, der es nöthig hat, von jeder Denk- und 
Werthungsweise auf das dahinter kommandirende Be- 
dürfniss. — In Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe be- 
diene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung: ich 
frage, in jedem einzelnen Falle, „ist hier der Hunger oder 
der Ueberfluss schöpferisch geworden?" Von vornherein 
möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu em- 
pfehlen scheinen — sie ist bei weitem augenscheinlicher 
— nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen 



 



— 315 — 



nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache 
des Schaffens ist oder aber das Verlangen nach Zer- 
störung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach 
Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen 
sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deut- 
bar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, 
wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen 
nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck 
der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein 
terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort „dionysisch"), 
aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Ent- 
bohrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, 
zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Be- 
stehn, alles Sein selbst empört und aufreizt — man sehe 
sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten 
aus der Nähe an. Der Wille zum Verewigen bedarf 
gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann ein- 
mal aus Dankbarkeit und Liebe kommen: — eine Kunst 
dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, 
dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit 
Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen 
Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er 
kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwer- 
leidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das 
Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idio- 
synkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz 
und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen 
gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, 
das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. 
Letzteres Ist der romantische Pessimismus in seiner 
ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer'sche 
Willens-Philosophie, sei es als Wagner'sche Musik: — der 



 



316 — 



romantische Pessimismus, das letzte grosse Ereigniss im 
Schicksal unsrer Cultur. (Dass es noch einen ganz an- 
deren Pessimismus geben könne, einen klassischen — 
diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich 
von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass 
meinen Ohren das Wort „klassisch" widersteht, es ist bei 
weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich ge- 
worden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft — 
denn er kommt! ich sehe ihn kommen! — den dio- 
nysischen Pessimismus.) 

37». 

Wir Unverständlichen. — Haben wir uns je dar- 
über beklagt, missverstanden, verkannt, verwechselt, ver- 
leumdet, verhört und überhört zu werden? Eben das 
ist unser Loos — oh für lange noch! sagen wir, um be- 
scheiden zu sein, bis 1901 — , es ist auch unsre Aus- 
zeichnung; wir würden uns selbst nicht genug in Ehren 
halten, wenn wir's anders wünschten. Man verwechselt 
uns — das macht, wir selbst wachsen, wir wechseln fort- 
während, wir stossen alte Rinden ab, wir häuten uns 
mit jedem Frühjahre noch, wir werden immer jünger, 
zukünftiger, höher, stärker, wir treiben unsre Wurzeln 
immer mächtiger in die Tiefe — in's Böse — , während 
wir zugleich den Himmel immer liebevoller, immer breiter 
umarmen und sein Licht immer durstiger mit allen unsren 
Zweigen und Blättern in uns hineinsaugen. Wir wachsen 
wie Bäume — das ist schwer zu verstehn, wie alles 
Leben! — nicht an Einer Stelle, sondern überall, nicht 
in Einer Richtung, sondern ebenso hinauf, hinaus wie 
hinein und hinunter, — unsre Kraft treibt zugleich in 
Stamm, Aesten und Wurzeln, es steht uns gar nicht 



 



— 317 — 

mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas 
Einzelnes noch zu sein . . . So ist es unser Loos, wie 
gesagt; wir wachsen in die Höhe; und gesetzt, es wäre 
selbst unser Vcrhängniss — denn wir wohnen den 
Blitzen immer näher! — wohlan, wir halten es darum 
nicht weniger in Ehren, es bleibt Das, was wir nicht 
theilen, nicht mittheilen wollen, das Verhängniss der 
Höhe, unser Verhängniss . . . 

372. 

Warum wir keine Idealisten sind. — Ehemals 
hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben 
wir — diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir 
sind heute allesammt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und 
Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie nach, 
aber der Praxis, der Praktik . . . Jene hingegen meinten, 
durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der 
„Ideen", auf ein gefahrliches südlicheres Eiland weggelockt 
zu werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen- 
Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen wür- 
den. „Wachs in den Ohren" war damals beinahe Be- 
dingung des Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte 
das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leug- 
nete die Musik des Lebens, — es ist ein alter Philo- 
sophen-Aberglaube, dass alle Musik Sirenen-Musik ist. — 
Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt 
zu urtheilen (was an sich noch eben so falsch sein könnte): 
nämlich dass die Ideen schlimmere Verführerinnen seien 
als die Sinne, mit allem ihrem kalten anämischen An- 
scheine und nicht einmal trotz diesem Anscheine, — sie 
lebten immer vom „Blute" des Philosophen, sie zehrten 
immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, 
auch sein „Herz". Diese alten Philosophen waren herz- 



 



— 318 — 

los: Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. 
Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spi- 
noza's, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? 
Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das 
beständige Blässer-werden — , die immer idealischer 
ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hinter- 
grunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, 
welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt 
Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt? — ich 
meine Kategorien, Formeln, Worte (denn, man vergebe 
mir, das was von Spinoza übrig blieb, amor intellectu- 
alis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor, 
was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt? . . .) In 
summa: aller philosophische Idealismus war bisher Etwas 
wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato's, die 
Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die 
Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines 
klugen Sokratikers war. — Vielleicht sind wir Modernen 
nur nicht gesund genug, um Plato's Idealismus nöthig 
zu haben? Und wir furchten die Sinne nicht, weil 

373- 

„Wissenschaft" als Vorurtheil. — Es folgt aus 
den Gesetzen der Rangordnung, dass Gelehrte, insofern 
sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen 
grossen Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht 
bekommen dürfen : zudem reicht ihr Muth und ebenso ihr 
Blick nicht bis dahin, — vor Allem, ihr Bedürfhiss, das 
sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und 
Wünschen, es möchte no und so beschaffen sein, ihr 
Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur Ruhe, 
zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen 



 



— 319 — 



Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen 
macht und einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie 
der Wünschbarkeit ziehen heisst, jene endliche Versöhnung 
von „Egoismus und Altruismus", von der er fabelt, das 
macht Unsereinem beinahe Ekel: — eine Menschheit mit 
solchen Spencer'schen Perspektiven als letzten Perspek- 
tiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung werth! 
Aber schon dass Etwas als höchste Hoffnung von ihm 
empfunden werden muss, was Anderen bloss als wider- 
liche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, 
welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht hätte . . . 
Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt 
so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, 
dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen 
Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr Äquivalent 
und Maass haben soll, an eine „Welt der Wahrheit", der 
man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenver- 
nunft letztgültig beizukommen vermöchte — wie? wollen 
wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechen- 
knechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker 
herabwürdigen lassen? Man soll es vor Allem nicht 
seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen: das 
fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Ge- 
schmack der Ehrfurcht vor Allem, was über euren Hori- 
zont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte 
sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaft- 
lich in eurem Sinne ( — ihr meint eigentlich mecha- 
nistisch?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, 
eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und 
Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit 
und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, 
kein Idiotismus ist Wäre es umgekehrt nicht recht 



 



— 320 — 



wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und 
Aeusserlichste vom Dasein — sein Scheinbarstes, seine 
Haut und Versinnlichung — am Ersten fassen Hesse? 
vielleicht sogar allein fassen Hesse? Eine „wissenschaft- 
Hche" Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte 
folgHch immer noch eine der dümmsten, das heisst sinn- 
ärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein: dies 
den Herrn Mechanikern in's Ohr und Gewissen gesagt, 
die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus 
vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und 
letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke 
alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell 
mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt! Ge- 
setzt, man schätzte den Werth einer Musik darnach ab, 
wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht 
werden könne — wie absurd wäre eine solche „wissen- 
schaftliche" Abschätzung der Musik! Was hätte man 
von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu 
Nichts von dem, was eigentlich an ihr „Musik" ist! . . . 

374- 

Unser neues „Unendliches". — Wie weit der 
perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob 
es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein 
Dasein ohne Auslegung, ohne „Sinn" eben zum „Unsinn" 
wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein 
auslegendes Dasein ist — das kann, wie billig, auch 
durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Ana- 
lysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht 
werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis 
nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen 
Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können 



 



— 321 — 

nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose 
Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre 
Arten Intellekt und Perspektive geben könnte: zum 
Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder 
abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können 
(womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer 
Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber 
ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der 
lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu 
dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspek- 
tiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch ein- 
mal „unendlich" geworden: insofern wir die Möglichkeit 
nicht abweisen können, dass sie unendliche Inter- 
pretationen in sich schliesst. Noch einmal fasst uns 
der grosse Schauder — aber wer hätte wohl Lust, dieses 
Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise 
sofort wieder zu vergöttlichen? Und etwa das Un- 
bekannte fürderhin als „den Unbekannten" anzubeten? 
Ach, es sind zu viele ungöttliche Möglichkeiten der 
Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu 
viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, — 
unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir 
kennen . . . 

375- 

Warum wir Epikureer scheinen. — Wir sind 
vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte Ueber- 
zeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Trauer gegen 
die Bezauberungen und Gewissens-Ueberlistungen, welche 
in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und 
Nein liegen: wie erklärt sich das? Vielleicht, dass man 
darin zu einem guten Theil die Behutsamkeit des „ge- 
brannten Kindes", des enttäuschten Idealisten sehn darf, 

21 

 



— 322 — 

zu einem andern und bessern Theile aber auch die froh- 
lockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der 
durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist 
und nunmehr im Gegensatz der Ecke schwelgt und 
schwärmt, im Unbegrenzten, im „Freien an sich". Da- 
mit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntniss-Hang 
aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht 
leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein Wider- 
wille gegen die grossen Moral -Worte und -Gebärden, 
ein Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze 
ablehnt und sich seiner Uebung in Vorbehalten mit Stolz 
bewusst ist Denn Das macht unsern Stolz aus, dieses 
leichte Zügel-StrafFziehn bei unsrem vorwärts stürmenden 
Drange nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des 
Reiters auf seinen wildesten Ritten: nach wie vor näm- 
lich haben wir tolle feurige Thiere unter uns, und wenn 
wir zögern, so Ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die 
uns zögern macht . . . 

376. 

Unsre langsamen Zeiten. — So empfinden alle 
Künstler und Menschen der „Werke", die mütterliche Art 
Mensch: immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres 
Lebens — den ein Werk jedes Mal abschneidet — , schon 
am Ziele selbst zu sein, immer würden sie den Tod ge- 
duldig entgegen nehmen, mit dem Gefühl: „dazu sind 
wir reif." Dies ist nicht der Ausdruck der Ermüdung, 
— vielmehr der einer gewissen herbstlichen Sonnigkeit 
und Milde, welche jedes Mal das Werk selbst, das Reif- 
gewordensein eines Werks, bei seinem Urheber hinter- 
lässt. Da verlangsamt sich das tempo des Lebens und 
wird dick und honigflüssig — bis zu langen Fermaten, 
bis zum Glauben an die lange Fermate . . . 



 



- 323 



377- 

Wir Heimatlosen. — Es fehlt unter den Euro- 
päern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben, 
sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimat- 
lose zu nennen, ihnen gerade sei meine geheime Weis- 
heit und gaya scienza ausdrücklich an's Herz gelegt! 
Denn ihr Loos ist hart, ihre Hoffnung ungewiss, es ist 
ein Kunststück, ihnen einen Trost zu erfinden — aber 
was hilft es! Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten 
wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind allen 
Idealen abgünstig, auf welche hin Einer sich sogar in 
dieser zerbrechlichen zerbrochnen Ucbergangszeit noch 
heimisch fühlen könnte; was aber deren „Realitäten" be- 
trifft, so glauben wir nicht daran, dass sie Dauer haben. 
Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn ge- 
worden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, 
sind Etwas, das Eis und andre allzudünne „Realitäten" 
aufbricht . . . Wir „conserviren" Nichts, wir wollen auch 
in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht 
„liberal", wir arbeiten nicht für den „Fortschritt", wir 
brauchen unser Ohr nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen 
des Marktes zu verstopfen — das, was sie singen, „gleiche 
Rechte", „freie Gesellschaft", „keine Herrn mehr und keine 
Knechte", das lockt uns nicht ! — wir halten es schlechter- 
dings nicht für wünschenswerth, dass das Reich der Ge- 
rechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde 
(weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten 
Vermittelmässigung und Chincscrei sein würde), wir freuen 
uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, 
das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, 
versöhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst 
unter die Eroberer, wir denken über die Notwendigkeit 



 



— 324 — 



neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei — 
denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus 
„Mensch" gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu 

— nicht wahr? mit Alle dem müssen wir schlecht in 
einem Zeitalter zu Hause sein, welches die Ehre in An- 
spruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste, recht- 
lichste Zeitalter zu heissen, das die Sonne bisher gesehen 
hat? Schlimm genug, dass wir gerade bei diesen schönen 
Worten um so hässlichere Hintergedanken haben! Dass 
wir darin nur den Ausdruck — auch die Maskerade — 
der tiefen Schwächung, der Ermüdung, des Alters, der 
absinkenden Kraft sehen! Was kann uns daran gelegen 
sein, mit was für Füttern ein Kranker seine Schwäche 
aufputzt! Mag er sie als seine Tugend zur Schau tragen 

— es unterliegt ja keinem Zweifel, dass die Schwäche 
mild, ach so mild, so rechtlich, so unoflfensiv, so „mensch- 
lich" macht! — Die „Religion des Mitleidcns", zu der 
man uns überreden möchte — oh wir kennen die hyste- 
rischen Männlein und Weiblein genug, welche heute ge- 
rade diese Religion zum Schleier und Aufputz nöthig 
haben! Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie 
zu erlauben wagen, von unsrer „Liebe zur Menschheit" 
zu reden — dazu Ist Unsereins nicht Schauspieler genug! 
Oder nicht Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. 
Man muss schon mit einem gallischen Uebermaass ero- 
tischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet sein, 
um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit 
mit seiner Brunst zu nähern . . . Der Menschheit! Gab 
es je noch ein schousslicheres altes Weib unter allen alten 
Weibern? ( — es müsste denn etwa „die Wahrheit" sein: 
eine Frage für Philosophen). Xein, wir lieben die Mensch- 
heit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht 



 



— 325 — 



„deutsch" genug, wie heute das Wort „deutsch" gang und 
gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das 
Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und 
Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich 
jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen 
abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu bos- 
haft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu „gereist": 
wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, ab- 
seits, „unzeitgemäss", in vergangnen oder kommenden Jahr- 
hunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, 
zu der wir uns verurtheilt wüssten als Augenzeugen 
einer Politik, die den deutschen Geist öde macht, in- 
dem sie ihn eitel macht, und kleine Politik ausserdem 
ist: — hat sie nicht nöthig, damit ihre eigne Schöpfung 
nicht sofort wieder auseinanderfällt, sie zwischen zwei 
Todhassc zu pflanzen? muss sie nicht die Verewigung 
der Kleinstaaterei Europa's wollen? . . . Wir Heimatlosen, 
wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und 
gemischt, als „moderne Menschen", und folglich wenig 
versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung 
und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutsch- 
land als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt 
und die bei dem Volke des „historischen Sinns" zwiefach 
falsch und unanständig anmuthet. Wir sind, mit Einem 
Worte — und es soll unser Ehrenwort sein! — gute 
Europäer, die Erben Europa's, die reichen, überhäuften, 
aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausen- 
den des europäischen Geistes: als solche auch dem Christen- 
thum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus 
ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von 
rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, 
die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vater- 



 



— 326 — 

land zum Opfer gebracht haben. Wir — thun desgleichen. 
Wofür doch? Für unsern Unglauben? Für jede Art Un- 
glauben? Nein, das wisst ihr besser, meine Freunde! 
Das verborgne Ja in euch ist stärker als alle Neins und 

* 

Viclleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und 
wenn ihr auf's Meer müsst, ihr Auswanderer, so zwingt 
dazu auch euch — ein Glaube!.. 

37». 

„Und werden wieder hell". — Wir Freigebigen 
und Reichen des Geistes, die wir gleich offnen Brunnen 
an der Strasse stehn und es Niemandem wehren mögen, 
dass er aus uns schöpft: wir wissen uns leider nicht zu 
wehren, wo wir es möchten, wir können durch Nichts 
verhindern, dass man uns trübt, finster macht, — dass 
die Zeit, in der wir leben, ihr „Zeitlichstes", dass deren 
schmutzige Vögel ihren Unrath, die Knaben ihren Krims- 
krams und erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr 
kleines und grosses Elend in uns werfen. Aber wir wer- 
den es machen, wie wir es immer gemacht haben: wir 
nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe 
— denn wir sind tief, wir vergessen nicht — und wer- 
den wieder hell . . . 

379- 

Zwischen rede des Narren. — Das ist kein Misan- 
throp, der dies Buch geschrieben hat: der Mensch en- 
hass bezahlt sich heute zu theuer. Um zu hassen, wie 
man ehemals den Menschen gehasst hat, timonisch, im 
Ganzen, ohne Abzug, aus vollem Herzen, aus der ganzen 
Liebe des Hasses — dazu müsste man auf's Verachten 
Verzicht leisten: — und wie viel feine Freude, wie viel 



 



- 327 - 

Geduld, wie viel Gütigkeit selbst verdanken wir gerade 
unsrem Verachten! Zudem sind wir damit die „Aus- 
erwählten Gottes": das feine Verachten ist unser Ge- 
schmack und Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend viel- 
leicht, wir Modernsten unter den Modernen! . . . Der 
Hass dagegen stellt gleich, stellt gegenüber, im Hass ist 
Ehre, endlich: im Hass ist Furcht, ein grosser guter 
Theil Furcht. Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Men- 
schen dieses Zeitalters, wir kennen unsern Vortheil gut 
genug, um gerade als die Geistigeren in Hinsicht auf 
diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man wird uns schwer- 
lich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht ein- 
mal unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das Zeit- 
alter liebt den Geist, es liebt uns und hat uns nöthig, 
selbst wenn wir es ihm zu verstehn geben müssten, dass 
wir in der Verachtung Künstler sind; dass uns jeder Um- 
gang mit Menschen einen leichten Schauder macht; dass 
wir mit aller unsrer Milde, Geduld, Menschenfreundlich- 
keit, Höflichkeit unsre Nase nicht überreden können, von 
ihrem Vorurtheile abzustchn, welches sie gegen die Nähe 
eines Menschen hat; dass wir die Natur lieben, je weniger 
menschlich es in ihr zugeht, und die Kunst, wenn sie 
die Flucht des Künstlers vor dem Menschen oder der 
Spott des Künstlers über den Menschen oder der Spott 
des Künstlers über sich selber ist . . . 

380. 

„Der Wanderer" redet. — Um unsrer euro- 
päischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu 
werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden, 
Moralitäten zu messen, dazu muss man es machen, wie 
es ein Wanderer macht, der wissen will, wie hoch die 



 



- 328 — 



Thürme einer Stadt sind: dazu vcrlässt er die Stadt 
„Gedanken über moralische Vorurtheile", falls sie nicht 
Vorurtheile über Vorurtheile sein sollen, setzen eine 
Stellung ausserhalb der Moral voraus, irgend ein Jen- 
seits von Gut und Bose, zu dem man steigen, klettern, 
fliegen muss, — und, im gegebenen Falle, jedenfalls ein 
Jenseits von unsrem Gut und Böse, eine Freiheit von 
allem „Europa", letzteres als eine Summe von komman- 
direnden Werthurtheilcn verstanden, welche uns in Fleisch 
und Blut übergegangen sind. Dass man gerade dort- 
hinaus, dorthinauf will, ist vielleicht eine kleine Tollheit, 
ein absonderliches unvernünftiges „du musst" — denn 
auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien des 
„unfreien Willens" — : die Frage ist, ob man wirklich 
dorthinauf kann. Dies mag an vielfachen Bedingungen 
hängen, in der Hauptsache ist es die Frage darnach, wie 
leicht oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer 
„spezifischen Schwere' 4 . Man muss sehr leicht sein, 
um seinen Willen zur Erkenntniss bis in eine solche 
Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben, 
um sich zum Ueberblick über Jahrtausende Augen zu 
schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen 
Augen! Man muss sich von Vielem losgebunden haben, 
was gerade uns Europäer von Heute drückt, hemmt, 
niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen 
Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst 
in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese 
Zeit in sich selbst zu „überwinden" — es ist die Probe 
seiner Kraft — und folglich nicht nur seine Zeit, son- 
dern auch seinen bisherigen Widerwillen und Wider- 
spruch gegen diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, 
seine Zeit-Ungemässheit, seine Romantik .. . 



 



— 329 — 
38i. 

Zur Frage der Verständlichkeit. — Man will 
nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, son- 
dern ebenso gewiss auch nicht verstanden werden. Es 
ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, 
wenn irgend Jemand es unverständlich findet: vielleicht 
gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, — er 
wollte nicht von „irgend Jemand" verstanden werden. 
Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn 
er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie 
wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen" seine Schran- 
ken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren 
Ursprung: sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, 
sie verbieten „den Eingang 4 ', das Verständniss, wie ge- 
sagt, — während sie Denen die Ohren aufmachen, die 
uns mit den Ohren verwandt sind. Und dass ich es unter 
uns sage und in meinem Falle, — ich will mich weder 
durch meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit 
meines Temperaments verhindern lassen, euch verständ- 
lich zu sein, meine Freunde: durch die Munterkeit nicht, 
wie sehr sie auch mich zwingt, einer Sache geschwind 
beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn 
ich halte es mit tiefen Problemen, wie mit einem kalten 
Bade — schnell hinein, schnell hinaus. Dass man da- 
mit nicht in die Tiefe, nicht tief genug hinunter 
komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der 
Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung. 
Oh! Die grosse Kälte macht geschwind! — Und neben- 
bei gefragt: bleibt wirklich eine Sache dadurch allein 
schon unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge 
berührt, angeblickt, angeblitzt wird? Muss man durchaus 
erst auf ihr fest sitzen? auf ihr wie auf einem Ei ge- 
brütet haben? Diu noctuque ineubando, wie Newton von 



i 



 



— 330 — 

sich selbst sagte? Zum Mindesten giebt es Wahrheiten 
von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man 
nicht anders habhaft wird, als plötzlich, — die man über- 
raschen oder lassen muss . . . Endlich hat meine Kürze 
noch einen andern Werth : innerhalb solcher Fragen, wie 
sie mich beschäftigen, muss ich Vieles kurz sagen, damit 
es noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als Im- 
moralist zu verhüten, dass man die Unschuld verdirbt, ich 
meine die Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, 
die Nichts vom Leben haben als ihre Unschuld; mehr 
noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben, zur 
Tugend ermuthigen. Ich wüsste Nichts auf Erden, was 
lustiger wäre als begeisterte alte Esel zu sehn und Jung- 
fern, welche durch die süssen Gefühle der Tugend erregt 
werden: und „das habe ich gesehn" — also sprach Za- 
rathustra. So viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht 
es mit meiner Unwissenheit, deren ich selbst vor mir 
selber kein Hehl habe. Es giebt Stunden, wo ich mich 
ihrer schäme; freilich ebenfalls Stunden, wo ich mich 
dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir Philosophen 
allesammt heute zum Wissen schlimm gestellt: die Wissen- 
schaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind nahe daran 
zu entdecken, dass sie zu wenig wissen. Aber schlimmer 
wäre es immer noch, wenn es anders stünde, — wenn 
wir zu viel wüssten; unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, 
uns nicht selber zu verwechseln. Wir sind etwas An- 
deres als Gelehrte: obwohl es nicht zu umgehn ist, dass 
wir auch, unter Anderem, gelehrt sind. Wir haben andre 
Bedürfhisse, ein andres Wachsthum, eine andre Verdau- 
ung: wir brauchen mehr, wir brauchen" auch weniger. 
Wie viel ein Geist zu seiner Ernährung nöthig hat, da- 
für giebt es keine Formel; ist aber sein Geschmack auf 



 



— 331 — 

Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen und 
Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen 
nur die Geschwindesten gewachsen sind, so lebt er lieber 
frei mit schmaler Kost, als unfrei und gestopft. Nicht 
Fett, sondern die grösste Geschmeidigkeit und Kraft ist 
das, was ein guter Tänzer von seiner Nahrung will, — 
und ich wüsste nicht, was der Geist eines Philosophen 
mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz 
nämlich ist sein Ideal, auch seine Kunst, zuletzt auch seine 
einzige Frömmigkeit, sein „Gottesdienst" . . . 

382. 

Die grosse Gesundheit. — Wir Neuen, Namen- 
losen, Schlechtverständlichcn, wir Frühgeburten einer 
noch unbewiesenen Zukunft — wir bedürfen zu einem 
neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer 
neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren 
verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher 
waren. Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen Um- 
fang der bisherigen Werthe und Wünschbarkciten erlebt 
und alle Küsten dieses idealischen „Mittelmeers" um- 
schifft zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten 
Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Ent- 
decker des Ideals zu Muthe ist, insgleichen einem Künstler, 
einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem 
Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem Gött- 
lich-Abseitigen alten Stils: der hat dazu zuallererst Eins 
nöthig, die grosse Gesundheit — eine solche, welche 
man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt 
und erwerben muss, weil man sie immer wieder preis- 
giebt, preisgeben muss! . . . Und nun, nachdem wir lange 
dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, 



 



— 332 - 

muthigcr vielleicht, als klug- ist, und oft genug schiff- 
brüchig und zu Schaden gekommen, aber, wie gesagt, 
gesünder als man es uns erlauben möchte, gefährlich- 
gesund, immer wieder gesund, — will es uns scheinen, 
als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land 
vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand abgesehn 
hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des 
Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, 
Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, dass unsre 
Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich 
gerathen sind — ach, dass wir nunmehr durch Nichts 
mehr zu ersättigen sind! Wie könnten wir uns, nach 
solchen Ausblicken und mit einem solchen Heisshungcr 
in Gewissen und Wissen, noch am gegenwärtigen 
Menschen genügen lassen? Schlimm genug: aber es 
ist unvermeidlich, dass wir seinen würdigsten Zielen und 
Hoffhungen nur mit einem übel aufrecht erhaltenen Ernste 
zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein 
andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versuche- 
risches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden über- 
reden möchten, weil wir Niemandem so leicht das Recht 
darauf zugestehn: das Ideal eines Geistes, der naiv, das 
heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtig- 
keit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberühr- 
bar, göttlich hiess; für den das Höchste, woran das Volk 
billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie 
Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Er- 
holung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten 
würde ; das Ideal eines menschlich - übermenschlichen 
Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmensch- 
lich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben 
den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feier- 



 



— 333 — 



lichkcit in Gebärde, Wort, Klang", Blick, Moral und 
Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hin- 
stellt — und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse 
Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst ge- 
setzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der 
Zeiger rückt, die Tragödie beginnt .. . 

3*3- 

Epilog. — Aber indem ich zum Schluss dieses 
düstere Fragezeichen langsam, langsam hinmale und eben 
noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten 
Lesers — oh was für vergessene und unbekannte Tugen- 
den! — in's Gedächtniss zu rufen, begegnet mir's, dass 
um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen 
laut wird: die Geister meines Buches selber fallen über 
mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur 
Ordnung. „Wir halten es nicht mehr aus — rufen sie 
mir zu — ; fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik 
Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner 
weicher Grund und Rasen, das Königreich des Tanzes? 
(Tab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein? Wer 
singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, 
so flügge, dass es die Grillen nicht verscheucht, — dass 
es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu 
tanzen? Und lieber noch einen einfältigen bäurischen 
Dudclsack als solche geheimnissvolle Laute, solche Unken- 
rufe, Grabesstimmen und Murmelthierpfiffe, mit denen Sie 
uns in Ihrer Wildniss bisher regalirt haben, mein Herr 
Einsiedler und Zukunftsmusikant! Nein! Nicht solche 
Töne! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und 
freudenvollere!" — Gefällt es <>uch so, meine ungeduldigen 
Freunde? Wohlan! Wor wäre euch nicht gern zu Willen? 



 



— 334 — 



Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch — sie 
mag ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb! dafür sind 
wir im Gebirge. Aber was ihr zu hören bekommt, ist 
wenigstens neu; und wenn ihr's nicht versteht, wenn ihr 
den Sänger missversteht, was liegt daran! Das ist nun 
einmal „des Sängers Fluch". Um so deutlicher könnt 
ihr seine Musik und Weise hören, um so besser auch 
nach seiner Pfeife — tanzen. Wollt ihr das? . . . 

+ * 



 



Anhang: 

Lieder des Prinzen Vogelfrei. 



 



An Goethe. 



Das Unvergängliche 

Ist nur dein Gleichniss! 

Gott der Verfängliche 

Ist Dichter-Erschleichniss . . . 

Welt-Rad, das rollende, 
Streift Ziel auf Ziel: 
Noth — nennt's der Grollende, 
Der Narr nennt's — Spiel . . . 

Welt-Spiel, das herrische, 
Mischt Sein und Schein: — 
Das Ewig-Närrische 
Mischt uns — hinein! . . . 

* * 
* 

Dichters Berufung. 

Als ich jüngst, mich zu erquicken, 
Unter dunklen Bäumen sass, 

4 

Hört' ich ticken, leise ticken, 
Zierlich, wie nach Takt und Maass. 
Böse wurd' ich, zog Gesichter, — 
Endlich aber gab ich nach, 
Bis ich gar, gleich einem Dichter, 
Selber mit im Tiktak sprach. 



Wie mir so im Verse-Machen 
Silb' um Silb' ihr Hopsa sprang, 
Musst' ich plötzlich lachen, lachen 
Eine Viertelstunde lang. 
Du ein Dichter? Du ein Dichter? 
Steht's mit deinem Kopf so schlecht? 

— ,Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter" 
Achselzuckt der Vogel Specht 

Wessen harr' ich hier im Busche? 

Wem doch laur' ich Räuber auf? 

Ist's ein Spruch? Ein Bild? Im Husche 

Sitzt mein Reim ihm hintendrauf. 

Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der 

Dichter sich's zum Vers zurecht. 

— Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter" 
Achsclzuckt der Vogel Specht 

Reime, mein' ich, sind wie Pfeile? 
Wie das zappelt, zittert, springt, 
Wenn der Pfeil in edle Theile 
Des Lacerten-Leibchcns dringt! 
Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter, 
Oder taumelt wie bezecht! 

— „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter" 
Achselzuckt der Vogel Specht. 

Schiefe Sprüchlein voller Eile, 

Trunkne Wörtlein, wie sich's drängt! 

Bis ihr Alle, Zeil' an Zeile, 

An der Tiktak-Kettc hängt. 

Und es giebt grausam Gelichter, 

Das dies — freut? Sind Dichter — schlecht? 



 



— 339 — 



— Ja, mein Herr, Sic sind ein Dichter" 
Achselzuckt der Vogel Specht. 

Höhnst du, Vogel? Willst du scherzen? 
Steht's mit meinem Kopf schon schlimm, 
Schlimmer stünd's mit meinem Herzen? 
Fürchte, fürchte meinen Grimm! — 
Doch der Dichter — Reime flicht er 
Selbst im Grimm noch schlecht und recht. 

— ,Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter" 
Achselzuckt der Vogel Specht. 

* * * 

Im Süden. 

So häng' ich denn auf krummem Aste 

Und schaukle meine Müdigkeit. 

Ein Vogel lud mich her zu Gaste, 

Ein Vogelnest ist's, drin ich raste. 

Wo bin ich doch? Ach, weit! Ach, weit! 

Das weisse Meer liegt eingeschlafen, 
Und purpurn steht ein Segel drauf. 
Fels, Feigenbäume, Thurm und Hafen, 
Idylle rings, Geblök von Schafen, — 
Unschuld des Südens, nimm mich auf! 

Nur Schritt für Schritt — das ist kein Leben, 
Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer, 
Ich hiess den Wind mich aufwärts heben, 
Ich lernte mit den Vögeln Schweben, — 
Nach Süden flog ich über's Meer. 

Vernunft! Verdriessliches Geschäfte! 
Das bringt uns allzubald an's Ziel! 



— 340 — 



Im Fliegen lernt' ich, was mich äffte, — 
Schon fühl' ich Muth und Blut und Säfte 
Zu neuem Leben, neuem Spiel . . . 

Einsam zu denken nenn' ich weise, 
Doch einsam singen — wäre dumm! 
So hört ein Lied zu eurem Preise 
Und setzt euch still um mich im Kreise, 
Ihr schlimmen Vögelchen, herum! 

So jung, so falsch, so umgetrieben 
Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben 
Und jedem schönen Zeitvertreib? 
Im Norden — ich gesteh's mit Zaudern — 
Liebt' ich ein Weibchen, alt zum Schaudern: 
„Die Wahrheit" hiess dies alte Weib . . . 

* 

Die fromme Beppa. 

So lang noch hübsch mein Leibchen, 

Lohnt's sich schon, fromm zu sein. 

Man weiss, Gott liebt die Weibchen, 

Die hübschen obendrein. 

Er wird's dem armen Mönchlein 

Gewisslich gern verzeih'n, 

Dass er, gleich manchem Mönchlein, 

So gern will bei mir sein. 

Kein grauer Kirchenvater! 
Nein, jung noch und oft roth, 
Oft trotz dem grausten Kater 
Voll Eifersucht und Noth. 



 



- 341 



Ich liebe nicht die Greise, 
Er liebt die Alten nicht: 
Wie wunderlich und weise 
Hat Gott dies eingericht! 

Die Kirche weiss zu leben, 
Sie prüft Herz und Gesicht 
Stets will sie mir vergeben, — 
Ja, wer vergiebt mir nicht! 
Man lispelt mit dem Mündchen, 
Man knixt und geht hinaus, 
Und mit dem neuen Sündchen 
Löscht man das alte aus. 

Gelobt sei Gott auf Erden, 

Der hübsche Mädchen liebt 

Und derlei Herzbeschwerden 

Sich selber gern vergiebt 

So lang noch hübsch mein Leibchen, 

Lohnt sich 's schon, fromm zu sein: 

Als altes Wackelweibchen 

Mag mich der Teufel frein! 



Der geheimnissvolle Nachen. 

Getsern Nachts, als Alles schlief, 
Kaum der Wind mit ungewissen 
Seufzern durch die Gassen lief, 
Gab mir Ruhe nicht das Kissen, 
Noch der Mohn, noch, was sonst tief 
Schlafen macht, — ein gut Gewissen. 



— 342 — 

Endlich schlug ich mir den Schlaf 
Aus dem Sinn und lief zum Strande, 
Mondhell war's und mild, — ich traf 
Mann und Kahn auf warmem Sande, 
Schläfrig beide, Hirt und Schaf: — 
Schläfrig stiess der Kahn vom Lande. 

Eine Stunde, leicht auch zwei, 
Oder war's ein Jahr? — da sanken 
Plötzlich mir Sinn und Gedanken 
In ein ew'ges Einerlei, 
Und ein Abgrund ohne Schranken 
That sich auf: — da war's vorbei! 

— Morgen kam: auf schwarzen Tiefen 
Steht ein Kahn und ruht und ruht . . . 
Was geschah? so riefs, so riefen 
Hundert bald: was gab es? Blut? — — 
Nichts geschah! Wir schliefen, schliefen 
Alle — ach, so gut! so gut! 

* * 

* 

Liebeserklärung 

(bei der aber der Dichter iu eine Grube fiel — ). 

Oh Wunder! Fliegt er noch? 
Er steigt empor, und seine Flügel ruhn? 

Was hebt und trägt ihn doch? 
Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun? 

Gleich Stern und Ewigkeit 
Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben flieht, 

Mitleidig selbst dem Neid — : 
Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht! 



 



— -M3 



Oh Vogel Albatross! 
Zur Höhe treibt's mit ew'gem Triebe mich. 

Ich dachte dein: da floss 
Mir Thrän' um Thräne, — ja, ich liebe dich! 

* * * 
Lied 

eines theokritischen Ziegenhirten. 

Da lieg' ich, krank im Gedärm, — 
Mich fressen die Wanzen. 
Und drüben noch Licht und Lärm! 
Ich hör's, sie tanzen . . . 

Sie wollte um diese Stund' 
Zu mir sich schleichen. 
Ich warte wie ein Hund, — 
Es kommt kein Zeichen. 

Das Kreuz, als sie's versprach? 
Wie konnte sie lügen? 

— Oder läuft sie Jedem nach, 
Wie meine Ziegen? 

Woher ihr seid'ner Rock? — 
Ah, meine Stolze? 
Es wohnt noch mancher Bock 
An diesem Holze? 

— Wie kraus und giftig macht 
Verliebtes Warten! 

So wächst bei schwüler Nacht 
Giftpilz im Garten. 



 



- 344 - 

Die Liebe zehrt an mir 
Gleich sieben Uebeln, — 
Nichts mag ich essen schier. 
Lebt wohl, ihr Zwiebeln! 

Der Mond gieng schon in's Meer, 
Müd sind alle Sterne, 
Grau kommt der Tag daher, — 
Ich stürbe gerne. 

* 

„Diesen ungewissen Seelen". 

Diesen ungewissen Seelen 

Bin ich grimmig gram. 

All ihr Ehren ist ein Quälen, 

All ihr Lob ist Selbstverdruss und Scham. 

Dass ich nicht an ihrem Stricke 
Ziehe durch die Zeit, 
Dafür grüsst mich ihrer Blicke 
Giftig-süsser hoffnungsloser Neid. 

Möchten sie mir herzhaft fluchen 
Und die Nase drehn! 
Dieser Augen hülflos Suchen 
Soll bei mir auf ewig irre gehn. 

* 

Narr in Verzweiflung. 

Ach! Was ich schrieb auf Tisch und Wand 

Mit Narrenherz und Narrenhand, 

Das sollte Tisch und Wand mir zieren? . . . 



 



— :ur> — 



Doch ihr sagt: „Narrenhände schmieren, — 
Und Tisch und Wand soll man purgieren, 
Bis auch die letzte Spur verschwand!" 

Erlaubt! Ich lege Hand mit an — , 
Ich lernte Schwamm und Besen führen, 
Als Kritiker, als Wassermann. 

Doch, wenn die Arbeit abgethan, 

Säh' gern ich euch, ihr Ueberweisen, 

Mit Weisheit Tisch und Wand besch 

Rimus remedium. 

Oder: Wie kranke Dichter sich trösten. 

Aus deinem Munde, 
Du speichelflüssige Hexe Zeit, 
Tropft langsam Stund' auf Stunde. 
Umsonst, dass all mein Ekel schreit: 
„Fluch, Fluch dem Schlünde 

Der Ewigkeit!" 

Welt — ist von Erz: 
Ein glühender Stier, — der hört kein Schrein. 
Mit fliegenden Dolchen schreibt der Schmerz 
Mir in's Gebein: 

„Welt hat kein Herz, 
Und Dummheit wär's, ihr gram drum sein!" 

Giess alle Mohne, 
Giess, Fieber! Gift mir in's Gehirn! 
Zu lang schon prüfst du mir Hand und Stirn. 
Was frägst du? Was? „Zu welchem — Lohne?" 

— Ha! Fluch der Dirn' 
Und ihrem Hohne! 



 



— 34(> — 



Nein! Komm zurück! 
Draussen ist's kalt, ich höre regnen — 
Ich sollte dir zärtlicher begegnen? 

— Nimm! Hier ist Gold: wie glänzt das Stück! — 
Dich heissen „Glück"? 

Dich, Fieber, segnen? — 

Die Thür springt auf! 
Der Regen sprüht nach meinem Bette! 
Wind löscht das Licht, — Unheil in Häuf! 

— Wer jetzt nicht hundert Reime hätte, 
Ich wette, wette, 

Der gienge drauf! 

* .„ * 

„Mein Glück!" 

Die Tauben von San Marco seh ich wieder: 
Still ist der Platz, Vormittag ruht darauf. 
In sanfter Kühle schick' ich müssig Lieder 
Gleich Taubenschwärmen in das Blau hinauf — 

Und locke sie zurück, 
Noch einen Reim zu hängen in's Gefieder 

— mein Glück! Mein Glück! 

Du stilles Himmels-Dach, blau-licht, von Seide, 
Wie schwebst du schirmend ob des bunten Bau's, 
Den ich — was sag ich? — liebe, fürchte, neide... 
Die Seele wahrlich tränk' ich gern ihm aus! 

Gäb' ich sie je zurück? — 
Nein, still davon, du Augen -Wunderweide! 

— mein Glück! Mein Glück! 



 



— 347 — 



Du strenger Thurm, mit welchem Löwendrange 
Stiegst du empor hier, siegreich, sonder Müh! 
Du überklingst den Platz mit tiefem Klange — : 
Französisch, wärst du sein accent aigu? 
Blieb ich gleich dir zurück, 

Ich wüsste, aus welch seidenweichem Zwange . . . 

— mein Glück! Mein Glück! 

Fort, fort, Musik! Lass erst die Schatten dunkeln 
Und wachsen bis zur braunen lauen Nacht! 
Zum Tone ist's zu früh am Tag, noch funkeln 
Die Gold-Zieraten nicht in Rosen-Pracht, 
Noch blieb viel Tag zurück, 

Viel Tag für Dichten, Schleichen, Einsam-Munkeln 

— mein Glück! Mein Glück! 

* 

Nach neuen Meeren. 

Dorthin — will ich; und ich traue 
Mir fortan und meinem Griff. 
Offen liegt das Meer, in's Blaue 
Treibt mein Genueser Schiff. 

Alles glänzt mir neu und neuer, 
Mittag schläft auf Raum und Zeit — : 
Nur dein Auge — ungeheuer 
Blickt mich's an, Unendlichkeit! 

* . * 

Sils-Maria. 

Hier sass ich, wartend, warten«}, — doch auf Nichts, 
Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts 



 



- 348 — 



Genicssend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, 
Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. 

Da, plötzlich, Freundin! wurde Eins zu Zwei — 
— Und Zarathustra giong an mir vorbei . . . 

* 

An den Mistral. 

Ein Tanzlied. 

Mistral -Wind, du Wolken-Jäger, 
Trübsal-Mörder, I limmels-Feger, 
Brausender, wie lieb' ich dich! 
Sind wir Zwei nicht Eines Schoosses 
Erstlingsgabe, Eines Looses 
Vorbestimmte ewiglich? 

Hier auf glatten Felsenwegen 
I^auf ich tanzend dir entgegen, 
Tanzend, wie du pfeifst und singst: 
Der du ohne Schiff und Ruder 
Als der Freiheit freister Bruder 
Ueber wilde Meere springst. 

Kaum erwacht, hört' ich dein Rufen, 
Stürmte zu den Felsenstufcn, 
Hin zur gelben Wand am Meer. 
Heil! da kamst du schon gleich hellen 
Diamantnen Stromesschnellen 
Sieghaft von den Bergen her. 

Auf den ebnen Himmels-Tennen 
Sah ich deine Rosse rennen, 
Sah den Wagen, der dich trägt, 



 



— 340 — 



Sah die Hand dir selber zücken, 
Wenn sie auf der Rosse Rücken 
Blitzesgleich die Geissei schlägt, — 

• 

Sah dich aus dem Wagen springen, 
Schneller dich hinabzuschwingen, 
Sah dich wie zum Pfeil verkürzt 
Senkrecht in die Tiefe stossen, — 
Wie ein Goldstrahl durch die Rosen 
Erster Morgenröthen stürzt 

Tanze nun auf tausend Rücken, 
Wellen-Rücken, Wellen-Tücken — 
Heil, wer neue Tänze schafft! 
Tanzen wir in tausend Weisen, 
Frei — sei unsre Kunst geheissen, 
Fröhlich — unsre Wissenschaft! 

Raffen wir von jeder Blume 
Eine Blüthe uns zum Ruhme 
Und zwei Blätter noch zum Kranz! 
Tanzen wir gleich Troubadouren 
Zwischen Heiligen und Huren, 
Zwischen Gott und Welt den Tanz! 

Wer nicht tanzen kann mit Winden, 
Wer sich wickeln muss mit Binden, 
Angebunden, Krüppel-Greis, 
Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen, 
Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen, 
Fort aus unsrem Paradeis! 

Wirbeln wir den Staub der Strassen 
Allen Kranken in die Nasen, 



Scheuchen wir die Kranken-fcrut ! 
Lösen wir die ganze Küste 
Von dem Odem dürrer Brüste, 
Von den Augen ohne Muth! 

Jagen wir die Himmels-Trüber, 

Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber, 

Hellen wir das Himmelreich! 

Brausen wir ... oh aller freien 

Geister Geist, mit dir zu Zweien 

Braust mein Glück dem Sturme gleich. — 

— Und dass ewig das Gedächtniss 
Solchen Glücks, nimm sein Vermächtniss, 
Nimm den Kranz hier mit hinauf! 
Wirf ihn höher, ferner, weiter, 
Stürm' empor die Himmelsleiter, 
Häng ihn — an den Sternen auf! 

* 



 



Berichtigungen. 

S. 78, Z. 10 v. u. lies: einem unbekannten X aufsetzen. 
S. 138, Z. 1 lies: geradlinigen (statt: senkrechten). 
S. 241, Z. 1 streiche: den. 

 

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